Die Logik des Evangeliums
Evangelische sind Christen, die das Evangelium ins Zentrum stellen und die diese Gute Nachricht von Jesus Christus allen Menschen verkünden. Man sollte daher vermuten, dass über die Definition dieses Evangeliums weitgehend Einigkeit herrscht und es präzise formuliert wird. Leider ist dies keineswegs der Fall.
Nikolaus Schneider, evangelischer Bischof im Rheinland, ist seit 2010 der höchste Geistliche der Protestanten in Deutschland. Der Leiter der EKD antwortete im „chat“ auf evangelisch.de in dem Jahr auf die Frage nach einer prägnanten Umschreibung des Kerns des Evangeliums: „Kurz und knapp: Du bist ein von Gott geliebter Mensch, musst dir deine Würde nicht erarbeiten und kannst sie auch nicht verlieren. Das gilt auch für das Himmelreich! Gott ist in allen Höhen und Tiefen des Lebens an deiner Seite.“
Nun sollte man von einem Internetforum nicht tiefe theologische Weisheiten erwarten, doch soll dies wirklich der Kern der Guten Nachricht sein? In den Sätzen ist natürlich Wahrheit enthalten (tatsächlich ist Menschenwürde unverlierbar, Gott ist jedem Menschen in gewisser Weise nahe), doch ist es das, was wir einer verlorenen Welt zu verkünden haben? Sind das die Versprechen der Bibel? Fehlt hier nicht etwas? Ron Kubsch kommentiert: “Was Präses Schneider hier über das Evangelium gesagt hat, eignet sich als Beleg dafür, dass das Evangelium unserer Tage gründlich vom therapeutischen Moralismus zur Stärkung des Selbstwertgefühls imprägniert ist. Ein Evangelium ohne Sünder, ohne Gericht, ohne Christus, ohne Kreuz. Was würde wohl Martin Luther dazu sagen?”
Dieses Du-bist-OK-Evangelium wird überraschend oft auch von theologisch konservativeren Evangelikalen verkündet. Da sagt Gott dann: „Es ist gut, daß du da bist. Ich freue mich an jeder Sekunde deines Lebens – und du musst nichts dafür tun.“ Jesus kam danach zuerst deshalb auf die Erde, damit wir Vertrauen zu ihm lernen können. Der Ruf zum Glauben ist dann die Einladung, Gott zu vertrauen, sich dieser Liebe anzuvertrauen.
All das ist sicher nicht ganz daneben, schließlich definieren Evangelische Glaube vor allem als Vertrauen. Doch meist wird hier auch nicht ein Wort verloren von einem Wissen um unser Elend, von dem die Reformatoren sprachen. Luther in einem seiner ersten reformatorischen Texte, den Thesen zur Heidelberger Disputation aus dem Frühjahr 1518: „Ganz gewiß muß ein Mensch an sich selbst verzweifeln, um für den Empfang der Gnade Christi bereitet zu werden.“
Leider halten den Evangelischen inzwischen oft katholische Glaubensgeschwister den Spiegel vor. So spottete Matthias Matussek, ein Redakteur des „Spiegels“, zurecht, dass die Botschaft der evangelischen Amtsdiener meist „so homöopathisch verdünnt ins gesellschaftliche Gewebe tröpfelt, dass sie nicht weiter stört“ (Das katholische Abenteuer). Daher ist man gar nicht mehr überrascht, wenn man in einer Osternummer der „Zeit“ folgende Antwort auf die Frage, was ein Christ ist, findet: „Einer, der gemerkt hat, dass das Leben ein sagenhaftes Geheimnis ist. Und der glaubt, dass es einen gibt, der es lüften kann“, schreiben dort blumig-verschwommen evangelische Pfarrer aus Sachsen (17/2011).
Evangelikale gehen meist davon aus, dass der Inhalt des Evangeliums weitgehend klar sei. (Warum eigentlich? Man denke an die Zitate von eben.) Man will gleich zur Evangelisation kommen, zur Verkündigung an Nichtglaubende. Evangelisation – da fallen einem dann Namen wie Billy Graham, Bill Bright und Bill Hybels ein; man denkt an die „Vier geistlichen Gesetze“ und den „Alpha“-Kurs; und wer Nichtgläubige für den christlichen Glauben gewinnen will, gibt Bücher wie Rick Warrens Leben mit Vision, C.S. Lewis Pardon, ich bin Christ oder W.P. Youngs Hütte weiter.
