Warum musste Jesus sterben?
Der Sohn Gottes kam aus einem Grund auf Erden: um zu sterben. Das ganze Leben Jesu, von Geburt an, stand unter dem Schatten des Kreuzes. Weihnachten ist historisch nicht das Familien-, Kinder- und Geschenkefest, es ruht als Feiertag nicht in sich selbst, sondern lässt schon nach Vorne blicken; es ist der Auftakt der Erlösung. Und darum gilt schon hier die Frage: Warum musste all das sein? Schon bei der Geburt diese Verfolgungen, die Flucht, die Niederkunft in der Fremde, unter ärmlichen Umständen? Warum dann später das Kreuz?
„Das sagt heute kein ernsthafter Theologe“
Der Bonner Superintendent i.R. Burkhard Müller wurde bundesweit bekannt durch seine Antwort auf diese Frage – durch harsche Kritik an der Sühneopfer-Theologie: „Warum wurde Jesus gekreuzigt? Hier meine Antwort: Weil die Mächtigen Jesus mitsamt seiner Botschaft beseitigen wollten. Andere sehen das anders. Zum Beispiel so: Weil Gott ein Sühneopfer brauchte wegen der Sünden der Menschen. Stellvertretend für uns litt er die Strafe und stillte so Gottes Zorn. Ich halte diese Antwort für falsch, obwohl viele Christen in dieser Richtung ihre Antwort suchen. Nein, was wäre das für ein grausamer Gott, der ein Menschenopfer braucht, um damit seinen Zorn zu stillen! Und die Sache wird noch unappetitlicher, wenn dieser Mensch sein einziger Sohn ist!“
Der reformierte Theologe Georg Plasger will Müller in seinem Vortrag „Für uns gestorben“ nicht folgen. Der Professor von der Uni Siegen ist ein Experte des mittelalterlichen Theologen Anselm von Canterbury. Er zitiert aus dessen Cur Deus Homo: „Ob es Gott geziemt, die Sünde durch bloßes Erbarmen, ohne alle Abzahlung der Schuld, nachzulassen“. Plasger formuliert in seinen Worten für uns: „War es denn nötig, dass Christus gekommen ist und dann sterben müsste, hätte Gott nicht viel einfacher sagen können: Mensch, Du bist zwar ein Sünder, aber ich vergebe Dir Deine Sünde! Und fertig.“ Anselm: „So [auf diese Art] die Sünde zu erlassen ist nichts anderes als nicht bestrafen.“ Plasger führt aus: „Wer die Sünde nicht tilgt, wer einfach sagt: ‘Schwamm drüber’, der hat noch nicht verstanden, was die Sünde ist. Wir kommen also nur einen Schritt weiter, wenn wir darüber nachdenken, was denn unter Sünde zu verstehen ist.“
Keine Einwände. Plasger ist auf der richtigen Fährte. Doch dann wird alles durcheinandergemischt: „Gott ist barmherzig, indem er den Menschen Recht schafft. Indem er ihn nicht so lässt, wie er ist. Der Mensch wird ein anderer… Gott ist barmherzig, weil er dem Menschen Zukunft schenkt. Und er ist gerecht, weil er treu ist, seiner Zusage treu ist – Gerechtigkeit, zedakah ist mit Gemeinschaftstreue zu übersetzen. Und das waren ja auch die großen Entdeckungen im Neuen Testament, dass Gerechtigkeit Gottes nicht die fordernde, sondern die schenkende Gerechtigkeit meint.“
Sicher ist Gottes Gerechtigkeit eine schenkende, sicher ist er seinen Zusagen treu und verändert er den Menschen. Doch ist dies alles? Plasger schwenkt um auf ein subjektives Verständnis des Sühnehandelns: „Gott muss nicht versöhnt werden. Gott braucht das Kreuz nicht, er braucht kein Menschenopfer, um besänftigt, um versöhnt zu werden.“ Er hat recht: „Urheber des Sühnegeschehens ist Gott und nicht der Mensch.“ Aber wieder und wieder heißt es: „nicht Gott wird versöhnt, sondern der Mensch.“ Dies sei „die zentrale Aussage des Neuen Testaments, wenn es den Kreuzestod Jesu Christi als ‘für uns geschehen’ interpretiert. Und das ist auch die zentrale Aussage des Alten Testament, dass er seinem erwählten Volk treu ist und treu bleibt“.
