Was bleibt vom Ebenbild?

Was bleibt vom Ebenbild?

Der Mensch ist Geschöpf Gottes, unterscheidet sich aber von den Mitgeschöpfen dadurch, dass nur er im Bilde Gottes, ihm gleich oder ähnlich, geschaffen wurde (Gen 1,26–27). Was ist darunter zu verstehen? Ranald Macaulay und Jerram Barrs machen dazu gute Ausführungen in Wie sollen wir leben? / Being human. Die britischen Autoren halten fest, dass wir wie Gott Personen sind:

„Bei Adam und Eva waren alle Merkmale einer Persönlichkeit vorhanden – genau wie bei uns. Und wir besitzen sie, weil sie schon bei ihnen vorhanden waren. Adam und Eva waren kreativ und hatten Sinn für Ästhetik – wie wir auch; sie liebten und stritten sich – wie wir auch; sie hatten ein moralisch-sittliches Empfinden – wie wir auch; sie konnten wählen – wie wir auch. Das bedeutet es, Gott ähnlich zu sein. Es gehört aber noch mehr dazu… Grundsätzlich sind wir Gott ähnlich, weil wir Persönlichkeiten sind. Aus dieser Wahrheit ergibt sich eine Definition menschlicher Erfahrung. Wie Gott, so haben auch wir zu allem eine persönliche Beziehung: Er ist kreativ, und wir sind kreativ: Uns wurde die Herrschaft über die Erde anvertraut, eine Herrschaft, die ursprünglich gut war und Gottes eigenen Herrschaftsstil widerspiegeln sollte. Darüber hinaus sind wir für persönliche Beziehungen geschaffen… Diese Beziehungen sollen von Liebe gekennzeichnet sein, wie auch die Beziehung göttliche Dreieinigkeit in Liebe miteinander verbunden ist. Aus diesem Grund kann Jesu Zusammenfassung des Gesetzes und der Propheten, nämlich dass wir Gott und unseren Nächsten lieben sollen, als Erläuterung des Ausdrucks ‘Gottes Ebenbild’ aus 1 Mose 1 angesehen werden. Das Ebenbild liebt, weil die Liebe aus Gott ist (1 Joh 4,7). Und die Bestimmung des Ebenbildes ist es zu lieben. Dies bedeutet Menschsein schlechthin.“

Ähnlich auch Karsten Lehmkühler: „Schon der Text von 1Mo lenkt den Blick nicht so sehr auf Eigenschaften des Menschen, sondern auf seine verschiedenen Möglichkeiten, in Beziehung zu treten… Zunächst wird deutlich, dass sich Gott selbst mit dem Menschen ein eigenes Gegenüber schafft, einen ‘Anderen’, den er ansprechen kann… Der Mensch wird als Ansprechpartner Gottes geschildert,… der dann auch Gott antworten und in die Verantwortung gezogen werden kann. Diese grundlegende Möglichkeit, der Gesprächspartner Gottes zu sein oder, anders ausgedrückt, auf eine Beziehung zu Gott hin angelegt zu sein, ist das entscheidende Element der Gottesebenbildlichkeit. Diese Beziehungsfähigkeit zeigt sich auch auf der zwischenmenschlichen Ebene… Ein Drittes kommt hinzu: Der Mensch erhält den Auftrag, in eine besondere Beziehung zur ihn umgebenden Schöpfung zu treten.“ („Der Mensch als Ebenbild Gottes“, in: Leben zur Ehre Gottes)

„Kleine Funken“ und „Bruchstücke“

Ist die persönliche Beziehung zu Gott das „entscheidende Element der Gottesebenbildlichkeit“, dann stellt sich aber auch die sehr ernste Frage, ob nach dem Sündenfall das Ebenbild noch erhalten ist. Denn mit der Sünde wurde die Beziehung der Menschen zu Gott ja zerstört oder zumindest äußerst beschädigt.

Gerade die lutherische Tradition hat daher auch diese sehr pessimistische Sicht bekräftigt. Martin Luther sah den Menschen als „zum Bilde der Gerechtigkeit, der Heiligkeit und der göttlichen Wahrheit“ geschaffen an. „Also war [!] er das Bild Gottes“, so der Reformator (De iustificatione, 1536). Das Bild Gottes schließt Sünde aus; mit dem Fall sei Gottesebenbildlichkeit daher der Sache nach verloren.