Es sollte jedoch eins nicht vergessen werden: Eine der klarsten Erklärungen des Evangeliums in wenigen Worten findet sich im Heidelberger Katechismus! Er kann, so glaube ich, als eines der besten evangelistischen Werkzeuge der ganzen Theologiegeschichte gelten. Denn wie will man den Evangelium klar verkündigen, wenn sein Inhalt diffus bleibt?
Im Neuen Testament finden wir die wohl ausführlichste und schlüssigste Erläuterung des Evangeliums in den ersten Kapiteln des Briefes an die Römer. Paulus betont dort zuerst, dass die Menschen Gott verantwortlich sind und ihr Grundproblem in der Rebellion gegen den Schöpfer besteht. Auch der Heidelberger Katechismus folgt diesem Schema und erläutert (nach den Einleitungsfragen 1 und 2) ab Frage 3 die Sünde und Verlorenheit des Menschen. Dieser Abschnitt gipfelt in der Antwort auf Frage 10: Gott „zürnt schrecklich über die sündige Art des Menschen und seine sündigen Taten. Beides will er nach seinem gerechten Urteil schon jetzt und ewig strafen…“
Dies ist strenge Rede, die aber unerlässlich ist. Denn nur wer klar erkennt, „wie groß meine Sünde und Elend ist“ (Fr. 2), nur wer den ganzen Ernst unserer Gottesferne begreift, nur der kann überhaupt das Gute des Evangeliums erfassen. So dachten zumindest Ursinus und alle Reformatoren. Und deshalb folgt der Erste Teil des Katechismus (Von des Menschen Elend) eben vor dem Zweiten Teil (Von des Menschen Erlösung).
Heute wird jedoch meist anders vorgegangen. Außenstehende sollen eine erste Ahnung von der Liebe Gottes bekommen, einen Anfang im Glauben machen; es wird zum Vertrauen an Gott eingeladen. Wer könnte etwas dagegen haben! Das Problem ist, dass der Ruf zum Glauben oft einzig als eine Einladung betrachtet wird, das Geschenk der Liebe Gottes anzunehmen. Noch einmal: ja, es geht auch darum. Die Sündenerkenntnis, die unbedingte Erkenntnis des eigenen Elends, wird jedoch verdrängt oder gleichsam ins Christenleben, das dann erst kommt, ausgelagert. Der Nichtglaubende könne Sünde in ihrer Tiefe gar nicht begreifen, so heißt es. So wird dann gerne – überraschend kategorisch – festgestellt: erst die Erkenntnis des liebenden Gottes, dann die Sündenerkenntnis, und keinesfalls umgekehrt.
Nur so ist auch zu erklären, was man vor einigen Jahren bei JesusHouse hören konnte. Torsten Hebel erzählte dort in einer Predigt von den Überlegungen im Vorbereitungsteam. Man hatte diskutiert, ob man über Sünde während der Tage von JesusHouse überhaupt noch reden sollte. Und man rang sich zu einem Ja durch. Doch man mache sich eines klar: allein die Tatsache, dass man über das Ob-überhaupt eines so zentralen Elements in der Logik des Evangeliums meinte diskutieren zu müssen, spricht schon Bände.
Im übrigen hatten die Reformatoren gute Antworten zu diesen Fragen der Reihenfolge. Calvin hat gleich zu Beginn seiner Institutio festgestellt, dass Gottes- und Menschenerkenntnis wechselseitig zusammenhängen. Tatsächlich kann niemand sich und seine Sünde recht erkennen, wenn er Gott nicht erkennt. Aber es gilt eben auch das Umgekehrte: ohne Sündenerkenntnis keine wahre Gotteserkenntnis. Dieser Aspekt wird heute gerne ignoriert.
