Von Schafen, Schweinen und Wölfen
In den Auseinandersetzungen der Reformation herrschte von Anfang an ein rauer Ton vor. In der Bannbulle gegen Luther wurde der rebellierenden Mönch ein „wildes Wildschwein im Weinberg des Herrn“ genannt. Luther selbst war auch nicht zimperlich, sprach bald vom „Antichristen“ in Rom, und den angesehenen Humanisten Erasmus nannte er unverblümt „Schwein aus der Herde Epikurs“. Auch vor der scholastischen Theologie seiner Zeit hatte er keinen Respekt. Luther nannte sie „lügenhaftes, verfluchtes, teuflisches Geschwätz.“ Johannes Calvin stand dem nicht nach, bezeichnete die scholastische Arbeitsweise als „esoterische Magie“.
In den Bekenntnistexten der Reformationsepoche ist die Sprache meist sachlich und ausgewogen, aber bei der Verurteilung von Irrlehren und Sekten fehlt es nie an Deutlichkeit. Selbst im ‘milden’ Niederländischen Bekenntnis (1561) wird eine falsche Lehre schon mal „abscheuliche Meinung“ (Art. 13) genannt; harte Kritik gilt Abirrungen der Täufer (z.B. der Leugnung, „dass Christus menschliches Fleisch angenommen habe“, Art. 18), so dass von der „Ketzerei der Anabaptisten“ gesprochen wird. Im ‘ökumenischen’ Heidelberger Katechismus (1563) wird die römische Messe sogar als „verfluchte Abgötterei“ (Fr. 80) bezeichnet. Im Zweiten Helvetischen Bekenntnis (1566) ist die Rede von der „Tyrannei“ des Papstes (Art. 17). Das Westminster-Bekenntnis (1647) schreibt vor, dass Evangelische „nicht mit Ungläubigen, Päpstlichen oder anderen Götzendienern eine Ehe eingehen“ dürfen (Art. 24,3).
Heutige Leser verwirrt besonders Luther oft durch seine direkte, unverhüllte, mitunter derbe Rede. Nun ist die Sprache in unseren Tagen allgemein nicht auf einem höheren Niveau, aber im religiösen und theologischen Kontext drückt man sich ganz anders aus: die Nettigkeit herrscht vor. Bei Luther dagegen ist schon im Vorwort der Schmalkaldischen Artikel (1537) viel vom Teufel und seinem Gift die Rede. Wir lesen in der Bekenntnisschrift von „schrecklichstem Greuel“, da wird „verdammt und verworfen“; „Drachenschwanz“, „Teufelsgespinst“, „Ungeziefer und Geschmeiß“ tauchen auf. Er spricht vom „schändlichen, lästerlichen, verfluchten Jahrmarkt von Seelenmessen“. „Abgötterei“ und „antichristliche Mißbräuche“ gehören zu den gern gebrauchten Begriffen des Reformators.
Was sollen wir von all dem halten? Ist so eine Ausdrucksweise von vornherein abzulehnen, ja sogar unchristlich? Ermahnt uns die Bibel nicht zur freundlichen Rede? Ef 4,29–32 fordert uns doch auf, „Bitterkeit und Grimm und Zorn und Geschrei und Lästerung“ zu meiden?!