Philipp Melanchton betonte in der Apologie des Augsburger Bekenntnisses, dass „göttliche Weisheit und Gerechtigkeit, die aus Gott ist,“ den Kern der Ebenbildlichkeit ausmachen; sie bedeutet „rechte, klare Erkenntnis Gottes, rechte Furcht, rechtes Vertrauen“. Nach dem Fall besitzt der nichtwiedergeborene Mensch all dies nicht mehr, ist also auch nicht mehr Ebenbild Gottes.

Reformierte Bekenntnistexte sehen diesen Aspekt des radikalen Verlustes durchaus auch. Im Heidelberger Katechismus heißt es, dass „Gott hat den Menschen gut und nach seinem Ebenbild erschaffen [hat], das bedeutet: wahrhaft gerecht und heilig…“ (Fr. 6). Die Ebenbildlichkeit wird hier mit Gerechtigkeit und Heiligkeit gefüllt, die mit Sündenfall verloren gingen. So auch das Westminster-Bekenntnis: Gott schuf den Menschen „ausgestattet mit Erkenntnis, Gerechtigkeit und wahrer Heiligkeit, nach seinen Bilde…“ (IV,2) Und Heinrich Bullinger im Zweiten Helvetischen Bekenntnis: „Am Anfang war [!] der Mensch zum Ebenbilde Gottes geschaffen in Gerechtigkeit und wahrer Heiligkeit, gut und fehlerlos.“ (VIII,1)

Das Niederländische Bekenntnis unterstreicht ebenfalls: Gott hat den Menschen „nach seinem Bilde geschaffen, gut, gerecht und heilig und in allem durchaus vollkommen…“ Im Sündenfall verlor dieser jedoch „alle seine herrlichen Gaben, die er von Gott empfangen hatte, so dass ihm nur ganz kleine Funken derselben und Spuren geblieben sind.“ (14)

Wie sind nun aber die „kleinen Funken“ und „Spuren“ zu verstehen? Denn von der wahren, vollkommenen Heiligkeit und Gerechtigkeit ist ja nichts übriggeblieben; der gefallene Mensch ist geistlich tot. Warum wird der Menschen dann aber auch nach dem Fall als Ebenbild Gottes bezeichnet (s. z.B. Gen 9,6, Jak 3,9)?

„Verworrenes, Verstümmeltes und Beflecktes“

Johannes Calvin hat zu diesen Fragen einmal wieder viel Erhellendes in seiner Institutio (1559) geschrieben. Bei ihm wird gut deutlich, dass die reformierte Tradition das Ebenbild differenziert sieht.

Das „Licht des Glaubens und die Gerechtigkeit“ gingen ganz mit dem Fall ganz verloren; dies ist der Totalverlust, den die Lutheraner meinen. Aber z.B. die Vernunft wurde „nicht ganz und gar zerstört“, auch vom Willen und anderen „natürlichen Gabe“ sind immer noch „ungestaltige Bruchstücke sichtbar“ (II,2,12). Die Position des Augustinus, „nach welcher im Menschen die natürlichen Gaben  [Verstand, Wille usw.] durch die Sünde verderbt, die übernatürlichen Gaben [Gerechtigkeit, Heiligkeit, wahre Gotteserkenntnis] ganz und gar ausgetilgt sind, findet meine Zustimmung“, so Calvin. Wenn er also von „gewisse[n] übriggebliebene[n] Kennzeichen des Ebenbildes Gottes, die das ganze Menschengeschlecht von den anderen Kreaturen abheben“ (II,2,17), spricht, dann meint er damit die natürlichen Gaben, die uns weiterhin von den Tieren unterscheiden.