Plasger will nicht so radikal sein wie Müller, aber das Ergebnis ist bei ihm ja eindeutig: Jesus starb nicht, um Gottes Haltung zu mir, sondern um unsere Haltung zu Gott zu ändern. Dem ist zu entgegnen, dass sich der Sünder natürlich ändern muss und auch von Gott verändern wird. Doch die objektive Versöhnung Gottes ist Grundlage dieses subjektiven Geschehens! Gott versöhnte sich selbst mit sich durch seinen Sohn, und daher ist nun Versöhnung mit den Menschen möglich. Doch Plasger wischt die Vorstellung einer Versöhnung Gottes einfach vom Tisch: „das sagt auch keiner. Das sagt heute kein ernsthafter Theologe“.
„Gottes Zorn richtet sich auf die Sünde, nicht auf den Sünder“
Plasger steht damit nicht allein. In „Abschied vom Sühneopfer?“ wird Klaus Peter Jörns gehört, der natürlich für diesen Abschied ist. Dann kommt Jochen Bohl, Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, zu Wort, der an dem Sühneopfer festhalten will, aber meint: „Entscheidend dabei ist, dass nicht Gott versöhnt werden muss – es geht immer darum, dass die Menschen versöhnt werden! Gottes Zorn richtet sich auf die Sünde, nicht auf den Sünder. Ihm gilt seine vergebende Liebe, und darum bringt er in dem Kreuz Christi selbst das Opfer, das versöhnt und die Möglichkeit der Heilung eröffnet.“
Richtet sich Gottes Zorn tatsächlich nur auf die Sünde, nicht auf den Sünder? Es ist schon vielsagend, dass ein Bischof solch eine These von sich gibt – von sich zu geben wagt. Zig Bibelstellen wären hier zu nennen, die ihn widerlegen. Natürlich bringt Gott selbst das versöhnende Opfer, das Menschen das Heil bringt. Doch warum die eindeutige Leugnung, dass Gott versöhnt werden müsste?
Hier hat offensichtlich ein klassischer Paradigmenwechsel stattgefunden. Es wäre ehrlich, wenn Plasger, Bohl und andere zugeben würden, dass die ernsthaften Theologen der Vergangenheit wie Calvin und Bullinger in der Zürcher Übereinkunft (1541) noch ganz anders formulieren konnten: „Er [Christus] ist zu betrachten als ein Sühnopfer, durch welches Gott versöhnt ist mit der Welt.“ Und niemand anders als Karl Barth wusste noch zu sagen:
„Jesus hat den Zorn Gottes ein Leben lang getragen. Mensch-sein heißt vor Gott so dran sein, diesen Zorn verdient zu haben. In dieser Einheit von Gott und Mensch kann es nicht anders sein als dass der Mensch dieser Verdammte und Geschlagene ist… Dazu ist Gottes Sohn Mensch geworden, dass in ihm der Mensch unter Gottes Zorn sichtbar wird… Mensch sein heißt vor Gott so dran sein, wie Jesus dran ist: Träger des Zornes Gottes zu sein. Das gehört uns, das Ende am Galgen! Aber das ist nicht das Letzte: nicht der Aufruhr des Menschen und nicht der Zorn Gottes. Sondern das tiefste Geheimnis ist dies, dass Gott selber in dem Menschen Jesu dem nicht ausweicht, an die Stelle des sündige Menschen zu treten und das zu sein…, was dieser ist, ein Empörer, und das Leid eines solchen zu leiden. Die totale Schuld und die totale Sühne selber zu sein! Das ist es, was Gott in Jesus Christus getan hat.“ (Dogmatik im Grundriß)
Auch die evangelischen Gesangbücher sollten dann besser entschlackt werden, wo es wie in EG 342 („Es ist das Heil uns kommen her“) immer noch heißt: „Doch mußt das Gesetz erfüllet sein, / sonst wärn wir all verdorben. / Drum schickt Gott seinen Sohn herein, / der selber Mensch ist worden; / das ganze Gesetz hat er erfüllt, / damit seins Vaters Zorn gestillt, / der über uns ging allen.“
