Worin unterscheidet sich das Leben in Litauen und in Deutschland?
Viel statistisches Vergleichsmaterial ist in der Rubrik „Litauen“ zu finden. Grundsätzlich ist zu sagen, dass sich das Leben in den beiden Ländern mittlerweile in vielerlei Hinsicht ähnelt. Klimatisch und landschaftlich gibt es nur wenige Unterschiede zwischen Norddeutschland und dem baltischen Land. Und kulturell befindet man sich ebenfalls in derselben ‘Großfamilie’: Litauen ist Teil des katholisch-protestantischen Mittel- und Westeuropas, gehört also nicht zum orthodoxen Kulturraum im Osten (s. Europakarte: in rot die Länder des kulturellen Westens). So wundert es auch nicht, dass sich im Baltikum – anders als in den Staaten von Weißrussland bis Kasachstan – recht stabile Demokratien, freie Gesellschaften und funktionierende Marktwirtschaften herausgebildet haben.
Was das Leben Anfang und Mitte der 90er Jahre in Litauen für jeden Deutschen so anders machte, war vor allem auch das magere Warenangebot. Selbst Müesli und den Kaffee brachte man sich aus Deutschland mit, nach ordentlichen Möbeln und den gewohnten Kleidungsmarken mußte man suchen. Alles war noch spottbillig, so dass man kaum wusste, wohin mit dem Geld. Ende des Jahrzehnts machten dann die ersten großen Supermärkte auf, und nun, nach dem Beitritt zum gemeinsamen EU-Markt und bei steigenden Einkünften, sind Warenfülle und manchmal auch Preise fast schon auf deutschem Niveau.
Materiell gleichen sich die Lebensbedingungen in der EU an. Das beginnt in den Einkaufszentren und reicht bis zum litauischen Auto-‘TÜV’, der ganz ähnlich wie der deutsche arbeitet. Es bleiben mitunter gewichtige kulturelle Unterschiede, die sich natürlich nicht so schnell einebnen. Sechs Dinge wollen wir hier kurz ansprechen.
Litauen ist ein recht kleines Land, das darauf achten mußte, nicht unter die Räder der großen Nachbarn zu geraten. In der Geschichte bestand so manches Mal die Gefahr, zermalmt zu werden und seine Identität als Volk ganz zu verlieren. Das gibt dem Land eine patriotische Grundstimmung, die man so in Deutschland nicht findet. Auf die eigene Sprache wird großer Wert gelegt; das nationale Kulturerbe gepflegt; die Nationalhymne bei so manchen Gelegenheiten gesungen. Es gibt auch in Litauen Skinheads und eine „völkische Jugend“, doch das bleiben Randerscheidungen. Der populäre Journalist, TV-Moderator und Popsänger Marijonas Mikutavičius spiegelt dagegen das gesunde Nationalempfinden in seinen Liedern wider. Von ihm stammt die äußerst beliebte Sport-Hymne „Drei Millionen“ (die Einwohnerzahl) oder auch „Liebt ihr es [Litauen]?“ – ein modernes Loblied auf die einfachen Tugenden jedes Bürgers.
Die Geschichte hat die Litauer zu Patrioten gemacht, und sie hat sie leidensbereiter werden lassen. Änlich wie viele Deutschen mussten Litauer zwei Weltkriege mit all den Zerstörungen über sich ergehen lassen. Doch anders als die Westdeutschen fanden sie sich nach dem Krieg ausgerechnet unter der Herrschaft Stalins wieder. Hunderttausende wurde nach Sibirien verbannt. Auch wenn nun die EU mit vielen Beihilfen den zentraleuropäischen Staaten hilft – den harten Weg von der kommunistischen Planwirtschaft in die Gemeinschaft des Westens mußten die Menschen und ihre Regierungen selbst gehen, und dieser Weg war und ist hart. Diesen historisch einmaligen schnellen Anpassungsprozeß konnten nur leiderprobte und abgehärtete Menschen gehen. Nur so ist zu erklären, dass etwa 2009 die straffe Kürzung der schon nicht üppigen Renten fast klaglos hingenommen wurde; dass keiner auf die Barrikaden geht, wenn im Kindergarten monatelang kein Lohn gezahlt wird. Sparmaßnahmen, wie sie Südeuropa bisher noch nicht gesehen hat, wurden umgesetzt – und kaum eine Demo auf den Straßen. Die Litauer haben sich ihre Freiheit und ihren Wohlstand hart erarbeitet und sind bereit, Lasten auf sich zu nehmen. Andere in Europa können davon lernen.