Es wird jedoch oft vergessen, daß Paulus ermahnt: „Seid aber untereinander freundlich und herzlich und vergebt einer dem anderen…“ Freundlichkeit soll das Verhalten in der Gemeinde, unter treuen Christen, bestimmen. Die Bibel vergleicht die Schar der Gläubigen oft mit Schafen und ihrem Hirten (s. z.B. Hes 34; Joh 10; 21,15; 1 Pt 5,1–3). M. Driscoll, Pastor der reformierten Mars Hill Church in Seattle (USA), hat darauf hingewiesen, dass wir hier in Eph 4 Schaf-Rede finden. Aber es gibt, bildlich gesprochen, auch noch Schweine, Wölfe und Hunde! Nicht jeder ist ein Schaf, und daher ist Schaf-Rede nicht immer angebracht. (s. Driscolls Ausführungen hier)
Schweine sind unsauber, und dies kann man bildlich auf Menschen übertragen: Wie sich Schweine gerne im Dreck suhlen, so gibt es Christen, die an einem unmoralischen Lebensstil im Schlamm festhalten. Diesen gelten zahlreiche ganz und gar nicht nette Ermahnungen im NT wie 1 Tim 5,20: „Wenn sich einer verfehlt, so weise ihn in Gegenwart aller zurecht, damit auch die anderen sich fürchten.“ (s. auch 2 Tim 4,2; Tit 1,9.13; 2,15). Scharfe, oft spöttische, manchmal sarkastische Kritik von Schweine-Verhalten findet sich oftmals bei den Propheten im AT (z.B. Jes 3,16–17.24; Hes 16,25–27; 23,18–21), besonders bei Amos (z.B. 6,4–6), der einige Frauen z.B. „fette Kühe“ (4,1) nennt.
Wölfe sind Häretiker, Verbreiter falscher Lehre; jeder, der die Schafherde angreift und zu zertreuen droht (Hes 22,27; Zef 3,3; Mt 7,15; 10,16; Lk 10,3; Apg 20,29). Verwandt mit ihnen sind die Hunde – etwas weniger gefährlich, dafür aber gierig (Jes 56,11); Übeltäter (Phil 3,2), vor denen man sich in Acht nehmen muß; außerhalb des Reiches Gottes (Off 22,15).
Dummerweise mischen sich auch Wölfe und Hunde unter die Schafherde. Von diesen schreibt Paulus, dass sie sich „in falscher Demut“ gefallen, „ohne Grund aufgeblasen“ sind und einen „fleischlichem Sinn“ haben (Kol 2,18); „alles, was sie von sich geben, [ist] leeres Gerede“ (1 Tim 1,6); sie haben „am Glauben Schiffbruch erlitten“ (1 Tim 1,19); sie sind „Lügenredner“, „ihr Gewissen ist so abgestumopft, als wäre es mit einem glühenden Eisen ausgebrannt worden“ (1 Tim 4,2); sie wissen „in Wirklichkeit überhaupt nichts“ (1 Tim 6,4). 2 Tim 2,16–18: „Gottlosem Geschwätz geh aus dem Weg; solche Menschen geraten immer tiefer in die Gottlosigkeit und ihre Lehre wird um sich fressen wie ein Krebsgeschwür. Zu ihnen gehören Hymenäus und Philetus, die von der Wahrheit abgeirrt sind…“. In der Kirche sind leider auch daug „unnütze Schwätzer und Verführer“ – mit ihnen soll man eben nicht nett reden, sondern ihnen muss man „das Maul stopfen“ (EÜ: „zum Schweigen bringen“, NGÜ: „einen Maulkorb anlegen“; Tit 1,10–11)!
Dass man mit Schafen und Wölfen ganz unterschiedlich umgehen muß, formulierte Luther schon 1522 sehr gut: „Mit den Wölfen kann man nicht zu streng sein; mit den Schafen nicht zu freundlich.“ Und 1 Pt 5,2 kommentierend: „Ein Prediger muß nicht nur die Schafe versorgen und sie unterrichten, wie sie gute Christen sein können, aber er muß auch die Wölfe davon abhalten die Schafe anzugreifen und zu verführen mit falscher Lehre und Irrtum, denn der Teufel ruht nie.“ Luther wie Calvin sahen die Wölfe natürlich in der römischen Kirche. Letzterer an Sadoleto: „Den römischen Papst mitsamt seiner Schar von falschen Bischöfen… nennen wir wilde Wölfe“.
