Lex praedicandi, lex credendi
Wohl die Mehrheit der Christen hat noch nie eine Predigt zum Thema Arbeit gehört. Zu diesem Schluss kommt Mark Greene vom LICC in London (s. auch hier). Warum eigentlich? Arbeit ist doch die vorrangige Aufgabe, die Adam erhält. Und Arbeit ist ein Thema, das sich durch die ganze Bibel zieht. Nun bekennen sich bibeltreue Christen gewiss zur Autorität der ganzen Schrift. Kaum einer wird behaupten, dass die Fragen der Arbeitswelt nicht Teil der kirchlichen Lehre sein sollten. Doch erst die öffentliche Verkündigung zeigt, was und woran eine Kirche wirklich glaubt.
Lex orandi, lex credendi – so lautet ein lateinisches Motto, dass auf den spätantiken Schriftsteller Prosper von Aquitanien zurückgeht. Das Gesetz des Betens ist das Gesetz des Glaubens, so wörtlich; oder mit anderen Worten: die Kirche glaubt so, wie sie betet; der Gottesdienst und die Liturgie prägen den Glaubensinhalt. Dieses Prinzip wird vor allem von den katholischen (Katechismus der Katholischen Kirche, 1124) und anglikanischen Kirchen hochgehalten. Nur jene Glaubensinhalte, die auch im Gebetsleben der Gemeinschaft ihren festen Platz haben, sind wirklich verinnerlicht, werden also von Herzen wirklich geglaubt.
Ich schlage nun vor, dieses Motto um ein modifiziertes zu ergänzen und noch protestantischer zu formulieren: lex praedicandi, lex credendi (von lat. praedicare – predigen, und credere – glauben). Die Kirche glaubt das, wie sie predigt; was auf der Kanzel verkündigt wird, das zeigt und prägt, was tatsächlich geglaubt wird. In negativer Hinsicht bedeutet dies (an Greene anknüpfend): Was in Predigt und Katechese ein Schattendasein führt, was kaum thematisiert wird oder gar ein Tabu ist – an diese Lehrinhalte glaubt die Kirche tatsächlich nicht, was auch immer in Dokumenten, Bekenntnissen und anderen schriftlichen Verlautbarungen steht.
Von großer Relevanz ist dies im Bereich der Ethik. In The Gospel & the End of Time kommentiert John Stott die Thessalonicherbriefe. Er bedauert dort (im Abschnitt zu 1 Thes 4,1–3a) die „relative Vernachlässigung der christlichen Ethik“. Stott sieht einen der Hauptgründe dafür darin, „dass unsere Kirchen im Großen und Ganzen zu wenig Ethik lehren. Wir sind so sehr damit beschäftigt, das Evangelium zu verkündigen, dass wir nur selten das Gesetz lehren. Wir haben Angst davor, uns den Vorwurf der ‘Gesetzlichkeit’ einzuhandeln. ‘Wir leben nicht unter dem Gesetz’, sagen wir fromm – als ob wir frei wären, es zu ignorieren oder ihm gar ungehorsam zu sein.“ Der anglikanische Theologe fordert daher: „Angesichts der weiten Verbreitung von Pluralismus und Relativismus ist es heute äußerst wichtig, dem Beispiel von Paulus zu folgen und den Menschen klare, praktische ethische Lehre zu bringen. Pastoren dürfen nicht davor zurückschrecken, auf der Kanzel biblische Standards für unser moralisches Handeln auszulegen, so dass die Gemeinde den Zusammenhang zwischen Evangelium und Gesetz versteht.“
Mit anderen Worten: Die Ethik gehört auch auf die Kanzel. Nur wenn sie dort regelmäßig auftaucht, zeigt eine Kirche, dass sie an den biblischen Grundsätzen von Moral und Heiligung festhält.
Stott deutet selbst an, dass dies in unserer Zeit mitunter äußerst schwierig geworden ist. Christen haben, wie er richtig feststellt, oft Angst vor dem Etikett „Gesetzlichkeit“. Pastoren sind verunsichert, wenn sie den Mut aufbringen, in ausgewogener Weise klare biblische Maßstäbe zu predigen – und prompt marschieren Gottesdienstbesucher protestierend hinaus. Den ganzen Willen Gottes im Hinblick auf das Heil und die Heiligung verkündigen – das klingt noch gut, doch eh man sich versieht, stimmt das „verletzte“ Gemeindevolk mit den Füßen ab…
Habgier, üble Nachrede und Stolz, Misshandlung von Kindern, Mobbing von Mitarbeitern, Ehrlichkeit im Studium – all das gehört auf die Kanzel. Aber eben auch die heißen Eisen der Sexualethik. Denn hier ist ja der Druck der allgemeinen Kultur massiv, ja äußerst massiv.