Heute scheint ein neues Dogma zu herrschen: Bleib mir bloß fern mit dem Zorn Gottes, der gestillt werden müsste! Eine Dogmatik wie die von Eduard Böhl könnte solch ein Denken korrigieren. Der Wiener Professor formulierte Ende des 19. Jahrhunderts noch eindeutig: „So hat denn Jesus zunächst die ganze Zeit seines Lebens auf Erden den gesamten vom Gesetz geforderten Gehorsam Gott dargebracht und zugleich dabei den Zorn Gottes wider die Sünde und alle aus derselben hervorgehenden Strafen getragen.“ Oder: „Hier [auf Golgatha] erreichte der Gehorsam Christi den Gipfelpunkt. Auch hier gab er dem Vater sein Recht, auch hier ertrug er willig den Zorn Gottes wider das Fleisch und die Sünde.“ Christus „erfuhr bis zum äußersten den Zorn Gottes, und der Verdammten schreckliches Los ward seines“. „Und in Gottes Augen… ist auch kein Fluch, kein Verdammungsurteil und kein Zorn mehr vorhanden denen gegenüber, welche er gerecht gesprochen um Christi willen.“
„Es geht nicht darum, einen zornigen Gott zu besänftigen“
Das neue Paradigma hinterlässt nun auch bei den Evangelikalen Spuren. Und das, obwohl das Allianzbekenntnis ja immer noch sehr eindeutig und unmissverständlich das Problem des Menschen benennt. Man bekennt sich „zur völligen Sündhaftigkeit und Schuld des gefallenen Menschen, die ihn Gottes Zorn und Verdammnis aussetzen“.
Betrachten wir nun aber den ausführlichen Beitrag „Warum musste Jesus sterben?“ auf der mehrglauben.de-Seite, verantwortet immerhin vom ERF in Wetzlar. „Braucht Schuld Sühne? Gedanken über das zentrale Symbol des christlichen Glaubens: das Kreuz“ ist der Text überschrieben. Der nicht genannte Autor ist um ein ausgewogenes Bild bemüht und zeigt fraglos theologische Fachkenntnis. „Der Sühnegedanke erscheint vielen Menschen grausam“, so eingangs. „Warum sollte ein liebender Gott ein Opfer als Sühnung brauchen? Ist Gott, wie er in der Bibel beschrieben wird, etwa mit antiken Göttern, deren Zorn durch ein Opfer besänftigt werden muss[, zu vergleichen]?“
Auch hier wird Anselms Lehre über die Notwendigkeit des Kreuzestodes Jesu wiedergegeben. Gott „ist nicht in der Lage, über die Vergehen des Menschen einfach hinwegzusehen.“ Der „Gottmensch“ Jesus Christus schaffte die Lösung. Der Abschnitt endet so: „Anselms Deutung des Todes Jesu wirkt auf den modernen Leser vielleicht befremdlich, klingt aber logisch. Will man den Tod Jesu verstehen, ist aber letztlich nicht die Logik entscheidend, sondern die Selbstaussage der neutestamentlichen Autoren.“
Ein seltsamer Abschluss. Anselms Deutung klinge logisch – warum „ist“ sie es nicht? Es wird zwischen den Zeilen zu verstehen gegeben, dass sich Anselm mit seiner Logik irgendwie zu weit von der Bibel entfernt habe. Gewiss entscheidet nicht „die“ Logik, sondern die Bibel. Doch jeder theologische Nachdenkende ist ja geradezu gezwungen, die Lehren der Bibel zu einem doch logischen, d.h. in sich schlüssigen und widerspruchsfreien Ganzen zusammenzufassen. Die Frage ist daher, ob und wo Anselm Fehler gemacht hat und wo nicht. Der Heidelberger Katechismus (wie auch die reformatorische Tradition) folgt ihm ja in den Grundzügen (wobei nicht mehr die Ehrverletzung, sondern die Schuld in den Mittelpunkt gerückt wird). Dem Leser wird leider nicht klar gesagt, was er nun von Anselms Grundgedanken zu halten habe oder wo genau er zu korrigieren wäre.