Drittens fällt die allgemeine Dynamik ins Auge. Zwischen Anerkennung der Unabhängigkeit von der UdSSR (September 1991) und Aufnahme in die EU (Mai 2004) lagen gerade einmal gut zwölfeinhalb Jahre – niemand hat mit so einer schnellen Entwicklung gerechnet. Das ist Turbogeschwindigkeit, und das ohne einen direkten reichen Nachbarn. Gerade in den Bereichen Politik und Wirtschaft entwickelt sich in Litauen vieles so dynamisch, dass Deutschland oder gar Frankreich manchmal als verkrusstet erscheinen. Da sieht man im Fernsehen milchgesichtige Finanzexperten und Vizeminister mit 30, und an der Spitze von Banken sind sie nur wenig älter – wo man hinschaut sehr junge Führungskräfte. Sie setzen neueste Erkenntnis um und prägen das kleine Land zum Positiven. Übrigens sind auch einige der weltweit jüngsten katholischen Bischöfe in Litauen zu finden.
Für Christen besteht der größte Unterschied im Hinblick auf das kirchliche Leben, konkret: die evangelische und evangelikale Kultur. In Deutschland gibt es – wenn auch nicht in jedem Dorf, aber doch in jeder Großstadt – für jeden Geschmack die richtige Gemeinde; in Litauen sind die evangelikalen Gemeinden dünn, sehr dünn gesät. Das deutsche Gemeindeleben ist sehr vielfältig, besticht durch die Breite des Angebots; die Qualität der Predigten ist teilweise hoch. Hinzu kommt die ganze Infrastruktur mit christlichen Verlagen, Zeitschriften und anderen Medien, Musikgruppen, Gästehäusern, Urlaubs- und Fortbildungsangeboten, Werken der verschiedensten Ausrichtungen und und und. Das allermeiste ist in Litauen – wenn überhaupt – nur in Ansätzen vorhanden. Der Christ aus Deutschland lebt tausend Kilometer weiter östlich nicht in der Wüste, aber in der christlichen Steppe; manchmal blickt man mit Wehmut auf das kirchliche ‘Paradies’ in Deutschland oder der Schweiz. Und die Bewunderung für litauische Christen wächst, die in dieser Steppe geistliche Nahrung finden, mit großem Ernst ihren Glauben treu und vorbildlich leben.
Was schließlich deutschen Bewohnern Litauens auffällt, ist die in weiten Bereichen autoritär ausgerichtete Gesellschaft. Die Prägung durch die streng hierarchisch aufgebaute katholische Kirche und durch die diktatorische Sowjetunion, wo alle wichtigen Beschlüsse ‘oben’ gefaßt wurden, ist bis heute spürbar. Vieles, was in Deutschland eher von unten nach oben wächst, wird in Litauen von oben durchgedrückt. So beschließt der Schuldirektor: nun gibt’s Schuluniformen – keine echte Debatte über das Warum und Wozu. Viel läuft über die Schiene Befehl und Forderung. Was in Deutschland breitgeredet wird, wird in Litauen erst gar nicht diskutiert. Herrscht im Westen ein übertriebener Individualismus, so muß dieser in Litauen ersteinmal entdeckt werden. Deutschland hat eine in Freiheit gewachsene Zivilkultur, angefangen beim lebendigen Vereinswesen. In Litauen ist die Zivilgesellschaft schwach. Viele ‘westliche’ Werte wie Toleranz, Bürgerverantwortung usw. sind überall festgeschrieben, aber die Wirklichkeit hinkt hinterher. Die Schulen z.B., so scheint es, sind tatsächlich immer noch Hort des sowjetischen Geistes. Ob nun in der Hausgemeinschaft der Wohnungsbesitzer, der Kirche oder im Bildungswesen – andere sollen nicht mit vernünftigen Argumenten überzeugt werden; vielmehr herrscht oft genug die Intrige und Recht des Stärkeren und Lauteren. Und immer noch zu oft erhebt der alte Kollektivgeist des Kommunismus sein Haupt: aus der Reihe Tanzen gibt’s nicht!
Mit dem eben genannten Phänomen ist ein letzter Punkt verbunden: Ein grundlegendes Mißtrauen durchzieht viele gesellschaftliche Bereiche – vertrauen könne man allerhöchstens engen Freunden. Das Mißtrauen gegenüber staatlichen Einrichtungen wie z.B. dem Parlament, den Gerichten oder der Polizei ist im europäischen Vergleich in Litauen sehr hoch. Die Beziehungen zwischen den Bürgern und ihrem Staat ist wahrlich gestört.
Gerade dem Beobachter aus dem Westen fällt dies auf. Er geht mit einem Grundvertrauen in alle Interaktionen – man vertraut dem Mitbürger ersteinmal. In Litauen meinen dagegen 75%, dass man „mit anderen Menschen sehr vorsichtig sein muß“; nur 25% sind überzeugt, dass man „ der Mehrheit der Menschen vertrauen kann“, so eine Studie. Vertrauen ist ein „softer“, doch von kaum zu überschätzendem Wert. Der US-Politologe Robert Putnam meinte sehr richtig: „Vertrauen schmiert wie Öl den Motor der Gemeinschaft und Zusammenarbeit“.