Einer musste zahlen!
Der bekannte amerikanische Autor Philip Yancey betont immer wieder, vor allem in seinem sehr populären Buch What’s So Amazing About Grace? (Gnade ist nicht nur ein Wort), die Größe und Weite von Gottes Gnade. Auf seiner Internetseite: „Gnade ist unfair. Wir verdienen Gottes Zorn und bekommen Gottes Liebe, verdienen Bestrafung und erhalten Vergebung. Wir bekommen nicht, was wir verdienen… Wir tun nichts, um Gnade zu verdienen und erhalten ewiges Leben.“
Dies ist natürlich alles wahr, wobei allerdings der erste Satz als äußerst mißverständlich, ja falsch zu bezeichnen ist. Yancey will natürlich sagen, dass Gottes Gnade unsere menschlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit sprengt. Das engl. „unfair/unfairness“ ist aber ein nicht unproblematischer Begriff, denn Unehrlichkeit, Verschlagenheit, Tugendlosigkeit schwingen mit. In vielen Sprachen muß man „Ungerechtigkeit“ oder Entsprechendes übersetzen. Dass Gnade ungerecht sei, muss dann aber auch bedeuten, dass Gott selbst ungerecht ist, denn Gottes Eigenschaften und Taten spiegeln ihn selbst wider. Und Gottes unwandelbare Gerechtigkeit wird in der Bibel vielfach bekräftigt (s. z.B. Pr 18,25; 2 Chr 19,7; Ps 37,28; 97,2; 119,137; 129,4; Apg 10,34; Röm 3,5–6; 1 Pt 1,17).
Yancey geht in seinem Buch auch auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn in Lk 15 ein. Der Vater nimmt den zurückkehrenden Sohn auf ohne eine direkte Gegenleistung zu verlangen. Sicherlich wird hier Gottes Gnade veranschaulicht. Die meisten heutigen Autoren wie auch Rob Bell in seinem Bestseller Love Wins sehen in der Geschichte aber immer einzig „profound unfairness“ – der verlorene Sohn bekommt eben nicht, was er verdient. Also bekräftigt die Bibel nicht die Sicht „Barmherzigkeit statt Gerechtigkeit“? Triumphiert hier nicht (wie W.P. Young ja auch in Die Hütte schreibt) die Gnade oder Barmherzigkeit über die Gerechtigkeit?
Blendet man – wie heute leider auch in der evangelikalen Theologie geradezu üblich – die Kategorie des Rechts und der klassischen Gerechtigkeit aus, versteht man jedoch leider auch diese Geschichte nur zu schnell oberflächlich. Denn ein wichtiger Erzählstrang wird übersehen.
Tim Keller hat in The Prodigal God ausführlich zu der Geschichte Stellung genommen. Er betont, dass der Vater den jüngeren Sohn nicht ‘einfach so’ aufnimmt. „Vergebung ist für den, der die Vergebung gewährt, immer mit Kosten verbunden“, so der New Yorker Pastor. „Der Vater konnte dem jüngeren Sohn nicht einfach vergeben, jemand mußte zahlen! Der Vater konnte ihn nicht in seine alte Stellung wiedereinsetzen außer auf Kosten des älteren Bruders.“ Lk 15,12 macht deutlich, dass der Vater seinen ganzen Besitz aufgeteilt hatte: der jüngere Sohn erhielt seinen Teil, und der Rest, der väterliche Hof, gehörte rechtlich bereits dem älteren Bruder, auch wenn der Vater natürlich noch Vollmachten besaß (Vers 31 bestätigt ja direkt diese Besitzverhältnisse).
Die Kosten werden in den Versen 22–23 angesprochen, und neue Kleidung und eine üppige Feier waren ja nur der Anfang. Die Tragik der Geschichte ist, dass der ältere Bruder nicht zahlen will (und wohl auch am Ende seine Haltung nicht ändert). Er hätte zwischen Vater und Bruder vermitteln und eine Brücke schlagen sollen – er tat es nicht. Jesus ist wie der Hirte, der das verlorene Schaf (Lk 15,1f), wie die Frau, die die Münze sucht (15,8f); aber der ältere Bruder suchte eben nicht. Jesus dagegen ist der wahre ältere Bruder, der die Kosten unserer Schuld am Kreuz auf sich nahm. Er bekam, was wir verdienen.