Laut Calvin ist daher zuzugeben: Das Ebenbild ist im Menschen „nicht ganz erloschen oder zerstört worden“; denn er hat immer noch eine „Vorzugsstellung“ gegenüber den Tieren. Es ist aber doch so verdorben, „dass alles Übrigbleibende nur grausige Entstellung war“. „Im Anfang“ war „das Ebenbild Gottes in der Erleuchtung des Geistes, in der Aufrichtigkeit des Herzens und in der Vollkommenheit des ganzen Menschen zu erblicken“. Das Ebenbild Gottes bedeutete „die ursprünglich hervorragende Stellung der menschlichen Natur, die in Adam vor dem Fall erstrahlte“. Sie wurde „danach aber derart verderbt, ja schier zerstört“, so dass „aus dem Untergang nur noch Verworrenes, Verstümmeltes und Beflecktes übriggeblieben ist.“ (I,15,3–4)

Konzentrieren sich die Lutheraner traditionell auf das Ebenbild im engeren Sinn der ursprünglichen Gerechtigkeit, so betrachten die Reformierten auch das Ebenbild im weiteren Sinn, das – wenn auch arg beschädigt – nicht total zerstört wurde. In seinem Genesiskommentar bemerkt Calvin zu Gen 9,6, dass „gewisse Reste“ des Ebenbildes geblieben sind, weshalb dem Menschen auch nach dem Fall „keine geringe Würde“ zukommt.

„Das vollkommenste Ebenbild Gottes“

An neutestamentlichen Stellen wie 2 Kor 4,4 oder Kol 1,15 anknüpfend betont der Reformator außerdem: „Christus ist das vollkommenste Ebenbild Gottes“. Tatsächlich werden die bekannten Verse aus Ps 8,6–9 (der Mensch „wenig niedriger gemacht als Gott“) in Hbr 2,5–7 in erster Linie auf Jesus bezogen; er ist der eigentliche Inbegriff des Ebenbild Gottes, der Mensch schlechthin. Deshalb folgen Christen dem Ebenbild und Vorbild Gottes und Christi (Eph 4,24; Kol 3,10).

Daher, so Calvin weiter, sollen wir Jesus „gleichgestaltet werden und dadurch erneuert werden, dass wir in wahrer Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Reinheit und Erkenntnis das Ebenbild Gottes tragen.“ „Zweck der Wiedergeburt“ ist deshalb, „dass uns Christus zum Ebenbild Gottes erneuere.“ Das Ebenbild in seiner Gesamtheit wird bei den Erretteten „teilweise wieder sichtbar“, seinen „vollen Glanz“ werden wir aber erst wieder im Himmel sehen (I,15,4).

Interessant ist, dass das Ebenbild bei Calvin in der Ethik auch an anderer Stelle auftaucht. Bei der Nächstenliebe sollen wir „unser Augenmerk bei allen Menschen auf das Ebenbild Gottes“ richten, „dem wir alle Ehre und Liebe zu erweisen schuldig sind.“ „Was für ein Mensch dir nun auch entgegentreten mag“, es ist „das Ebenbild Gottes“. Wir sollen „nicht die Bosheit der Menschen in Betracht ziehen, sondern in ihnen auf das Ebenbild Gottes achten“. Hier nennt Calvin sogar die „Schönheit und Würde“ des Menschen. Gar so düster wie oft gemeint ist das Menschbild also gar nicht (III,7,6).

Helmut Burkhardt bezeichnet in seiner Ethik (Band I) die „Lehre vom Verlust der Gottesebenbildlichkeit“ als „unhaltbar“; allerdings setzt er sich mit den reformatorischen Texten so gut wie gar nicht auseinander. Dies Urteil fällt er auch über den z.B. von den Reformierten behaupteten nur teilweisen Verlust der Ebenbildlichkeit. Hier ist daher zurückzufragen: Wenn keinerlei Verlust der Ebenbildlichkeit vorliegen soll, was fehlt dem Menschen dann noch am vollkommenen Ebenbild und konkret der Jesusähnlichkeit?

Sinnvoller scheint mir zu sein, an einem engeren und weiteren Ebenbildsbegriff festzuhalten: Die Gottesähnlichkeit im Sinn der vollkommenen Gerechtigkeit und Reinheit ist verloren; mit dem Fokus auf die Erlösung stellt die lutherische Tradition gerade hierauf ab. Wir bleiben aber vernünftige und moralische Wesen; der Fall hat die Menschen nicht zu Tieren werden lassen. Jeder Mensch orientiert sicher daher an Normen, hat ein Gewissen und drückt Freiheit und Kreativität aus. Auch das Sündigen selbst ist ja nur von Ebenbildern möglich, die sich gegen Gott wenden und selbst Gott sein wollen.