Anschließend werden verschiedene biblische „Blickwinkel“ vorgestellt wie erstens „Der Tod Jesu als Loskauf des Menschen aus der Sklaverei von Tod und Sünde“, dann folgend „Das Kreuz als Gericht und Sühneopfer für die Sünde der Welt“. Hier wird der Theologe Edmund Schlink zitiert: „Diese Deutung des Todes Jesu in der Begrifflichkeit des Strafrechtes steht dem historischen Geschehen insofern am nächsten, als Jesus aufgrund eines Strafprozesses hingerichtet worden ist. Aber es wird dieser Prozess nun ganz anders gedeutet, als es in den Entscheidungen der damaligen Richter der Fall war: er ist nicht Schuldiger, sondern als der Unschuldige hingerichtet. Sein Tod ist nicht das Ende seiner Heilsbotschaft an Israel, sondern die Verwirklichung des Heils für Israel und alle Völker.“
Ganz anders als bei Müller und Jörns wird klar festgehalten: „Das Motiv des Kreuzestodes Jesu als Sühneopfer für die Sünden der Welt ist tief in der christlichen Überlieferung verwurzelt und gehört zu den ältesten Zeugnissen der neutestamentlichen Texte.“ Dies wird im „Hebräerbrief ausgeführt, wo Jesus als das eine, perfekte Opfer beschrieben wird. Der bedeutendste Unterschied – auch für die weiteren Überlegungen – ist jedoch, dass Christus im Vergleich zu Kälbern und Böcken nicht geopfert wurde, sondern sich selbst als Opfer gebracht hat (Hebräer 9,14).“ Und direkt danach: „Es wird hier also deutlich, dass es nicht darum geht, einen zornigen Gott zu besänftigen, sondern eine Gerechtigkeit zu bekommen, die vor Gott gilt und die nichts und niemand vor ihm hinterfragen kann.“
Keine Besänftigung – wieso sollte dies deutlich werden? Ich kann diesen Schluss beim besten Willen nicht nachvollziehen. Was soll das für eine Logik sein? Es scheint doch so, dass diese angebliche Deutlichkeit hier hineingeschmuggelt werden musste. Aus dem Fluss des Arguments geht die Ablehnung einer Besänftigung von Gottes Zorn jedenfalls nicht hervor. Allenfalls kann ich mir vorstellen, dass mit dem „zornigen Gott“ ein nur zorniger, also ein nicht auch noch liebender gemeint ist. Warum wird dies dann aber nicht klar gesagt?