Evangelisation umfasst Einladung und Bußruf. Zumindest in der reformatorischen Tradition. Dass sich Margot Käßmann – obwohl Beauftragte der EKD für das Reformationsjubiläum 2017! – davon meilenweit entfernt hat, wurde im Sommer in einem „Spiegel“-Interview deutlich (Nr. 30/2013, s. auch hier). Die Journalisten Pfister und Fleischhauer sprechen es direkt an: „Warum kommt das Wort Sünde in der evangelischen Predigt kaum noch vor?“ Gute Frage! Vielsagend Käßmanns Rückfrage: „Wäre es Ihnen so wichtig, dass Ihnen Ihre Sünden vorgehalten werden?“ Noch besser aber dann dieses Kontra der Journalisten: „Gehört das nicht zu Ihren Aufgaben?“ Käßmann eiert herum, und Pfister/Fleischhauer bringen es auf den Punkt: „Hat der Sündenbegriff überhaupt noch Bedeutung für Sie?“ „Sünde bedeutet für mich Gottesferne“, so die Ex-Bischöfin aus Hannover. Wohl wahr, doch eine halbwegs angemessene biblisch-theologische Definition von Sünde kommt dann nicht. Die Journalisten lassen nicht locker: „Sünde ist also an keine konkrete Tat mehr gebunden?“ Schließlich meint Käßmann doch: „Strafe, Sünde, Zorn – so verstehe ich die Botschaft des Evangeliums nicht.“ So kennen wir das. Und so lieben es viele. Als ob jemals jemand behauptet hätte, Strafe ist das Evangelium. Das Evangelium ist Befreiung von Schuld, Sünde und Zorn. Werden diese drei aber weichgespült, löst sich das Evangelium dummerweise mit auf.
Kommen wir wieder zum Heidelberger: Nach der Nennung des Zorns Gottes in Fr. 10 gibt Fr. 11 gibt nun sogleich unsere Rückfrage wieder: „Ist Gott denn nicht auch barmherzig?“ In der Antwort, an der Nahtstelle zwischen Gesetz (das die Sünde aufdeckt) und Evangelium (das die Lösung unseres Sündenproblems ist), lenkt Autor Ursinus den Blick auf Gott selbst, nämlich auf seinen Charakter: „Gott ist wohl barmherzig, er ist aber auch gerecht. Deshalb fordert seine Gerechtigkeit, dass die Sünde, die Gottes Ehre und Hoheit antastet, mit der höchsten, nämlich der ewigen Strafe an Leib und Seele gestraft wird.“
Gott ist beides: barmherzig und gerecht; beide Eigenschaften sind natürlich nicht zu trennen, aber sie sind auch nicht identisch (was durch das „…aber auch…“ ja deutlich gemacht wird). Unsere Sünde ist Aufstand gegen Gott selbst, gegen seinen heiligen Charakter, der sich im Gesetz ausdrückt. Aber dank seiner Barmherzigkeit werden wir „ohne Verdienst gerecht aus reiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist“ (Röm 3,24).
Der Abschnitt zur Erlösungslehre beginnt dann mit Frage 12, deren Antwort so lautet: „Gott will zu seinem Recht kommen, darum müssen wir für unsere Schuld entweder selbst oder durch einen anderen vollkommen bezahlen“. Hier wird der heutigen leichten Lösung direkt widersprochen: Gott verhält sich nicht ungerecht, er läßt nicht fünf gerade sein, Der Standard der Gerechtigkeit bleibt voll bestehen! Einer muss bezahlen. Der Gerechtigkeit muss genüge getan werden. Und genau deshalb können wir uns nicht selbst erlösen, denn wir haben nichts zum Zahlen.
Der nötige Erlöser muss jedoch ein Mensch sein, denn „die Sünde wird von den Menschen begangen“, und daher „verlangt Gottes Gerechtigkeit, dass ein Mensch für die Sünde bezahlt“ (16). Genauso muss er aber auch Gott sein, denn kein Mensch kann „die Last des Zornes Gottes ertragen und uns die Gerechtigkeit und das Leben erwerben…“ (17). Höhepunkt ist dann Frage 18: „Wer ist denn dieser Mittler, der zugleich wahrer Gott und ein wahrer, gerechter Mensch ist? Unser Herr Jesus Christus, der uns zur vollkommenen Erlösung und Gerechtigkeit geschenkt ist.“
In den Fragen 37–40 wird klipp und klar formuliert: Christus hat durch sein Leiden „den Zorn Gottes über die Sünde des ganzen Menschengeschlechts getragen“; es ist die Rede vom „einmaligen Sühnopfer“: dies hat uns „von der ewigen Verdammnis erlöst“ (37). Christi unschuldiges Leiden hat uns „von Gottes strengem Urteil… befreit“ (38). Er hat den Fluch, der auf uns Menschen lag, auf sich genommen (39). Christus musste den Tod erleiden: „Um der Gerechtigkeit und Wahrheit Gottes willen konnte für unsere Sünde nicht anders bezahlt werden als durch den Tod des Sohnes Gottes“ (40).
