Rechtfertigung und Heiligung
Das Muster ist in der Bibel, ob nun im Alten oder im Neuen Testament, das gleiche: Gott hat sein Volk von Sünden erlöst und befreit; deshalb sollen wir ihm und seinen Geboten folgen. Oder mit anderen Begriffen: er hat uns gerechtfertigt; deshalb sollen wir ein geheiligtes Leben führen.
Dies lässt sich an zahllosen biblischen Texten verdeutlichen. In Röm 6,3–10 nennt Paulus eine Reihe Indikative, beschreibt neue Tatsachen der Einheit mit Christus. Früchte der Rechtfertigung. Es folgen dann in Röm 6,11–14 Imperative. Die klassische Stelle ist Eph 2,8–10:
„Durch Gottes Gnade seid ihr gerettet, und zwar aufgrund des Glaubens. Ihr verdankt eure Rettung also nicht euch selbst; nein, sie ist Gottes Geschenk. Sie gründet sich nicht auf menschliche Leistungen, sodass niemand vor Gott mit irgendetwas großtun kann. Denn was wir sind, ist Gottes Werk; er hat uns durch Jesus Christus dazu geschaffen, das zu tun, was gut und richtig ist. Gott hat alles, was wir tun sollen, vorbereitet; an uns ist es nun, das Vorbereitete auszuführen.
Wir sind aus Glauben gerettet, ohne Werke, es ist eben Gottes Werk; aber doch „zu guten Werken“ (so Luthers Übersetzung), in denen wir „wandeln“ sollen.
Siegfried Kettling hat im zweiten Kapitel („Rechtfertigung und Heiligung“) von Typisch evangelisch alle Zusammenhänge sehr gut dargestellt. Ähnlich dem Ansatz von John Frame stellt er dar, dass Rechtfertigung und Heiligung als Perspektiven betrachtet werden können:
„Rechtfertigung sieht das Werk Gottes in der Dimension des ‘Oben’… Gott hat uns in Christus bereits für vollkommen rein erklärt, hat uns in den Stand der Heiligen, der Kinder Gottes versetzt, hat uns ein-für-allemal vergeben, uns in die Gerechtigkeit Christi ein-für-allemal eingehüllt. Wir sind schon mit-gestorben, mit-auferweckt, mit-inthronisiert, mit-verherrlicht!.. Heiligung will zeigen: Dies im ‘Oben’ schon Vollendete drängt ins ‘Unten’. Es will in der Welt von Raum und Zeit,.. in der Alltagserfahrung… leibhaft werden. Dabei schlüpft das Vollendete und Ganze in die Gestalt des Anbruchhaften, der verschiedenen Stufen und Grade… Von dem Einen und Ganzen gilt jetzt ‘mehr und mehr’, ‘nach und nach’,… ein Wachsen von Tag zu Tag… An die Stelle des [lat.] statim (‘alles mit einem Mal’) tritt das paulatim (‘allmählich’), so formuliert Luther. Hier haben alle die ermahnenden Aussagen des Neuen Testaments ihren Platz. Heiligung sieht das Christenleben als Unterwegssein an.“
hapax und mallon
Christus ist ein für alle Mal gestorben, wir haben ein für alle Mal den Geist erhalten, was durch das griechische Wort hapax ausgedrückt wird. Auf der anderen Seite gilt den Christen die Aufforderung, Christus immer ähnlicher zu werden (Röm 8, 29), immer mehr Früchte des Geistes hervorzubringen (Gal 5, 22–23) – gr. mallon. John Stott betont in Evangelical Truth, dass unsere Rechtfertigung in Christus hapax ist, unsere Heiligung dagegen mallon (Phil 1,9; 1 Thess 4,1.9–10). Denn Rechtfertigung beseitigt ganz die Schuld der Sünde, Heiligung ihren Schmutz – und das nicht vollkommen, denn „selbst die frömmsten Menschen [kommen] in diesem Leben nicht über einen geringen Anfang des Gehorsams hinaus“ (Heidelberger Katechismus, 114).
Theologen bezeichnen unsere heilgeschichtliche Epoche auch gerne mit dem Begriffspaar des „schon–noch nicht“ (oder engl. already–not yet). Das Reich Gottes ist schon gekommen (Mk 1,15), die Endzeit, die letzten Tage haben schon begonnen (1 Kor 10,11), in Christus wohnen wir schon im Himmel (Eph 1,3.20; 2,6; 3,10); wir sind gerettet, sind Heilige. Doch unsere Erlösung ist noch nicht vollendet; Leid und Sünde plagen uns noch; wir leben noch nicht im neuen Himmel, warten noch auf die sichtbare Wiederkunft Jesu und die Vollendung seines Reiches. Daher sind wir aufgefordert das immer mehr auszuleben, was wir schon sind; auch im Licht dessen zu leben, wie wir sein werden. Wir sind in Christus geheiligt und sollen daher immer ähnlicher werden.