Schließlich wird der „dritte Aspekt des Kreuzestodes Jesu“ erläutert: „Das Kreuz als Versöhnung mit Gott“. Besonders im Hinblick auf die Diskussion um den Sühnetod sei dieser Aspekt wichtig, „[m]acht er doch deutlich, dass sich bei genauerem Hinsehen eine völlig andere Perspektive auf das Opfer Jesu eröffnet. Es wird deutlich, dass es nicht ein zorniger Gott ist, der versöhnt werden muss, sondern eine Menschheit, die einem zur Versöhnung bereiten Gott feindlich gegenüber steht: [zitiert 2 Kor 5,18].“
Eine völlig andere Perspektive? Was soll hier völlig anders sein? Wie sind dann die beiden zuvor genannten einzuordnen? Sind sie falsch? Das ja wohl nicht, aber was dann? Wieder wird hier Richtiges bekräftigt: die Menschen sind Gott feindlich gesinnt und brauchen Versöhnung. Doch wieder wird ein Deutlichwerden hineingeschrieben, das auch der Bibelvers nicht hergibt. Paulus spricht dort von „Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Christus…“ Gott hat mit sich versöhnt, was doch logisch voraussetzt, dass er versöhnt werden musste. Doch dies wird ja gerade geleugnet.
„Diese ‘Blut’, der Opfertod Jesu Christi, hob Gottes Zorn gegen uns auf“
Nach langer Fahrt auf der richtigen Strecke wird dann doch die falsche Ausfahrt genommen, eine Ausfahrt, die schon F. Sozzini, später J. McLeod Campbell, H. Bushnell, A. Ritschl, C.H. Dodd, V. Taylor, W. Wink und nun S. Chalke, A. Mann, C. Pinnock und B. McLaren genommen haben. Danach hat das Kreuz zuerst und in erster Linie eine Auswirkung auf uns Menschen. Die objektive Basis geht verloren. Bei mehrglauben.de klingt das dann so:
„Es ist also nicht Gott, der dem Menschen feindlich gegenüber steht, sondern der Mensch, der sich gegen Gott und seine guten Gebote, die Leben erst ermöglichen, wendet. Immer dort, wo der Mensch dem Menschen zum Wolf wird, zeigt sich, dass Menschen nichts so sehr brauchen wie Versöhnung. Immer da, wo der Mensch dem Menschen ins Gesicht schlägt, trifft er auch den Schöpfer. Aus dieser feindlichen Haltung heraus muss der Mensch versöhnt werden. In Christus begegnet er dem Menschen und dem Gott, der selbst den Schlag entgegennimmt – und die Verurteilung des Schlägers.“
Noch einmal: Wieso sollte Gott dem sündigen Menschen nicht feindlich gegenüber stehen? Natürlich ist dies nicht alles; es ist ja das große Paradox, dass Gott dem Sünder in Liebe und Feindschaft zugleich entgegentritt. Spurgeon und andere haben dies noch klar gesehen. Hier sei nur James I. Packer aus seinem Bestseller Gott erkennen zitiert (dort im Kapitel „Der Kern des Evangeliums“): „Im Christentum hingegen [anders als im Heidentum] versöhnt Gott Seinen eignen Zorn durch Sein eigenes Handeln… Es war Gott selbst, der Seinen Zorn löschte gegen jene, die Er – trotz allem – liebte und retten wollte.“
Packer ist eindeutig: „Diese ‘Blut’, der Opfertod Jesu Christi, hob Gottes Zorn gegen uns auf…“ Er zitiert den großen reformierten Dogmatiker John Murray aus dessen Werk The Atonement (1962; s. auch hier): „Die Lehre von der Versöhnung [besser „Sühne“, engl. propitiation] ist eben diese, dass Gott jene, denen Er zürnte, so sehr liebte, dass Er Seinen eigenen Sohn dahingab, damit dieser durch Sein Blut die Tilgung des Zornes bewirke. So war es Christi Aufgabe, so zu handeln, dass diejenigen, die geliebt wurden, nicht länger auch Objekte des Zorns sein sollten“.