Jesus selbst griff in Mt 23 scharf die Wölfe seiner Zeit an. Er attackierte sie natürlich nicht physisch, aber die Worte sind an Aggressivität kaum zu übertreffen (das mehrfache „wehe euch“ ist eine Verfluchungsformel!). Wichtiges verbales Mittel zur Vertreibung der Wölfe ist Spott (Jes 44,9–20; Jer 10,3–15; Gal 5,12 sinngemäß: „sollen sie sich doch selbst kastrieren!“), Sarkasmus (1 Kön 18,27; Ri 10,14; Mt 6,2), teilweise bittere Ironie (Hes 28,3; Klg 4,21; Am 4,4; Mk 7,9) und groteske Bilder (Mt 7,3.6; 10,25; 23,23–24).
Unsere Worte sind aber, anders als die der Autoren der Bibel, nicht von Gott inspiriert und damit nicht fehlerlos. So beging natürlich auch Luther Fehler. Über den Zürcher Reformator Zwingli meinte er nach dem Marburger Religionsgepräch 1529, dieser hätte „einen anderen Geist“, womit er ihm implizit den Glauben absprach. Geistliche Leiter brauchen daher Unterscheidungsvermögen, und auch ihnen gelten natürlich die häufigen Mahnung der Bibel zu Vorsicht und Weisheit im Umgang mit Worten (Ps 39,2; Spr 12,13–19; 1 Pt 3,10; Jak 1,26). Gerade sie sind zu Tugenden wie Güte und Freundlichkeit (Gal 5,22–23; 6,1; 2 Kor 10,1; Kol 3,12–14; Phil 4,5; 1 Thes 2,6–7; 1 Tim 6,11) berufen. Bevor die verbale Keule herausgeholt wird, müssen die Widerspenstigen „mit Sanftmut“ zurechtgewiesen werden (2 Tim 2,25)!
Auch das Zweite Helvetische Bekenntnis spricht von Wölfen. Zu den Aufgaben der Amtsdiener gehört es, „die Wölfe vom Schafstall des Herrn zu verjagen. Laster und Lasterhafte sollen sie mit Klugheit und mit Nachdruck tadeln und gegen Schandtaten weder nachsichtig sein noch schweigen.“ (XVIII,18) Autor Heinrich Bullinger stellt aber auch fest: „Damit aber der Diener dies alles besser und leichter zu tun vermöge, muss man von ihm in erster Linie verlangen, dass er gottesfürchtig sei, im Gebet verharre, fleißig die Heilige Schrift lese, in allen Dingen und immer wachsam sei und allen durch ein reines Leben voranleuchte.“ (19) Die Amtsträger stehen nicht nur in der Gefahr, falsch zu urteilen, sie können auch selbst zu Schweinen oder Wölfen werden! Deshalb „soll auch unter den Dienern rechte Zucht herrschen. Man hat deshalb auf den Synoden fleißig Lehre und Lebenswandel der Diener zu prüfen. Die Fehlbaren sollen von den Älteren angeklagt und auf den rechten Weg zurückgeführt werden…“ (22).
Der Einzelne kann falsch urteilen, und der Einzelne kann fallen. Daher sollen solche wichtigen Entscheidungen in einer Gruppe von ausgewählten Christen wie eben auf Synoden gefällt werden. Hier kann in Ruhe beraten werden, so dass nicht aus einer persönlichen Laune heraus Wölfe erschossen werden, die in Wahrheit doch Schafe waren. Hier werden Geistliche diszipliniert (in erster Linie sie und nicht die einfachen Gemeindemitglieder, da ihre Verantwortung viel höher ist!), und „wenn sie unverbesserlich sind, soll man sie absetzen und sie als Wölfe durch wahre Hirten von der Herde des Herrn verjagen“. Gegenüber Verkündern falscher Lehre gibt es keinen Kompromiß: „wenn sie Irrlehrer sind, so darf man sie auf keinen Fall dulden“.
Wer freundlich zu Schafen ist, muß Wölfen feindlich gesinnt sein; und wer freundlich zu Wölfen ist, der überläßt ihnen die Schafe, ist ihnen also in Wahrheit feind. Luther erinnert uns gerade in den Schmalkaldischen Artikel daran, und Bullinger zeigte in seinem Bekenntnis, wie diese schwierige Aufgabe in der Praxis auszuüben ist.