In Gal 5,24–26 schreibt Paulus: wir haben schon „das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und Begierden“, wir leben schon „im Geist“; daher sollen wir auch „im Geist wandeln“, und anschließend ermahnt Paulus: „Lasst uns nicht…“ Sünde hat zwar schon keine Macht mehr über uns (Röm 6,14), wir sind ihr abgestorben; aber wir sündigen immer noch und werden daher vielfach in den Briefen aufgefordert, sie zu lassen. Der alte Mensch ist schon – in einer Hinsicht – gestorben, aber immer noch sollen wir „die Taten des Fleisch töten“ (Röm 8,13).
Auch die Neuschöpfung des Gläubigen steht in diesem Spannungsverhältnis. Wir sind „neue Kreatur“ (2 Kor 5,17), aber das Neue bedeutet ja nicht, dass wir unsere Adamsnatur schon verloren und einen Auferstehungsleib haben. Das wesentliche Neue ist in Christus; in ihm haben wir das ewige Leben, aber wir sterben immer noch. Diese Zusammenhänge muss man begreifen, andernfalls sind ja auch Leid, Krankheit und Tod nicht im christlichen Leben einzuordnen. Noch gibt es Leiden, Verfolgung, dann die Verherrlichung; noch sind wir in der Kampfzone, dereinst herrscht vollkommener Frieden. Bernhard Kaiser: „Heiligung geschieht immer in der Auseinandersetzung mit der Sünde“ (Christus allein). Die nötige Kraft für diesen Kampf schenkt der Heilige Geist durch das Wort.
Kein Eifer für gute Taten?
Zwischen Rechtfertigung und Heiligung besteht somit eine logische, nicht zeitliche Reihenfolge, die man klar sehen muss. Die Protestanten betonten wieder erneut: Die Rechtfertigung geschieht rein aus Gnaden ohne Werke; sie hat logische Priorität; der Gerettete tut dann gute Werke. In der katholischen Sicht gerät die Heiligung zum Fundament: Das Rechtfertigungsurteil wird erst am Ende des Lebens im Jüngsten Gericht aufgrund der Gesamtbilanz des abgeschlossenen Lebens gesprochen. Die Rechtfertigung allein aus Glauben erschien ihnen als viel zu billig.
Calvin nahm in seiner Antwort an Kardinal Sadoleto aus dem Jahr 1539 – eine der wichtigsten und besten Schriften der Reformationszeit (deutsch als Musste Reformation sein?) – zu den Vorwürfen Stellung. Er verteidigt die „Rechtfertigung aus Glauben“; bei ihm wie auch Luther ist sie absolut zentral: „Nimm diese Erkenntnis fort, dann ist Christi Ehre ausgelöscht, die Religion abgeschafft, die Kirche niedergerissen und uns jede Hoffnung auf Rettung entschwunden“. Er nennt den üblichen Vorwurf, dem Glauben würde bei den Evangelischen „alles übertragen“, so dass für die Werke kein Platz mehr bliebe. Calvin stellt dar, dass alles mit realistischer „Selbsterkenntnis“ als Sünder beginnt. So bleibt als „einzige Rettungsmöglichkeit“ nur „Gottes Barmherzigkeit“. Nur „in Christus“ haben wir Hoffnung auf Rettung. „Unser ganzes Heil liegt in ihm sorgsam bereit… Christus ist unsere einzige Gerechtigkeit. Durch seinen Gehorsam hat er unsere Übertretungen ausgelöscht, durch sein Opfer den Zorn besänftigt…“ Und weiter:
„Jedoch tut man Christus Unrecht, wenn man unter dem Vorwand der Gnade gute Werke verabscheuen würde. Denn er ist doch gekommen, dass er sich ein Volk schaffe, das Gott angenehm sei und nach guten Werken strebe… Unsere Gegner halten uns nun dauernd vor, wir beseitigen den Eifer für gute Taten aus dem christlichen Leben, wenn wir von der geschenkten Gerechtigkeit so empfehlend sprächen… Den guten Werken sprechen wir bei einem Menschen vor seiner Rechtfertigung jegliche Bedeutung ab; im Leben der Gerechtfertigten geben wir ihnen die beherrschende Stellung. Denn wer Christus besitzt, der hat Gerechtigkeit erlangt. Christus ist aber niemals ohne seinen Geist… Wo also irgend jene Glaubensgerechtigkeit ist, die wir predigen, dort ist Christus. Wo Christus ist, da ist auch der Geist der Heiligung; sie soll die Seele zu neuem Leben in der Wiedergeburt erglühen lassen. Umgekehrt, wo kein Eifer für heiliges Wesen und Unschuld anzutreffen ist, da ist auch nicht der Geist Christi, noch Christus selbst. Wo Christus nicht ist, da ist auch keine Gerechtigkeit, ja auch kein rechter Glaube.“
Das Ziel der Heiligung ist die Erneuerung ins Ebenbild (Eph 4,24; Kol 3,10). R. Macaulay und J. Barrs betonen in Wie sollen wir leben?: das Ziel ist „die Wiedergewinnung jener menschlichen Erfahrung, die Gott Adam und Eva vor dem Sündenfall zugedacht hatte.“ Bei Heiligung geht es also um Aktivitäten, „die einen wirklichen Menschen ausmachen.“ Wir sind berufen wie Gott, aber nicht Gott zu werden. „Wir werden in Zukunft mit unserem Auferstehungsleib keine nichtmenschliche oder über-menschliche Erfahrung machen. Es wird einfach eine menschliche Erfahrung sein, die endlich von den Ketten der Sünde befreit ist.“ Christus zeigte, wie wahres Menschsein aussieht, und so werden Menschen immer menschlicher, immer mehr Ebenbilder Gottes, indem sie Christus ähnlicher werden. Als Mensch „ist er unser Vorbild für das christliche Leben, nicht als eine Art ‘Superman’, sondern als ganz gewöhnlicher Mensch. Als Nachkomme Adams hatte er alle Erfahrungen durchlebt, die das Leben eines Menschen bestimmen, ausgenommen die Sünde.“
Diese Gedanken gehen auf Calvin zurück, der in Inst. III,6 schon diese Erneuerung ins Ebenbild und damit Christus betonte; unser Leben soll „Christus zur Darstellung bringen“.
