Russisch auf dem Rückzug

Russisch auf dem Rückzug

Ende des 19. Jahrhunderts erlebte Vilnius, damals Wilno, einen Bauboom. Auf dem Hügel in der Neustadt, oberhalb der Altstadt gelegen, entstanden prächtige Bauten für das aufstrebende Bürgertum. Neben dem riesigen Gebäude, lange das größte in ganz Litauen, das heute der Sitz der Litauischen Eisenbahn ist, wurde auch ein Theater erbaut. Natürlich wurden dort damals, im Zarenreich, Stücke in russischer Sprache inszeniert. Über den Reformierten Park blicken wir auf das Dach des Schauspielhauses, das gleich nach dem Krieg 1945 wiedereröffnet wurde. Auch im unabhängigen Litauen ab 1990 führte das „Russische Theater“ (Rusų dramos teatras) seinen Namen und sein Programm weiter.

Gut einhundert Meter vom Theater entfernt sitzt der Kulturminister – oberster Chef aller staatlichen Kultureinrichtungen. Mitte September änderte er per Dekret den Namen des ältesten Theaters in der Stadt in – äußert einfallsreich – „Altes Theater Vilnius“. Das Wort „russisch“ im Namen war ganz und gar nicht mehr erwünscht. Die Theaterleitung konnte so viele ukrainische Flaggen hissen wie sie wollte und sich betont solidarisch mit der Ukraine erklären – die russischsprachige Truppe kann froh sein, dass sie weiterspielen darf. Nun wird unterstrichen, dass man ein Programm für „nationale Minderheiten“ macht. (Von der Fassade, s.o. Foto, wurde der alte Name schon entfernt; auf der Internetseite hinkt man noch hinterher.)

Der Krieg in der Ukraine hinterlässt auch in Litauen seine Spuren, vor allem in Kultur und Gesellschaft (die Wehrpflicht war schon nach der Besetzung der Krim 2014 wiedereingeführt worden). Russische Sprache und Kultur sind vielerorts in der Defensive. Der Kulturminister von den wenig liberalen „Liberalen“ und viele andere Politiker und Prominente unterstützten im Frühjahr die Aktion den „Himmel für die russische Kultur zu schließen“ – entsprechend der Forderung einer Flugverbotszone in der Ukraine. Da merkte man im Russischen Theater, dass die Luft langsam dünn wird. Prominente litauische Regisseure, die auch an Bühnen in Moskau tätig waren wie Rimas Tuminas, wurden massiv zur Aufgabe ihrer Arbeit dort gedrängt.

Es ist noch nicht lange her, da füllten Pop- und Schlagerstars aus Russland Litauens Konzertsäle und Arenen. Russische Musik war sehr beliebt, ihre Prominenz kam gerne an die litauische Ostsee. Nun kommen russische Bürger schon gar nicht mehr hinein in die baltischen Staaten. Seit einigen Wochen werden an sie keine Visa mehr ausgegeben. Bald nach dem Beginn des Krieges wurden die Ausstrahlung der allermeisten TV-Kanäle aus Russland verboten. Russisch ist auf dem Rückzug.

Dorn im Auge der neuen und alten Gegner der Kultur des großen Nachbarn ist das Russische an den Schulen. Immer noch mit weitem Abstand ist die slawische Sprache beliebteste zweite Fremdsprache (die erste ist fast überall Englisch). Auf Elternabenden konnten wir früher selbst erleben, wie die Eltern sich für die Sprache, die sie kaum als Fremdsprache empfanden, einsetzten. Deutsch, lange abgeschlagen auf Platz zwei, holt nun erst langsam auf.

Um das Russische auch aus den Schulen zu drängen, wird es Eltern, die dies entscheiden, in den Leitmedien abspenstig gemacht. An vorderster Propagandafront einmal wieder der erfahrene Journalist Rimvydas Valatka (Mitglied der lutherischen Gemeinde in Vilnius), der – so muss man es wohl leider sagen – mit vielen anderen seinen antirussischen Kreuzzug weiterführt. Man bräuchte in Litauen eigentlich ja nur ein paar Tausend Menschen, die gut russisch sprechen. Mehr sei nicht nötig, und der Staat sollte unbedingt Schritte zur Entrussifizierung der Schulen einleiten. Gegen drastische Verbote hätte er wohl auch nichts. Die Bildungsministerin will das Russische auch zurückfahren, ist aber mit der Realität konfrontiert. Schon jetzt gibt es kaum genug Lehrer für westeuropäische Sprachen.