Vor einigen Tagen reagierte Claudia Roth, immerhin Vizepräsidentin des Bundestages, auf Matthias Matusseks Beitrag in der „Welt“ (s. hier). Unter der schon kategorischen Überschrift „Über Homosexualität darf man nicht streiten“ beruft sich die Grüne geschickt auf den unbedingten Schutz der Menschenwürde im Grundgesetz. Sie kritisiert, dass Matussek und andere die „Höherwertigkeit der Heterosexualität“ propagieren und damit nichts anderes als dies sagen: „Der homosexuelle Mensch ist nicht gleich viel wert, Lesben und Schwule haben nicht das Recht auf die gleiche Würde und Anerkennung als Mensch.“ Die Frage der sexuellen Orientierung sei allein eine der persönlichen Identität, und zwar so wie die Hautfarbe. Eindeutig gegen Ende: „Im Sinne von Artikel 1 Grundgesetz darf man deshalb so wenig über die Wertigkeit von Homosexualität streiten wie beispielsweise über die Frage der Hautfarbe“. Homosexuelle Identität sei in keiner Weise niedriger zu bewerten, denn dies sei schon Kennzeichen von Ausgrenzung und Homophobie. „Wir brauchen in unserer Demokratie den Konsens, dass diese Formen der Ausgrenzung absolutes Tabu sind.“
Auf diesem Niveau wird die Auseinandersetzung geführt. Jegliche Art von Kritik an gleichgeschlechtlicher Liebe soll tabuisiert werden. Roths Argumente sollen hier nicht untersucht werden, aber es ist unschwer zu erkennen, dass sie nicht konsequent ist. Wenn denn, wie sie meint, der Staat die Pflicht habe „Menschen so anzunehmen, wie sie sind, und in Bezug auf ihre Identität Neutralität zu üben“; wenn „die Politik dazu da [ist], jedem Menschen die gleichen Lebenschancen zu gewährleisten und die gleichen Rechte zu sichern“, wenn „sie niemanden ausschließen [darf]“ – warum dann nicht noch ganz andere Formen der Sexualität entmoralisieren? Warum sollte der Staat dann die Ehe nicht vollständig privatisieren und jeden heiraten lassen, wen er will? Muss sich ein polyamourös Empfindender (warum nicht mehrere Partner lieben und heiraten?) bisher nicht diskriminiert fühlen? (Michael J. Sandel hat in Justice auf diese Zusammenhänge hingewiesen, s. auch hier.)
Matussek ist übrigens in „Homosexualität ist ein Fehler der Natur“ auch auf Roths Kritik eingegangen und schreibt zu den Folgen seines Beitrags, der 30.000 Empfehlungen bekommen hat: „Nun erlebe ich tatsächlich, wie man versucht, mich vom Saalschutz der Konsensdemokratie als Ruhestörer aus dem Saal eskortieren zu lassen, mit festem Griff, wobei man mir zuzischelt: ‘Wir werden dir die Toleranz schon noch einbimsen’. Und da werde ich sehr hellhörig.“ Hellhörig sollte man auch werden, wenn man ebenfalls auf „The European“ den Artikel „Treibt die Wilden in die Höhlen“ von Sebastian Pfeffer liest. Die „Wutrede“ ist so überschrieben: „Es reicht. Wer heute noch gegen das Adoptionsrecht von Homosexuellen ist, soll sich bitte per Zeitmaschine in die Steinzeit zurückbegeben.“
Kommen wir zu den Christen zurück. Der Hinweis auf die Beiträge von Roth und Pfeffer sollte nur zeigen: es fehlt nicht mehr viel, und Predigern, die von der Kanzel verkündigen, dass praktizierte Homosexualität Sünde ist, wird Art. 1 des Grundgesetzes um die Ohren gehauen – und das ist nur der Beginn der Schelte. Der kulturelle Anpassungsdruck auf die Kirchen ist, wie gesagt, ungeheuer stark. Sicher geben evangelikale Christen dem nicht gleich nach, doch mir scheint, dass die innere Zensur auf der Kanzel das erste Einfallstor des säkularen Tabus sein wird.