Der Sünder ist gefallener Mensch und drückt auch darin noch seine Ebenbildlichkeit aus. H.G. Pöhlmann schreibt: „Auch der natürliche Mensch ist ein Spiegel Gottes, wenn auch ein angelaufener, trüber, undeutlicher Spiegel. Er spiegelt Gott wider in seiner Dialogfähigkeit, in seiner Fähigkeit, mit seinem Mitmenschen und mit Gott zu reden.“ (Abriß der Dogmatik)

Mit Calvin gesprochen ist nur noch ein beflecktes Ebenbild übrig, das im Fall der Christen nach und nach etwas gereinigt wird und so wenigstens etwas besser wieder zum Vorschein kommt.

Geringe Anfänge

Heute wird von Christen gerne auf die Ebenbildlichkeit Bezug genommen, um gleichsam das negative Bild vom Menschen als Sünder wieder in die Balance zu bringen. Oft wird sie fast schon als Synonym der Menschenwürde angesehen. Aus der Gottesähnlichkeit wird abgeleitet, dass jeder Mensch in den Augen Gottes einzigartig und „wertvoll“ ist – „so wie ich bin“. Natürlich ist daran viel Wahres, denn als Geschöpfe Gottes haben wir großen Wert. Doch hier droht die Ebenbildlichkeit zu etwas Makellosem zu werden, zu etwas Reinem und Vollkommenem. Gerne schwächt man nun das Sündersein des Menschen durch die Ebenbildlichkeit gleichsam ab – und das, obwohl sie in der Theologiegeschichte eng aufeinander bezogen waren.

Du bist wertvoll; sprich dir den großen Selbstwert zu, den du hast – so klingt nun das neue Evangelium für jedermann. Wie tief, d.h. von welche Höhen wir gefallen sind und welch kümmerliche Reste von diesem Ebenbild nur noch übrig sind, hört man selten. Ethischer Optimismus ist die Folge: Die Schwächen und Unvollkommenheiten, die wir noch haben, lassen sich mit guten Willen, guten Unterstützern und guten Engagement auch noch überwinden.

Der Heidelberger Katechismus schlug hier, ganz wie Calvin, eine andere Note an. Zu Beginn von Teil III über das christliche Leben und die Ethik heißt es, dass Christus  uns „durch seinen Heiligen Geist erneuert zu seinem Ebenbild“ (Fr. 86). Hier ist Gott selbst der Handelnde. Am Ende der Erklärung der Gebote betont Autor Ursinus, dass auch wir uns „unaufhörlich bemühen und Gott um die Gnade des Heiligen Geistes bitten [sollen], dass wir je länger, je mehr zum Ebenbild Gottes erneuert werden“. Die Vollkommenheit werden wir jedoch erst „nach diesem Leben“ erreichen (Fr. 115).

Äußerst nüchtern auch die vorige Frage 114: Dort wird festgehalten, dass „selbst die frömmsten Menschen in diesem Leben über einen geringen Anfang dieses Gehorsams [gegenüber den Geboten Gottes] nicht hinaus“ kommen. Nur ein geringer Anfang – eine Killerantwort für jeden christlichen Perfektionismus! Das heißt auch: von der Erneuerung in das vollkommene Bild Christi werden ebenfalls nur geringe Anfänge zu sehen sein.

Christus, der Sohn Gottes, ist der vollkommene Mensch, der wir sein sollen; und der Geist Gottes in uns erneuert uns zu diesem Menschen. Wir sind aufgerufen, uns nach dem erneuerten Ebenbild auszustrecken und danach zu sehnen. Wer allen „So wie du bist, bist du OK!“ zuruft, nimmt diesem Sehnen den Antrieb. Wir sollen nicht unsere kümmerlichen Reste und geringen Anfänge „annehmen“. Ein fast ausradiertes Ebenbild ist unser Grundproblem und nicht ein „gebrochener Selbstwert“.