Ab Frage 59 werden Gerechtigkeit und Glaube noch einmal aufgegriffen und der Sack gleichsam zugebunden. In Frage 62 wird klargestellt, dass „die Gerechtigkeit, die vor Gottes Gericht bestehen soll, vollkommen sein und dem göttlichen Gesetz ganz und gar entsprechen [muss]“. Die Gerechtigkeit Gottes bleibt völlig gewahrt! Aber durch den Glauben werden wir „vor Gott gerecht“ (59), und zwar dadurch, dass Gott uns „die vollkommene Genugtuung, Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi“ (60) anrechnet und damit schenkt. Auf diese Weise und nur auf diese geschieht also Wiederherstellung und Erlösung.
Dies ist die klassische Lehre vom stellvertretenden Sühneopfer Christi, bekannt auch unter dem englischen Begriff penal substitution (vom lat. poena – Strafe) oder substitutionary atonement: Gott gab sich selbst in der Gestalt seines Sohnes, damit dieser an unserer Statt den Tod und den Fluch, die Strafe für die Sünde, auf sich nahm.
Recht und Gerechtigkeit bestimmen also die Logik der Erlösungslehre im Heidelberger Katechismus. Gottes Forderungen nach vollkommenem Gehorsam und das Lösegeld für die Sünden werden von ihm selbst, nämlich von seinem Sohn erfüllt bzw. gezahlt. Dessen Gerechtigkeit wird denen, die glauben (20), geschenkt. „Es war Gott selbst, der Seinen Zorn löschte gegen jene, die Er – trotz allem – liebte und retten wollte“, wie es der Anglikaner und Calvinist J.I. Packer formuliert (Gott erkennen). Das ist der Kern des Evangeliums, und davon erfahren wir „aus dem heiligen Evangelium“ (19), d.h. in allen Verheißungen der Bibel zu unserem Heil.
Im Heidelberger wird so das Wie der Erlösung klar und präzise geschildert, und im Zentrum steht das Recht, denn man beachte die rechtlichen Begriffe wie „Gericht“. Gott schüttet eben nicht einfach so seinen Schalom über allen Menschen aus. Die hier erläuterte Gerechtigkeit Gottes führt keineswegs zu einem Fehlurteil (wie ein Theologe wie K. Nürnberger meint), und sie ist ‘parteiisch’, aber nicht für irgendwelche sozialen Gruppen, sondern für die Gläubigen. Bernhard Kaiser hat all dies sehr gut zusammengefasst: „Rechtfertigung ist der von Gott vollzogene gerichtliche Zuspruch der Vergebung“ (Christus allein), denn Christus hat durch sein Sühneopfer Gerechtigkeit für uns gewirkt.