Vor drei Jahren formulierte der Gnadauer Präses Michael Diener in seinem Bericht „Lasst uns Gottes Liebe leben“: „Wir bekennen uns unverändert dazu, dass nach Gottes Willen alleine die lebenslange Einehe zwischen Mann und Frau die menschlicher Sexualität entsprechende Gestaltung der Geschlechtsgemeinschaft ist. Menschen, die nicht in einer derartigen Gemeinschaft leben, sind unabhängig von Geschlecht und Alter zur Enthaltsamkeit aufgerufen… Aufgrund unseres Verständnisses des Willens Gottes können wir zu praktizierter Homosexualität kein Ja finden. Sie ist Sünde und steht unter dem Gericht Gottes.“ Das ist klar formuliert. Die Bekenntnisfront der Pietisten in der sensiblen Frage steht also recht fest. Diener beendet den Abschnitt dann aber wie folgt: „Es ist an der Zeit, dass wir ganz bewusst eine Atmosphäre schaffen, die es den homosexuell empfindenden Menschen unter uns ermöglicht, angstfrei und angenommen mit uns zu glauben, zu hoffen und zu lieben.“
Eine Atmosphäre der Annahme wird auch im offenen Brief des Präsidiums des Baptistenbundes vom Februar 2013 zu dieser Frage gefordert: „Die Gemeinde soll ein Raum der Annahme für alle Menschen sein“. Der BEFG positioniert sich nur bei den hauptamtlichen Pastoren eindeutig: „Das Ausleben der Homosexualität (dazu gehört auch die eingetragene Partnerschaft) steht einer Ordination entgegen bzw. führt in der Regel zur Streichung von der Liste der Ordinierten Mitarbeiter.“ Ehrenamtliche Mitarbeiter sollen ihre „eigene Orientierung nicht werbend vertreten“. Ob praktizierte Homosexualität (bei Gnadau immerhin „unter dem Gericht Gottes“) mit ‘normaler’ Gemeindemitgliedschaft vereinbar ist, bleibt offen. „Gelebte Homosexualität wird in der Bibel nirgendwo als positiv erwähnt“, so BEFG-Präsident Hartmut Riemenschneider im Interview. Mehr kommt dann aber eben nicht.
Gnadau wie der BEFG gehen sicher nicht so weit wie manche der Landeskirchen, die (wie z.B. in der EKD-Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“) homosexuelle Beziehungen „unvoreingenommen“ anerkennen und unterstützen. Doch wenn es ganz wesentlich darum geht, eine „Atmosphäre der Annahme“ zu schaffen, dann ist fast schon mit Sicherheit davon auszugehen, dass sich das brisante Thema Homosexualität von der Kanzel verflüchtigt, oder um genauer zu sein: die klare Position, die Diener oben umrissen hat (Stichworte Sünde und Gericht), wird aufgeweicht oder ignoriert oder zerredet. Denn wie kann sich ein homosexuell Empfindender in seiner Homosexualität angenommen fühlen, wenn er öffentlich gesagt bekommt: „praktizierte Homosexualität ist Sünde“? Trägt es zur Angstfreiheit bei, wenn öffentlich vom Gericht geredet wird? Der einzige, der sich angenommen fühlen kann, ist der homosexuell Empfindende, der dies als schwerwiegendes Problem erkannt hat. Aber wird dies heute so verstanden??
Genau in diesem Zusammenhang ist ja auf Roths Trick hinzuweisen, der unsere Kultur schon geprägt hat: Die Homosexualität wird zu einem allgemeinen Identitätsmerkmal des Menschen; sie ist auf einmal nicht mehr eine Frage der Ethik und Moral. Einen Menschen annehmen ist dann von der Bewertung seines sexualethischen Verhaltens kaum noch zu trennen. Die klassische christliche Position lautet dagegen: Gewiss wird der Sünder aufgenommen, doch es ist der bußfertige Sünder. In 1 Kor 6,9–10 findet sich eine der Lasterlisten des Paulus; dort schildert der Apostel eine breite Palette von Verfehlungen: Geiz, Unzucht, Raub, Ehebruch usw. Der anschließende Vers: „Und solche sind einige von euch gewesen…“ Ähnlich in 1 Tim 1,9–10, wo Paulus dann in V. 13 hinzufügt, dass er selbst „früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war“. Kirchen müssen offen sein für Mörder wie Paulus, keine Frage. Die Vergangenheitsformen machen aber deutlich, dass dieses Verhalten abgelegt wurde. Und es kommt ja wohl niemand auf den Gedanken, nicht mehr über Mord in der Gemeinde zu reden und diesen nicht mehr zu verurteilen – damit sich etwa ein Mörder in seiner Würde nicht verletzt und angenommen fühlt. Alle Übeltäter, auch die schlimmsten, sind anzunehmen. Konkret heißt das, dass sie natürlich Gottesdienste besuchen können. Wer dann seine Sünde „bekennt und läßt, der wird Barmherzigkeit erlangen“ (Spr 28,13).