Murray hat mit Redemption Accomplished and Applied ein weiteres Buch zum Thema geschrieben – übersichtlich und kompakt, eigentlich eine Pflichtlektüre für Theologiestudenten, aber leider nie in Deutschland erschienen. Dort in Kap. II („The Nature of the Atonement“): „Sühne [propitiation] setzt den Zorn und das Missfallen Gottes voraus, und der Zweck der Sühne ist die Beseitigung dieses Missfallens. Ganz einfach formuliert besagt die Lehre von der Sühne, dass Christus den Zorn Gottes besänftigte [propitiated] und Gott wohlgesonnen gegenüber seinem Volk machte [rendered God propitious to his people].“ Murray erwähnt direkt die scharfe Kritik an die dieser Lehre, und er weiß um die Missverständnisse. So verwandelt die Sühne nicht Gottes Zorn in Liebe. Wie schon Packer, so auch hier: „Es ist das eine zu sagen, dass ein zorniger Gott in einen liebenden verwandelt wird. Das wäre völlig falsch. Es ist etwas anderes zu sagen, dass der zornige Gott liebend ist. Das ist zutiefst wahr.“
Diese Sicht wird auch von John Stott in seinem The Cross of Christ bekräftigt (dt. Ausgabe: Das Kreuz Christi). In Kap. 7 („The salvation of sinners“) unter der Überschrift „Propitiation“ sagt auch er, dass die „entscheidende Frage [bei der Deutung der gr. hilamos-hilaskomai–Stellen, engl. propitiate, dt. sühnen] ist, ob das Objekt des versöhnenden Handelns [atoning action] Gott oder der Mensch ist.“ Er hält gegen Dodd und mit Morris und Nicole daran fest, dass es Gott ist, der besänftigt wird [appeasing God]. Aber auch er weiß um die Verzerrungen und Karikatur dieser Position und unterstreicht: „Es kann nicht zu deutlich betont werden, dass Gottes Liebe die Quelle, nicht die Folge, der versöhnenden Handlung [atonement] ist… Gott liebte uns nicht, weil Christus für uns starb; Christus starb für uns, weil Gott uns liebte.“ Er faßt schließlich zusammen:
„Es ist Gott selbst, der in seinem heiligen Zorn besänftigt [propitiated] werden muss, Gott selbst ist es, der in seiner heiligen Liebe diese Sühne ausführte [to do the propitiating], und es ist Gott selbst, der in der Person seines Sohnes zur Sühne unserer Sünden starb. Gott ergriff also seine eigene liebende Initiative, um seinen eigenen Zorn zu besänftigen, indem er selbst in seinem Sohn ihn auf sich nahm, als dieser unseren Platz einnahm und für uns starb.“ Stott – „kein ernsthafter Theologe“ (Plasger)? Hier wird nur zu deutlich, dass tatsächlich eine Art Kuhnscher Paradigmenwechsel stattgefunden hat. Denn Kennzeichen der „Normalwissenschaft“ (der Begriff T.S. Kuhns für das vorherrschende Paradigma) ist, dass die Anhänger eines alten Paradigmas aus der Forschergemeinschaft ausgeschlossen und ignoriert werden und man einfach auf das Aussterben dieser Stimmen setzt. Interessant ist übrigens, dass Stotts Werk in dem mehrglauben.de-Beitrag zitiert, dem großen evangelikalen Theologen aber in entscheidenden Punkten eben doch nicht gefolgt wird.
Das Geheimnis des Kreuzes?
Auf mehrglauben.de verschwindet im Vorbeigehen der Zorn Gottes. So bleibt als Punkt, an dem das Sühnegeschehen ansetzt, eben nur der Mensch selbst. Doch die Wortwahl ist vielsagend: „Aus dieser feindlichen Haltung heraus muss der Mensch versöhnt werden.“ Das ist wohl wahr, doch besser hieße es: Der Mensch muss aus dieser Haltung errettet werden. Warum musste Jesus sterben? Gott hat kein Problem mit uns, wir haben ein Problem mit ihm, so die Hauptaussage.
Es bleibt damit am Ende aber unklar, warum denn Jesus sterben musste und warum am „Kreuz als einem rettenden Gericht über die Sünde der Welt“ festzuhalten sei. Es bleibt ein recht verwirrendes Bild, weit von der Geschlossenheit eines Packers entfernt. Immer noch jedem zur Lektüre anbefohlen sei „What did the cross achieve? The logic of penal substitution” des Briten.
