Der polnische Exodus

Der polnische Exodus

Königsberg, Danzig oder Breslau – diese Orte tragen heute neue Namen, denn es sind keine deutschen Städte mehr. Vor fünfundsiebzig Jahren wurde die deutschsprachige Bevölkerung fast vollständig vertrieben. Die Umsiedlung in der Mitte Europas traf ab 1945 aber nicht nur die Deutschen. Stalin hieß nicht nur die Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten gut. Er ließ auch zahlreichen Polen die Heimat rauben. So wurde aus dem polnischen Wilno das heutige Vilnius der Litauer.

Das Großfürstentum Litauen war immer ein Viel- oder Mehrvölkerstaat. Jahrhundertelang bildeten orthodoxe Slawen – die Vorfahren der heutigen Ukrainer und Weißrussen – die Mehrheit im Staat. Die zahlreichen orthodoxen Kirchen in Vilnius zeugen von einer Zeit, in der sich in der Stadt katholischer Westen und orthodoxer Osten begegneten. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts verband sich die Geschichte Litauens sehr eng mit der Polens – es entstand „Polen-Litauen“ unter König und Großfürst in Personalunion, die „Republik [im Sinne von Staat] zweier Völker“.

1795 wurden die Reste dieser Republik von Österreich, Preußen und Russland verschluckt. Das litauische Gebiet kam weitgehend zum Zarenreich. Die litauische Sprache überdauerte auf dem Land, in den Dörfern. In den Städten und Städtchen Litauens wurde damals überwiegend jiddisch, polnisch, russisch oder deutsch – und nur hier und da litauisch – gesprochen. 1897 war selbst Kaunas mit 7% Litauern neben Juden (35%), Russen (26%) und Polen (23%) keine litauische Stadt im ethnisch-sprachlichen Sinne. In absoluten Zahlen lebten damals mehr Litauer in Riga oder Petersburg – oder auch im fernen Chicago. Erst Ende des 19. Jahrhunderts begann der Anteil der Litauischsprachigen in den Metropolen zu steigen.

Heute stellen die Litauer 84% der Bevölkerung des Landes, die Polen sind mit knapp 7% die größte sprachliche und ethnische Minderheit. Vilnius, die Hauptstadt, hat nun 560.000 Einwohner – so viele wie Bremen. Um 1900 war es nur ein Viertel dieser Zahl, und von diesen waren 40% Juden, die meist Jiddisch sprachen, und 30% Polen, daneben lebten viele Russen und andere Slawen in der Stadt. Litauisch sprachen damals nur ein paar Prozent der Stadtbewohner.

1915 besetzten im Ersten Weltkrieg die Deutschen „Wilna“. Öffentliche Bekanntmachungen waren meist in fünf Sprachen verfasst: auf Deutsch, Weißrussisch, Jiddisch (geschrieben mit hebräischen Buchstaben), Polnisch und Litauisch. Nach dem Krieg wurde die Stadt Zankapfel zwischen allen Parteien und wechselte zwischen 1918 und 1922 über ein Dutzend Mal den Besitzer!

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Dem neuen Staat Litauen war im Friedensvertrag mit dem sowjetischen Russland eigentlich ein (aus heutiger Sicht) recht großes Territorium zugesagt worden, zu dem natürlich auch die alte historische Hauptstadt Vilnius gehören sollte. Allerdings wurden Ostlitauen und Vilnius 1922 von polnischen Truppen besetzt. Nur mit Not verhinderte die junge litauische Armee die Eroberungen von ganz Litauen. Kaunas wurde zur provisorischen Hauptstadt und erlebte daher in den 20er und 30er Jahren eine Blüte. Bald sprachen dort Zweidrittel der Einwohner litauisch. Die Beziehungen zwischen Polen und Litauen waren auf dem historischen Tiefpunkt (offiziell befand man sich nur im Waffenstillstand). 1931 bildeten die Polen etwa Zweidrittel der Einwohner von Vilnius.

1939 teilten Hitler und Stalin Polen unter sich auf. Im Oktober überließen die Sowjets Vilnius und einen Teil Ostlitauens der litauischen Republik. Die neuen, polnischsprachigen Mitbewohner des Landes galten der litauischen Obrigkeit aber als unsichere Kantonisten – 100–150.000 der Polen in Vilnius erhielten kein litauisches Bürgerrecht, rund die Hälfte der Stadtbewohner wurden als „Neuansässige“ oder Zugezogene bezeichnet.

Der weitere Verlauf des Zweiten Weltkriegs stoppte diesen ersten kurzen und groben Versuch der Lituanisierung der Stadt. Im Sommer 1941 eroberte die Wehrmacht in ein paar Wochen Litauen, inzwischen Sowjetrepublik. Die jüdische Einwohnerschaft wurde in ein Ghetto gepfercht und schließlich ermordet. „Wilne“, das „Jerusalem des Ostens“, hörte auf zu existieren. Aber damit nicht genug: Nach der Eroberung von Vilnius durch die Rote Armee im Sommer 1944 machten sich die neuen Herren gleich daran, mit dem Völkerwirrwarr aufzuräumen. Stalin ließ viele zentraleuropäische (wie auch kaukasische und zentralasiatische) Völker in großem Maße umsiedeln, vertreiben oder „evakuieren“.