Natürlich wäre hier noch so manches mehr zur Ethik und Gemeindezucht zu sagen. Grundsätzlich sind die neutestamentlichen Aussagen aber recht eindeutig. Diese Eindeutigkeit geht heute nur zu oft so gut wie ganz verloren. Annahme ist gewiss als solche keinerlei Übel. Doch unpräzise Formulierungen wie oben legen es leider heute nahe, dass alle dies subjektiv verstehen: Fühle ich mich angenommen oder nicht? Ich sehe hier kaum Möglichkeiten, dass diejenigen, die an Sünde bewusst festhalten, in vollem Sinne in Gemeinden Annahme erfahren können.
Betrachten wir noch den Beitrag „Wie können sich Christen zu modernen Formen von Partnerschaft stellen, die nicht das gängige Familienbild widerspiegeln?“ im Journal „Neues Leben“ (4-2013) unter der Rubrik „Eine Frage der Ethik“. Hier ist der Mangel an Präzision nun wirklich groß.
Autor Michael Maas, Baptistenpastor im Ostfriesischen, schildert eingangs die Vielfalt familiärer Formen („Patchwork-Familien, Alleinerziehende, Groß- und Kleinfamilien, Mehr-Generationen-Wohngemeinschaften“) und fragt: „Wie aber sieht es angesichts neuester Formen von Familie und Partnerschaft aus, die durch die öffentlich rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen die Landschaft noch ‘bunter’ gestalten als bisher? Wie soll man sich aus christlicher Sicht dazu stellen?“ Es geht um die Homosexualität, ein Begriff, der im ganzen Beitrag nicht fällt. Aber die beiden Figuren eines schwulen Hochzeitspaares oben auf der Seite zeigen unmissverständlich, worum sich alles dreht.
„Unbestreitbar“, so Maas, ist das Ideal der Zweigeschlechtlichkeit und der lebenslangen Partnerschaft der Ehe. Christen sind heute jedoch „häufig verunsichert, wenn sie in den modernen Formen von Partnerschaft und Familie Gottes Gebote, wie sie in der Bibel beschrieben sind, missachtet sehen.“ Wohl wahr. Maas diskutiert den Sinn von Moralregeln allgemein und wirft noch einmal die Frage auf: „Aber wie sollen sich Christen verhalten?“ „Gemeinschaften in den verschiedensten Variationen“ sollen akzeptiert werden; das bürgerliche Kleinfamilienmodell aus dem 19. Jahrhundert dürfe nicht in falscher Weise idealisiert und zu dem einzig biblischen erhoben werden. Es gehe um „Werte wie Treue und Zweigeschlechtlichkeit“, und er nennt die „Ehe zwischen Mann und Frau“ den einzigen Rahmen für Sexualität.
Viel Wahres, gewiss. Dann wird Maas langsam konkreter: „Jesus selbst distanzierte sich jedoch nicht einfach von suchenden Menschen, die – nach biblischem Maßstab – unmoralisch lebten. Und er will sie auch heute nicht verurteilen, sondern ihnen Zukunft und Hoffnung schenken. [zitiert Röm 2,4] Der langmütige Umgang mit Andersdenkenden und –lebenden ist auch für uns Menschen eine echte Herausforderung. Als Christen sollten wir in der Gesellschaft eine Chance darin sehen, anderen Hilfestellung zu geben, gerade wenn es um Möglichkeiten des Zusammenlebens geht“. Christliche Gemeinden „sollten zuerst einmal vorleben, dass das Einhalten göttlicher Schöpfungsregeln Freiheit und Lebensfreude für Partnerschaft und Familie bewirken kann.“ Sie sollten „vor allem Partnerschaften und Familien in ihr Gemeindeleben voll einbeziehen und im Alltag zeigen, wie Gemeinschaft nach Gottes ‘DNA’ gelingen kann.“
Maas formuliert hier sehr diplomatisch, und man hätte sich gewünscht, dass er die Dinge besser auf den Punkt bringt und Tacheles redet. Es geht letztlich um die gleichgeschlechtlichen Paare – dies ist ja das Thema. Und der Kern seiner Antwort: voll einbeziehen. „Neueste“ und „moderne“ Partnerschaften, also auch homosexuelle Paare, sollen voll einbezogen werden, damit ihnen das biblische Modell vorgelebt werden kann. Paare? Zusammenlebende Paare von Homosexuellen? Paare, die ihre Homosexualität also ausleben? Meint er das? So mancher wird es so verstehen.