Der Heidelberger Katechismus steht mit dieser Darstellung natürlich nicht allein. Die gesamte reformatorische Tradition spricht hier mit einer Stimme. In der Dordrechter Lehrregel aus dem frühen 17. Jdht. heißt es zu Beginn des Abschnitts über die Erlösung: „Gott ist nicht nur im höchsten Grade barmherzig, sondern auch im höchsten Grade gerecht.“ (II/1) Die Gerechtigkeit fordert Bestrafung der Sünden; aus seiner Barmherzigkeit heraus schafft Gott die Rettung durch seinen Sohn. Außerdem sind das Westminster-Bekenntnis (XI,3), das Zweite Helveticum (XV,2–3) und neben diesen Dokumenten aus der reformierten Tradition auch die Schmalkaldischen Artikel Luthers zu nennen (II,1). Aus dem 19. Jhdt. sei der baptistische Prediger C.H. Spurgeon zitiert:
„Hast du schon begriffen, wie Gott durchaus gerecht sein kann, so dass er weder die Strafe erlässt noch die Scheide des Schwertes abstumpft, und dennoch unendlich barmherzig ist und die Gottlosen gerecht macht, die sich an ihn wenden? Gott kann von meinen Sünden absehen, weil sein herrlicher und unübertrefflicher Sohn dem Gesetz Genüge getan hat, indem er meine Strafe auf sich nahm.“ (Ganz aus Gnaden)
Diese Linie führt bis zum reformierten Theologen Karl Barth:
„Das ist die Versöhnung: Gott, der an die Stelle des Menschen tritt… Gott hat im Tode Jesu Christi sein Recht vollstreckt. Er hat im Tode Jesu Christi als Richter dem Menschen gegenüber gehandelt. Der Mensch hat sich an den Ort begeben, wo ein Urteil Gottes über ihn gesprochen und unvermeidlich zu vollziehen ist… Er, Gott selber, tritt in seinem Sohn an die Stelle des verurteilten Menschen. Gottes Urteil wird ausgeführt, Gottes Recht nimmt seinen Lauf. Aber es nimmt seinen Lauf in der Weise, dass das, was der Mensch erleiden musste, erlitten wird von diesem Einen, der als Gottes Sohn für alle Anderen steht… Er in seinem Sohn ist es, welcher in der Person dieses gekreuzigten Menschen auf Golgatha alles trägt, was uns aufgeladen sein müsste. Und so macht er dem Fluch ein Ende…“ (Dogmatik im Grundriss)
Die Gedanken, die Du schreibst, sind alle sehr richtig. Gottes Gnade und die Sünde des Menschen gehören in der Verkündigung zusammen. Wo sie nicht zusammengehen, ist die Gnade billig und ohne Trost und Kraft. Dennoch hat Nikolaus Schneider vollkommen recht, wenn er das, was er sagt, als Zentrum des christlichen Glaubens darstellt. Seine Worte als “Wohlfühlevangelium” o.ä. zu diffamieren, scheint mir nicht gerechtfertigt zu sein. Sicher, was er schreibt, kann von unbedarften Lesern als Wohlfühlevangelium aufgefasst werden. Dabei würde das, was er schreibt, recht verstanden, jeden, den es im Herzen trifft, sofort zu einem glühenden Anhänger Christi machen. Jedoch nur unter der Voraussetzung, dass er überhaupt eine Beziehung zu Gott hat und sich seines Getrenntseins von Gott bewusst ist. Denn was Schneider schreibt, impliziert eine Kehrseite:
“Du bist ein von Gott geliebter Mensch” heißt nämlich auch, dass ein Selbstverständnis, das von dieser Liebe Gottes zu Dir absieht, tiefster Unglaube und schwere Sünde ist. Das schließt die Selbstliebe, die nicht in Gott begründet ist, aus; es schließt darüber hinaus auch die Liebe zu anderen Menschen, die nicht in Gott begründet ist, aus. Dieser Satz Schneiders besagt, dass man sich selbst als Christ und auch seinen Nächsten nur von Gott her recht ansehen kann.
“[Du] musst dir deine Würde nicht erarbeiten und kannst sie auch nicht verlieren” bedeutet, wenn Du dennoch versuchst, Dir Deine Würde zu erarbeiten, vertraust Du nicht auf Deine allein von Gott her kommende Würde. Dann vertraust Du Gott überhaupt nicht und Du vertraust auch nicht, dass allen anderen Menschen die Würde von Gott geschenkt ist, machst sie im eigenen Urteil verlierbar. Diese Äußerung Schneiders kann und sollte sehr dialektisch und komplex verstanden werden.
“Das gilt auch für das Himmelreich!” – In Christus ist Dir der Himmel aufgeschlossen worden und Dein ganzes Leben als Christ kann dadurch nur aus Dankbarkeit, Freude und Lob gegenüber Gott bestehen.
“Gott ist in allen Höhen und Tiefen des Lebens an deiner Seite.” – Es gibt keinen Augenblick Deines Lebens, der nicht Gott gehören würde, sodass Dein ganzes Leben, in Höhen und Tiefen, von Gott in Anspruch genommen wird. Ein Christ ist also jener, der sich in Höhen und Tiefen von Gott her versteht und beanspruchen lässt.
Zugegeben, ich bin mir nicht sicher, ob Schneider das alles mitgedacht hat. Ich hoffe es zumindest.
Wieso zitierst Du am Ende eigentlich Barths Dogmatik im Grundriss und nicht den Lutheraner Bonhoeffer, von dem er die Position (quasi) abgeschrieben hat?