1944, nach der Ermordung fast aller Juden, hatte Vilnius gerade noch einhunderttausend Einwohner, von denen fast 80% Polen waren. In den nächsten 15 Jahren ging dieser Anteil radikal auf 20% zurück. 1959 bildeten Russen 30% und Litauer 34% der Bevölkerung.  1944-47 mussten 90.000 Polen Vilnius verlassen, darunter auch zweitausend Juden; in den 50er Jahren gingen noch einmal 13.000 Polen. Offiziell siedelten sie freiwillig um. Doch wer nicht gen Westen wollte, dem drohte der Zug nach Osten, in den GULAG. Stalin wollte vor allem den polnischen Nationalismus auslöschen und brauchte außerdem natürlich Hundertausende, ja Millionen, um die ehemals deutschen Gebiete im Westen Polens mit neuen Bewohnern zu versehen. Die Polen aus Vilnius wurden vor allem nach Südostpreußen geschickt. Ihre Umsiedlung verlief halbwegs geordnet, auch viel Hausrat konnte mitgenommen werden.

Die sowjetische Führung in Moskau wie auch in Vilnius setzte viel daran, die Einwohnerzahl von Vilnius zu erhöhen, was anfangs nur schleppend gelang. Doch 1959 zählte die Hauptstadt der litauischen Sowjetrepublik schon wieder 236.000 Einwohner und damit mehr als noch zwanzig Jahre zuvor. Vilnius wurde nun mehr und mehr zu einer litauischsprachigen Stadt (wie zuletzt wohl um 1500). 1989, kurz vor dem Ende der Sowjetunion, bildeten Litauer die Hälfe der Bevölkerung.

Heute steuert Vilnius auf 600.000 Einwohner zu, und seit dreißig Jahren steigt der Anteil der Litauer weiter, die aus dem ganzen Land in das politische, kulturelle und wirtschaftliche Zentrum des Landes ziehen. Zweidrittel der Vilniuser haben nun Litauisch als Muttersprache.

Die polnische Minderheit der Stadt, etwa jeder siebte Bürger, ist aber immer noch die größte. Einige stammen von denen ab, die vor siebzig Jahren nicht umgesiedelt wurden – vollständig war der polnische Exodus damals nicht; andere sind Zugegzogene aus den früheren polnischen Ostgebieten; wieder andere kann man als polonisierte Weißrussen bezeichnen. In jedem Supermarkt der Hauptstadt sind polnische Zeitungen und Journale zu kaufen wie der „Kurier Wileński“, eine der ältesten Zeitungen Litauens überhaupt. Viele hören das polnische Radio („Znad Wilii“), und auch der öffentlich-rechtliche Sender Polens macht ein Programm für Vilnius („TVP Wilno“).

„Wilno nasze“ – Vilnius ist unser! Politische Brisanz hat dieser alte Schlachtruf zum Glück nicht mehr. Aber polnische Touristen kommen immer noch gerne in ‘ihr’ Vilnius – zumal es da noch den religiösen Aspekt gibt. So ist z.B. das Marienbildnis im Tor der Morgenröte für fromme Katholiken aus ganz Polen eines der wichtigsten in ihrem alten Herrschaftsgebiet. In der Stadt gibt es nicht wenige polnischsprachige katholische Gemeinden, und ein Großteil der Priester im gesamten Erzbistum Vilnius wird von ethnischen Polen gestellt.

In der Verwaltung und im öffentlichen Leben domiert die litauische Sprache (anders als z.B. in Helsinki gibt es keine zweisprachigen Straßenschilder), die Polen bleiben naturgemäß weitgehend unter sich. Neben russischsprachigen Schulen gibt es natürlich auch Bildungseinrichtungen vom Kindergarten bis zum Gymnasium für die Polen; auch das Vereinsleben der Minderheit ist lebendig (z.B. aktive polnisch-katholische Scouts). Nur ab und an ziehen Mitglieder der Minderheit fahnenschwenkend durch Wilno (s. Foto ganz oben).

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Der „Saulės“-Friedhof im Viniuser Stadtteil Antakalnis; links der Grabstein eines Priesters mit polnischer Inschrift

Dass Vilnius einst eine polnsche Stadt war, wird eigentlich nur noch auf den alten Friedhöfen deutlich erkennbar. Denn selbst die älteren Kirchengebäude haben an prominenten Stellen das Polnische meist nicht bewahrt. So ließen schon die Russen im Zarenreich am Tor der Morgenröte die polnische Inschrift durch das lateinische „sub tuum praesidium confugimus“ (unter deinem Schutz nehmen wir Zuflucht – gemeint ist Maria) ersetzen. Dach und Fassade unserer reformierten Kirche aus dem Jahr 1835 wird bis 2022 durch die staatliche Denkmalpflege erneuert. Das polnische „dajcie cześć panu“ des Portals (von den Sowjets beseitigt) wird durch das lateinische „Soli Deo Gloria“ wiedergegeben werden – historisch gesehen besser als ein litauisches „Vienam Dievui garbė“.

Die reformierte Gemeinde der Hauptstadt war bis zum Weltkrieg eine polnischsprachige. Wo die umgesiedelten Mitglieder gelandet sind, wäre eine interessante Forschungsaufgabe, denn niemand weiß es. Die allermeisten Reformierten von Vilnius stammen nun aus dem Raum Biržai, sind also wie die meisten Vilniuser Zugezogene oder deren Kinder.

Evangelische polnische Gemeinden gibt es nach unserem Wissen weder in Vilnius, noch in anderen Städten mit großer polnischer Minderheit oder gar Mehrheit (z.B. Šalčininkai). Evangelische Gottesdienste in polnischer Sprache bietet auch niemand an. Die polnische Minderheit Litauens gehört zweifellos zu den „unerreichten Volksgruppen“ im evangelikalen Sinn, denn sie ist stramm katholisch ausgerichtet. Leider haben auch westliche Missionswerke diese nicht ganz kleine Gruppe nicht auf dem Radar. Es wird Zeit, dass dies sich ändert.