Und noch einmal: „Urteil Todesstrafe“

Und noch einmal: „Urteil Todesstrafe“

„In den USA, China und in vielen arabischen Staaten gibt es bis heute die Todesstrafe. Dürfen staatliche Gerichte einen Menschen zum Tode verurteilen, um ihn für seine Tat zu bestrafen?“ So lautete der Begleittext zur 3Sat-Sendung in der Reihe „Scobel“ am 14. August. Gastgeber Gert Scobel diskutierte darin mit drei Gesprächspartnern über die Todesstrafe.

Die obige Frage wurde nirgends in der Sendung beantwortet, denn eine Antwort war als schon gegeben vorausgesetzt: Natürlich dürfen Gerichte dies nicht! Alle drei Gäste – die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh (Autorin von Jeder kann zum Mörder werden), der Jurist und Rechtsphilosoph Klaus Günther und der aus dem Iran stammende Kazem Hashemi (Autor von Todesstrafe: Auge um Auge) – waren sich in ihrer Ablehnung jeder Todesstrafe wie selbstverständlich einig. Was auch sonst.

Moderator Scobel machte ebenfalls aus seinem Standpunkt keinerlei Hehl. Die Verwerfung von Hinrichtungen ist Zugangsbedingung zu jedem öffentlichen Diskurs in den Medien. Was nun gefordert wird, ist der Boykott von Staaten, die die Todesstrafe noch praktizieren. Scobel selbst bemerkte eingangs sehr kritisch, Deutschland betreibt „munter Handel“ mit Ländern, die die Todesstrafe praktizieren „und ich meine nicht nur Texas und China“.

Über die Todesstrafe im eigentlichen Sinne, ihr Recht und Unrecht, wird so gut wie gar nicht mehr diskutiert. Auch in dieser Sendung ging es im Wesentlichen um Hintergründe und Zusammenhänge. So brauchten sich Argumente auch nicht in einer wirklich kritischen Debatte zu bewähren.

Ein wichtiges und tatsächlich starkes Argument gegen die Todesstrafe präsentierte Scobel gleich in der Anmoderation. Es wurde dann leider nicht mehr aufgegriffen, geschweige denn hinterfragt oder qualifiziert. Scobel knüpfte an den aufgedeckten Fehlurteilen an (Thema der Sendung zuvor). Meist wird auch in der Justiz, so Scobel, an die Sicherheit von forensischen, wissenschaftlichen Methoden geglaubt. Man habe sich an Sicherheit in der Wissenschaft gewöhnt – fälschlicherweise. Der Moderator: „In Wahrheit stellen Wissenschaftler nur Hypothesen auf“, die sie dann kritisieren und versuchen zu Fall zu bringen; der Begriff „Falsifikation“ fällt.  Scobel zieht folgenden Schluss: „Wenn aber unser bestes Wissen endlich und prinzipiell fehlbar bleibt, begehen wir dann nicht einen fatalen Irrtum, wenn wir aufgrund eines solches Wissen ein Todesurteil vollstrecken, das unumkehrbar und endgültig ist?“

Dies ist, wie gesagt, ein wirklich nicht dummer Gedanke, der hätte näher analysiert werden sollen, was leider nicht geschah. Um des Arguments willen lassen wir diesen wissenschaftstheoretischen Ansatz a la Karl Popper einmal stehen: ja, Wissenschaftler formulieren nur Hypothesen; ja, menschliches Wissen ist immer mit Fehlern behaftet; ja, unsere Erkenntnisse bleiben kritisierbar. Daraus folgt, dass die angesprochene Sicherheit nicht absolut, sondern nur relativ ist. Die Sicherheit ist jedoch für sehr viele Alltagszwecke groß genug, dass man es z.B. wagt, in Maschinen wie Verkehrsflugzeuge zu steigen, die einen in 10km Höhe tragen und man mit 150km/h an der Leitplanke entlang rast.