„Christus rechtfertigt also keinen, den er nicht zugleich heiligt“
Rechtfertigung und Heiligung sind also zu unterscheiden, dürfen aber nicht getrennt werden. Heiligung ist nur möglich durch die Verbindung mit Christus. Es findet kein radikaler Subjektwechsel statt nach dem Muster: Rechtfertigung – Gottes Handeln, Heiligung – meines. Wir sind an der Heiligung anders beteiligt als an der Rechtfertigung, aber auch sie ist Gabe Gottes, wird nämlich durch den Geist gewirkt. Auch dies betonte unter den Reformatoren besonders Calvin. Und dies ist natürlich die Botschaft des NT: unser Tun ist gefragt, aber Gott wirkt in uns (Phil 2,13). Gott zieht uns zu sich, er ist der Hauptakteur der Heiligung.
Der Reformator in einem wichtigen Abschnitt der Institutio: „Weshalb werden wir nun im Glauben gerechtfertigt? Weil wir im Glauben die Gerechtigkeit Christi ergreifen, durch die allein wir mit Gott versöhnt werden. Dies aber kann man gar nicht ergreifen, ohne zugleich auch die Heiligung zu erfassen! Denn Christus ist uns gegeben ‘zur Gerechtigkeit und zur Weisheit, zur Heiligung und zur Erlösung’ [1 Kor 1,30]. Christus rechtfertigt also keinen, den er nicht zugleich heiligt! Diese Wohltaten Christi sind durch ein bleibendes und unlösbares Band miteinander verknüpft…. Wir unterscheiden sie allerdings voneinander, aber Christus trägt sie beide untrennbar in sich! Willst du also in Christus Gerechtigkeit erlangen? Dann musst du zuvor Christus besitzen! Du kannst ihn aber gar nicht besitzen, ohne zugleich auch an seiner Heiligung teilzuhaben… Der Herr… spendet uns beides zugleich, das eine nie ohne das andere! Daraus geht deutlich hervor…: Wir werden nicht ohne die Werke, aber dennoch auch nicht durch die Werke gerechtfertigt.“ (Inst. III,16,1)
Man kann auch so zusammenfassen: Christus für uns (Rechtfertigung) und Christus in uns (Heiligung) gehören zusammen, wobei das erste die Grundlage des zweiten ist. Sehr gut auch der Kurze Westminster-Katechismus in Frage 35 („Was ist Heiligung?“): „Heiligung ist das Werk von Gottes freier Gnade, wodurch wir erneuert werden in den vollkommenen Menschen nach dem Ebenbilde Gottes, und mehr und mehr befähigt werden, der Sünde zu sterben und der Gerechtigkeit zu leben.“
Auch Luther fasst im Kleinen Katechismus zum 3. Glaubensartikel das ganze Werk des Heiligen Geistes unter dem Stichwort „Von der Heiligung“ zusammen. „… sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten…“ Das heißt, dass das Handeln Christi und seines Geistes die große Klammer um beides, Rechtfertigung wie Heiligung, ist. Nirgendwo können wir uns wegen irgendetwas rühmen. Durch die Heiligung, das gute Handeln, unseren Gehorsam, erlangen wir daher auch natürlich keinerlei echten Verdienste vor Gott. Der Heidelberger Katechismus behandelt die Gebote in Teil III (nach der Erlösung) und der Überschrift „Von der Dankbarkeit“. Dies wäre auch eine gute Überschrift zur gesamten Ethik.
(Bild o.: Lucas Cranach d.Ä., Gesetz und Gnade)
[…] Beitrag erschien auch auf: lahayne.lt […]
[…] Natürlich enthält die Erklärung viel Wahres. Leider bleibt sie an vielen Stellen im Ungefähren, so dass jede Seite den Text entsprechend der eigenen Tradition interpretieren kann. Die alten Konfliktpunkte werden nicht klar genannt und vor allem auch nicht gelöst. Was besonders den konfessionellen Lutheranern Sorge macht (und das ist noch gelinde ausgedrückt), ist die eben eher katholische Vermischung von Rechtfertigung und Heiligung. Sie kommt dummerweise in der Erklärung zum Ausdruck. (Mehr zum Verhältnis beider hier). […]