In Vilnius mit seinem historischen gewachsenen Erbe der kulturellen Vielfalt muten die antirussischen Kampagnen seltsam an. Hier wird man nicht selten wie selbstverständlich auf Russisch angesprochen. An Supermarktkassen hat man das Gefühl, dass die „Ludmillas“ und „Natalias“ dominieren. Man hört auf den Straßen nicht wenig Russisch, und es gibt neben den orthodoxen Kirchen (nur einige wenige litauischsprachig, auch wenn der Anteil steigt) eine ganze Reihe evangelischer Kirchen, in denen russisch gesungen und gepredigt wird. Und nun spricht man mit den geflohenen Ukrainern ebenfalls – was sonst? – russisch. Viele von ihnen haben schon Arbeit im Dienstleistungsbereich gefunden, da sie sich ja in Litauen mit der russischen Sprache immer noch gut verständigen können.

In Lettland, Litauens Nachbar im Norden, ist die dort deutlich größere russische Minderheit schlechter integriert als in Litauen. Nun nutzt man dort aber offensichtlich die Kriegsstimmung und macht sich an eine ‘Lösung’ des Problems der Russen im Land, die man auch rabiat nennen kann: Das Russische als Unterrichtssprache wird aus allen Schulen bis zum Jahr 2025 schrittweise ganz verbannt. Auch an Schulen der russischen Minderheit (in einzelnen Städten ja die große Mehrheit wie in Daugavpils!) wird das Russische zur Folklore werden. Man fühlt sich erinnert an die Germanisierung der masurischen und litauischen Minderheiten in Ostpreußen Ende des 19. Jahrhunderts. Damals drückte das Kaiserreich Deutsch als einzige Unterrichtssprache in den Schulen durch. Wer hätte das gedacht: Im 21. Jahrhundert macht sich ein EU-Staat an die Zwangsassimilierung einer großen Minderheit.

Litauen wird den lettischen Weg gewiss nicht gehen. Und das liegt an der polnischen Minderheit, die in Vilnius und den Landkreisen herum sehr stark ist. Sie würde sich sicher nicht das Recht nehmen lassen, Teile des Unterrichts an den polnischen Schulen in der Muttersprache der Kinder zu erteilen. Änderungen sind hier auch gar nicht nötig: Junge Polen aus Litauen sprechen, so unsere Erfahrung, in der Regel perfekt Litauisch, sind loyale Bürger des Landes, pflegen aber auch intensiv ihr polnisches Erbe. Würde der Staat die russische Minderheit ins Visier nehmen, könnte diese sofort auf die slawischen Brüder zeigen: dann, bitteschön, auch mit diesen so verfahren. Gegen die Polen geht nun natürlich niemand vor, stehen sie doch wie die Litauer auf der „richtigen“, westlichen Seite.

Eine gewisse Brutalität ist aber auch den Litauern nicht fremd. Das erfolgreiche litauische Eistanzpaar Povilas Vanagas und seine Frau Margarita Drobiazko fielen in Ungnade. Vor Jahrzehnten gewann die beiden Medaillen bei internationalen Wettkämpfen, und jeder im Land schmückte sich gern mit ihnen. Drobiazko, aus Russland stammend, hatte zuvor die litauische Staatsbürgerschaft erhalten. Das Paar, nun Anfang 50, arbeitet immer noch im Profigeschäft und wohnt seit langem in Moskau. Damit haben sie ein denkbar schlechtes Los gezogen. Die Teilnahme an einer privaten Eislaufgala im russischen Sotschi im Sommer (natürlich organisiert von jemandem, der irgendwie mit dem Kreml in Verbindung steht), führte dazu, dass gleichsam ganz Litauen ihnen die Freundschaft aufkündigte. Dabei hatten sie nie Sympathien für den Kreml und dessen Politik geäußert. Ein hoher Orden wurden den beiden prompt aberkannt. Forderungen wurden laut, Drobiazko doch die litauische Staatsbürgerschaft zu entziehen. Sogar über eine Gesetzesverschärfung wurde konkret nachgedacht, um solchen Freunden Russlands (?) den litauischen Pass abnehmen zu können.

Es ist wie bei den meisten Kriegen: Es fallen nicht nur Männer auf dem Schlachtfeld. Auch dort, wo nicht gekämpft wird, treibt ein mitunter dumpfer Nationalismus seine Blüten, werden Minderheitsrechte eingeschränkt, breitet sich Missmut oder gar Hass in der Gesellschaft aus. Es wird Zeit, dem ein Ende zu bereiten.