Aus der prinzipiellen Fehlbarkeit sollte man daher keinesfalls zu viel ableiten. Schließlich ist es sicher, dass die 3Sat-Sendung pünktlich ausgestrahlt wird, dass die Tagesschau um acht beginnt und dass auch morgen Strom aus der Steckdose kommt. All diese Erwartungen ruhen auf fehlbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen. Doch natürlich richten wir unser Leben auf solch ‘unsicherer’ Grundlage ein.

Diese relative Unsicherheit aufgrund theoretischer Erwägungen hindert uns allermeist nicht am Handeln im Alltag. Und Ähnliches gilt auch für die Justiz, wo die Unsicherheit naturgemäß natürlich etwas größer ist.  Im durchtechnisierten Leben wird ein gewisses Restrisiko des Versagen und der Fehlbarkeit in Kauf genommen – genauso in der Rechtsprechung. Umgekehrt könnte man das scobelsche Argument ja auch gegen jede Verurteilung drehen: Wie können wir überhaupt irgendeinen Menschen bestrafen, wenn Richter fehlbar bleiben? Aber dieses Risiko wird um höherer Gründe wegen in Kauf genommen.

Nun ist die Spitze des Arguments natürlich, dass die Todesstrafe nicht mehr korrigierbar ist. Bei einem Fehlurteil kann der Hingerichtete nicht mehr zum Leben erweckt werden.  Doch nehmen wir einmal den Fall eines Mörders, der in zahlreichen Ländern für mehrere Jahrzehnte ins Gefängnis wandern kann.  Das physische Leben wird ihm nicht genommen, aber jedes selbstbestimmte Leben in Freiheit wird womöglich tatsächlich bis zum Lebensende zerstört.  Der Staat nimmt nicht mehr das Leben, aber er vernichtet immer noch die bürgerliche Existenz.  Nun kann in Ländern ohne Todesstrafe so jemand noch im Nachhinein freigesprochen und rehabilitiert werden, und sicher gibt es dann eine finanzielle Wiedergutmachung. Doch das Leben bleibt dennoch ruiniert, denn es kann eben nicht zurückgeholt werden.

Prinzipiell fehlbares Wissen hindert in Europa also nicht daran, das Risiko einzugehen, unter mehr oder weniger seltenen Umständen das Leben von Menschen im bürgerlichen Sinne zu zerstören. Ja, in Europa kann ein Rehabilitierter sagen: „Ich lebe wenigstens noch. Mein Körper wurde nicht zerstört.“ Vieles andere aber vielleicht schon (Familie, wirtschaftliche Existenz, Psyche usw.). Die Todesstrafe ist unumkehrbar, aber ihre Gegner sollten nicht so tun, als ob der Strafvollzug im Gefängnis sich wirklich so radikal davon unterscheiden würde. In beiden Fällen sagt der Staat durch seine Gerichte: Womöglich irren wir uns, aber wir strafen dich und nehmen dir… Freiheit und selbstbestimmtes Leben. Die Todesstrafe geht einfach noch einen Schritt weiter und nimmt auch physisches Leben. Der Eingriff in das Leben des Einzelnen ist dennoch in beiden Fällen massiv.

Im Gespräch selbst fragte Scobel bald nach dem Zweck von Strafe überhaupt. Günther nannte drei Dinge: Abschreckung; die Verbrechensvorbeugung durch Resozialisierung/Erziehung und durch das aus dem Verkehr Ziehen (eine gewisse Zeit kann ein Straftäter keine Verbrechen begehen, weil er im Gefängnis sitzt); drittens die Bekräftigung von gesellschaftlichen Normen. Ähnlich drückte sich übrigens auch Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, im Interview „Es gibt kein Strafrecht der Moral“ (Der Spiegel, 32/2014) aus:  „Beides [Vergeltung bzw. Satisfaktion] sind Funktionen des Strafrechts, die aber nicht im Vordergrund stehen. Stattdessen geht es darum, die Gesellschaft vor Wiederholungen zu schützen; und darum, klarzustellen, dass gesetzliche Verbote nicht unverbindliche Vorschläge sind, sondern Essentialia des Zusammenlebens, und dass sie durchgesetzt werden.“