Dass die „modernen Partnerschaften“ mit Samthandschuhen angefasst werden, zeigt auch das Ende des Artikels. Wenn das Vorleben nicht klappt, weil manchen Menschen ihre „Biografie es schwer macht, biblische Leitlinien als etwas Gutes zu erkennen“, sollten Christen „dennoch mitfühlsam sein. Dies kann für viele zu einer Aufgabe werden, in die sie hineinwachsen müssen, aber vielleicht würden sie dann in ihren Gemeinden sogar neues Wachstum erleben“.
Niemand hat etwas gegen Mitgefühl und Langmut. Doch hier ist so einiges durcheinander gekommen. Natürlich findet Vorleben in gewisser Weise auch in der Gemeinde statt. Aber seit wann sollen gerettete Sünder in der Gemeinde anderen Sündern zeigen, wie ein Leben nach den Geboten Gottes gelingt? Sollte dieses Vorleben nicht in der „Welt“ geschehen? Werden hier nicht Kirche und Welt vermengt?
(Es sei hier nur nebenbei bemerkt, dass diese Verwischung sicher auch mit einem neuen Evangelisationskonzept zusammenhängt: vielen betonen nun, dass wir alle auf einer „spirituellen Reise“ sind; die Frage ist nur, ob wir uns zum Zentrum, Christus, hinbewegen oder nicht. Auf dieser Reise zum Zentrum kann ein Christ, aber auch ein Suchender oder ein Atheist sein – Hauptsache, er bewegt sich in die richtige Richtung. Das Drinnen und Draußen, die Frage, ob bekehrt oder nicht, verflüchtigt sich so und gerät weit in den Hintergrund. Und wichtig in unserem Zusammenhang: der Christ lädt Nichtgläubige zur Mitreise ein – eine Reise, die sicher auch in der Gemeinde stattfinden soll.)
Bei Maas ist der schwarze Peter ganz zu den Christen rübergewandet: annehmen und einbeziehen, geduldig, lernend und langmütig sein. Noch einmal: gegen diese Verben und Adjektive ist an sich nichts zu sagen. Doch auf einmal stehen, so scheint es, vor allem die Christen vor gewaltigen Aufgaben. Und lautet der neue Maßstab, eine pauschale Wohlfühlatmosphäre für alle modernen Lebensformen zu schaffen, wird dies gewiss zur einer inneren Zensur führen: bestimmte Themen werden aus der öffentlichen Verkündigung so gut wie vollständig auswandern, auswandern in die Seelsorge, ins Private. Konfrontation – die darf vielleicht noch geschehen, doch bitte… ja wo eigentlich? Wie gesagt in der Seelsorge, vielleicht in geduldigen Dokumenten, die eh kaum jemand liest. Öffentlich darf man dann bloß niemanden vor den Kopf stoßen…
Maas hat am Ende einen Köder ausgelegt, der für die Evangelikalen sehr attraktig ist: neues Wachstum der Gemeinde. Wer will das nicht? Doch hier wird die Sache äußerst haarig: Es gibt einen klaren Auftrag, den „ganzen Ratschluß Gottes“ (Apg 20,27) weiterzugeben und öffentlich zu verkündigen; klassisch protestantisch (s.o. Stott): Gesetz und Evangelium. Doch es ist keineswegs unbedingt und auf Kosten von biblischer Treue nach Wachstum zu streben. Gott kann dies schenken, doch Gemeinden sollten sich auch auf die Möglichkeit von lichtenden Reihen vorbereiten. Predigt der Pastor klare ethische Maßstäbe, mag dies à la Roth zu einem Aufschrei in der Lokalpresse führen; das Image ist heute ganz schnell ruiniert, und ruckzuck steht man in der fundamentalistischen Schmuddelecke. Direkt wird einem dann in der Gemeinde entgegnet: aber dann „erreichen“ wir ja niemanden mehr?! Womöglich. Das Evangelium bleibt eben in den Augen der Welt und von solchen Schreihälsen wie Roth und Co. eine „Torheit“ (1 Kor 1,18). Was ist daran Überraschendes?
Vor einigen Tagen berichtete „idea“ über die diesjährige Mitgliederversammlung des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes. Präses „Diener zufolge sind homosexuell lebende Menschen in Gemeinschaften, Verbänden und Werken ‘selbstverständlich willkommen’, weil jeder das Recht habe das Wort Gottes zu hören.“ Aussage und Begründung stimmen. Aber welches Wort Gottes werden sie dann dort hören? Wird all das gepredigt, was in den Bekenntnissen, den amtlichen Dokumenten und der Bibel steht? Leider ist dies heute nun alles andere als selbstverständlich.
Bild oben: Kanzel in der ev.-reformierten Kirchen von Kėdainiai (17 Jhdt.).