Der Autor des Beitrags bekommt gegen Ende ab die evangelikale Kurve, d.h. die persönliche Entscheidung wird betont: „Wer dem Geheimnis des Kreuzes auf die Spur kommen will, der muss sich dem Kreuz persönlich nähern, als Empfangender. Je deutlicher mir die eigene Schuld ist, desto dankbarer bin ich für das Angebot der Vergebung, auch wenn ich nicht ganz verstehe, wie es geschieht.
Das Kreuz versteht letztlich nur der, der sich dem gekreuzigten Christus anvertraut und sein ganzes Leben – Schuld und Verdienst inklusive – auf ihn wirft… Und dem wird auch klar, dass hier kein antiker Gott ein Racheopfer fordert, um seinen Zorn zu besänftigen. Sondern der erkennt, dass hier Gott selbst sein Leben gibt. Die Relevanz der Dreieinigkeit Gottes wird spätestens hier deutlich.“
Hier wird wieder viel Wahres gesagt. Das ganze Erlösungsgeschehen ist tatsächlich nur in einem trinitarischen Rahmen zu verstehen. Gott selbst hat sich uns hingegeben. Und unsere Entscheidung ist das Ziel, und wer den Glauben wagt, wird das Kreuzesgeschehen zweifellos besser verstehen, als der ewige Skeptiker. Aber man sollte nicht zu schnell das Geheimnisvolle ins Spiel bringen, oder genauer: Es ist zu fragen, wo die Geheimnisse zu verorten sind. Dies ist natürlich zuerst in der Dreieinigkeit (wie kann Gott der eine und zugleich in drei Personen sein?), in der Inkarnation (wie kann Jesus Gott und Mensch zugleich sein?) und auch hier in der Erlösungslehre: wie kann Gott zornig auf den Sünder sein und ihn dennoch lieben? Wie gehen Heiligkeit und Liebe zusammen?
Natürlich können wir die Vorgänge am Kreuz auch nicht in ihrer Tiefe erfassen, doch das Gerüst und die Hauptaussagen zum Gesehen am Kreuz selbst sind klar und eindeutig; von Anselm über den Heidelberger bis hin zu Murray, Packer und Stott konnte diese Lehre recht präzise entfaltet werden, ohne zu Geheimnissen Zuflucht nehmen zu müssen.
Schließlich erscheint die nochmalige Abgrenzung von dem zornigen Gott geradezu künstlich. Hier wird wohl nach dem Motto verfahren: seht her, wir Evangelikale sind gar nicht so blutrünstig und mittelalterlich! Unser Gott ist gar nicht so abscheulich und finster.
All dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie. 2010 machte der ERF das Frage-und-Antwort-Portal Nikodemus.net dicht, auf dem seit 1999 überwiegend Laien verschiedenste Glaubensfragen beantwortet hatten. Immerhin an die 800 Texte waren so zusammengekommen. Den Antworten auf dem Portal wurden unter der Regie des ERF (ab 2008) manche Mängel zugeschrieben, Überarbeitungen seien nötig usw. Nun ist das Archiv komplett aus dem Netz verschwunden, und man wird direkt umgeleitet auf mehrglauben.de. Dort, so mein Eindruck, schreiben nun wahrlich Theologen, denn diese Mischung aus tiefen Kenntnissen mit teilweiser seltsamer Logik, so dass man am Ende manchmal gar nicht mehr so recht weiß, was nun Sache ist, bekommen eigentlich nur Theologen hin. Ein Fortschritt zu Nikodemus.net? Vielleicht sollten die mehrglauben.de-Texte auch einer Überarbeitung unterzogen werden. Trotz vielem Guten kann ich diese Seite nicht von ganzem Herzen empfehlen. Das sei schon eher auf das Timotheus-Magazin verwiesen, konkret die Nummer „Das Kreuz II“.
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