All das bedeutet, dass es – entgegen der weitverbreiteten Meinung – gar nicht so einfach zu sagen ist, wo in der Geschichte das Evangelium zu finden ist. Denn man frage einmal, wo Jesus in dem Gleichnis steckt. Der Vater ist… eben der Vater, der den Sünder annimmt. Sein seelisches Leid über den Sohn, seine Erniedrigung, ja Selbstverleugnung trägt auch Züge des Erlösers. Moderne Theologen, Anhänger einer „inkarnatorischen“ Erlösungslehre, sehen gerne in dem verlorenen Sohn selbst Christus, der sich radikal mit den Sündern identifiziert. Dies stiftet aber nur Verwirrung.
Wir haben in dem Gleichnis also gleichsam den Sündenfall (die Mißachtung des Vaters, die Rebellion), und wir haben die wiederhergestellte Beziehung. Wir haben Aspekte des Kreuzes, aber das ganze Evangelium ist in der Geschichte selbst nur implizit enthalten.
Denn Jesus wendet sich mit dem Gleichnis ja in erster Linie an die Pharisäer, die darüber grollen, dass Jesus sich mit den Zöllnern einläßt (Lk 15,1–3). Sie spiegeln sich im älteren Bruder wider, und deshalb ist das Ende der Geschichte ja offen: der Vater lädt den Bruder zur Feier ein, und wir wissen nicht, ob er der Einladung folgen wird. Dem Gleichnis fehlt der Höhepunkt, ihm fehlt auch das Evangelium in seiner Ganzheit. Denn Jesus sagt den Oberfrommen von damals ja: Seht her, ich bin bereit für die Sünder zu zahlen, ja mein Leben einzusetzen. Und ihr? Warum wollt ihr den jüngeren Bruder nicht vom Schweinetrog wegholen? Sind euch die Sünder egal? Meint ihr wirklich, ihr seid in eurer Selbstgerechtigkeit auch nur ein Stück besser?
Dem Gleichnis fehlt der eigentliche Held, der sich selbst aufopfernde Bruder, der im wahrsten Sinne des Wortes die Schulden des Jüngeren bezahlt. Das ist ja der Clou der Geschichte. Gnade ist daher nicht einfach nur die weitherzige Aufnahme von allen, die aufgenommen werden wollen; sie ist nicht Fünf-gerade-sein-lassen. Und sie steht auch in keinem Gegensatz zur Gerechtigkeit.
Die Antwort zu Frage 12 des Heidelberger Katechismus lautet: „Gott will zu seinem Recht kommen, darum müssen wir für unsere Schuld entweder selbst oder durch einen anderen vollkommen bezahlen“. Hier wird eindeutig festgehalten: der Standard der Gerechtigkeit bleibt voll bestehen! Einer muß bezahlen. Der Gerechtigkeit muß genüge getan werden. Und genau deshalb können wir uns nicht selbst erlösen, denn wir haben nichts zum Zahlen.
Yancey fehlt leider diese Erkenntnis der protestantischen Bekenntnistradition wie Greg Gilbert in der Kritik des Bucher festgestellt hat. Yancey reiht in seinem Buch eine Story an die andere, um dem Leser das Wesen der Gnade zu verdeutlichen. Da aber auch er jenseits der Kategorie des Rechts bleibt, stößt er zum Wesentlichen gar nicht vor (und definiert interessanterweise Gnade auch nirgends!). Gilbert, Baptistenpastor in Washington, hält dagegen fest, was Yancey nicht sagt: „Was ist nun so erstaunlich an der Gnade? Gnade ist deshalb so wunderbar, weil ein gerechter Gott, der sich geschworen hat, die Sünde zu strafen und Gerechtigkeit zu schaffen, diese Gerechtigkeit auch auf mich Sünder ausdehnt – ohne sich dabei sich selbst zuwidersprechen.“ Der wundersame Weg ist der Tod seines Sohnes am Kreuz. Dort wurde für uns abgerechnet.
(Bild oben: James Tissot, Rückkehr des Sohnes, 1882)
„Das war’s.“
Nachtrag vom 27. September:
Heute stieß ich zufällig auf die Deutung des Gleichnisses auf der persönlichen Seite des Jesus.de-Redakteurs Rolf Krüger unter der Überschrift „Der anstößige verlorene Sohn“.
Krüger fragt im Hinblick auf die bekannte Geschichte, ob wir wirklich wissen, „was darin steht und was Jesus damit zum Ausdruck bringen will“. Er faßt das Gleichnis bis zur Rückkehr des Sohnes kurz zusammen und fragt dann: „wie reagiert der Vater?“
Anschließend schildert er vier Varianten: „Bestrafen (die harte Variante)“, „Wiedergutmachung vom Sohn fordern (die rechtlich korrekte Variante)“, „Wiedergutmachung durch einen Dritten (die dramatische Variante)“ und schließlich „Bedingungslos vergeben (die anstößige Variante)“. Bei der Erläuterung der vierten Version gibt er paraphrasierend und erweiternd den tatsächlichen Ausgang der Geschichte wider.
Die von Keller und auch mir favorisierte Version ist natürlich die dritte. Sie wird von Krüger gar nicht diskutiert, Bestrafen und Wiedergutmachung werden von ihm geleugnet bzw. karikiert. Er tut so, als ob seine Variante der bedingungslos Vergebung in der von ihm dargestellten Form die einzig wahre ist und mit dem Bibeltext übereinstimmt. Wie schon unter „Gott ist ungerecht – und das ist gut so“ wird gegen rechtliche Vorstellungen in der Heilslehre polemisiert.
Laut Krüger lernen wir dies: „Wendet er sich wieder zu Gott um, so rennt ihm Gott entgegen und vergibt ihm bedingungslos – obwohl er schwere Schuld auf sich geladen hat. Das war’s. Keine Strafe, kein Zorn, keine Rückforderung, keine Ausgleichsleistung.“
Vergibt Gott bedingungslos? Ja und nein. Trotz Schuld nimmt er die Menschen wieder an, ist Sündern gnädig. Wenn man Glaube und Buße als Geschenk Gottes betrachtet, sind selbst diese keine Bedingung im strengen Sinne. Doch warum dann das Kreuz? Was ist denn da geschehen, wenn nicht Sühne? Ist das Sühnehandeln Gottes nicht die ‘Bedingung’, so dass Gott gerecht und barnherzig sein konnte? Warum wischt Krüger diese einfach vom Tisch? Warum ignoriert er fast zweitausend Jahre christliches Nachenken über die Erlösung, ganz zu schweigen von den glasklaren Aussagen in den Bekenntnissen?
Jesus.de wird vom Bundesverlag der Freien evangelischen Gemeinden verantwortet. Man muss sich leider fragen, warum man in der FeG-Leitung solche haarsträubende Theologie wie unter hier und unter „Gott ist ungerecht…“ und so einen Redakteur (auch wenn er nicht FeG-Mitglied ist) toleriert, der den Kern des Evangeliums verfälscht.
Denn die Sache ist ernst. In Krügers Beitrag „Das Evangelium in 30 Sekunden“ befindet sich ein Zitat aus diesem Text. Der Autor der Elia-Gemeinschaft meint dort weiter im Text, der „Opfergedanke“ sei uns „ inzwischen völlig fremd geworden“. Und dann: „Unglücklicherweise strotzen unsere alten (und leider auch viele der neuen) Kirchenlieder von eben dieser Begrifflichkeit.“ Gott sei Dank bewahren sie diese Erbe noch! Mit solchen Sätzen manövrieren sich solche Autoren endgültig aus dem evangelikalen Konsens heraus. Denn immerhin enthält das Allianzbekenntnis Punkt 4 zum Glück den Hinweis auf das „stellvertretende Opfer“ Jesus. Jesus.de versteht sich ja auch als eine Art Allianzprojekt, und die FeG ist ja die Allianzkirche. Es wäre nachrücklich zu fragen, wie Krüger diese Passage in der Glaubensgrundlage der Allianz deutet.