Auch hier wird die Vorbeugung genannt, und die Abschreckung ist bei Fischer im zweiten Punkt (Durchsetzung von Verboten) mitgegeben. Interessant ist nun, dass Abschreckung nicht an eine konkrete Straftat gebunden sein muss; das Gleiche gilt für die Vorbeugung und die Durchsetzung von Normen. All dies kann auf ganz verschiedene Weise geschehen (man kann auch durch die Bestrafung Unschuldiger abschrecken und Noch-nicht-Schuldige wegsperren). Und die Bekräftigung von Normen und Verboten befindet sich auf einer Art Meta-Ebene: Natürlich haben Strafen diese Funktion, aber darin erschöpft sich nicht das Wesen der Strafe.

Denn um Normen durchzusetzen und das Zusammenleben möglich zu machen, muss nicht unbedingt ein bestimmtes Vergehen in bestimmter Weise bestraft werden. Wie die Abschreckung, immer auch ein Element von Strafe, so gilt auch hier, dass ohne das Moment der gerechten Vergeltung dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet ist.  Fischer schiebt die Vergeltung aber nun an den Rand, und auch im 3Sat-Talk taucht sie nirgendwo auf, wird also mehr oder weniger ignoriert. Sie ist aber (wie auch C.S. Lewis betonte) der einzige Grundsatz, durch den sich die rechtsstaatliche Todesstrafe rechtfertigen lässt. Ohne gerechte Vergeltung keine zu rechtfertigende und damit gerechte Todesstrafe. Fehlt der Gedanke der gerechten Vergeltung (oder wird er zur Marginalie), erübrigt sich in Demokratien jede Diskussion über die Todesstrafe.

Wo wir inzwischen gelandet sind, macht folgendes Wortspiel deutlich: Man verbinde den ja wohl wichtigsten Begriff der Rechtssprache, die Gerechtigkeit bzw. dessen Adjektiv, mit den genannten Zwecken von Strafe. Gerechte Abschreckung – gibt es nicht (denn wo wäre das ge-rechte Maß?); gerechte Vorbeugung – gibt es auch nicht (denn nie ist genug vorgebeugt); es gibt auch keine gerechte Bekräftigung von Normen und Verboten beim Strafen, denn wieder ist zu fragen: wo sollte die Grenze sein?  (Gerechte Normen selbst gibt es natürlich.) Es gibt einzig gerechte Vergeltung, denn nur hier kann gesagt werden: Es ist ausreichend gestraft, denn der Vergeltung ist voll Genüge getan.

Die Todesstrafe hat im Diskurs keine Chance mehr. Wenn Scobel dann „Gibt es Gründe für die Todesstrafe?“ fragte, so überrascht nicht, dass diese Gründe von Günther nicht genannt wurden. Wie so oft in der Sendung fiel das Stichwort „magisches Denken“. Auch der „Sündenbockmechanismus“ wurde genannt; und die falsche Vorstellung, die Welt würde durch die Beseitigung eines Verbrechers ärmer an Bösem. Natürlich ist das naiv, aber wurde die Todesstrafe in der Vergangenheit tatsächlich so begründet? Vielleicht irgendwann und irgendwo. Doch dass mit der Todesstrafe irrige Gedanken einhergingen, besagt noch nicht viel. Wirklich widerlegt ist die Todesstrafe erst, wenn das stärkste Argument für sie gefallen ist. Dies kam, wie gesagt, aber gar nicht zur Sprache, sondern wurde eher untergeschoben (Ablehnung der Vergeltung).

So überraschte es auch nicht, dass in der Sendung im Hinblick auf öffentliche Hinrichtungen pauschal von  „Dehumanisierung“, dem Absprechen des Menschseins, ja von „Dämonisierung“ des Opfers die Rede war. Die Todesstrafe sei mit einem „moralischen Rigorismus“ verbunden, wonach keine Besserung des Menschen zu erwarten ist. Diese Haltung habe etwas Totales.  Sie ermögliche es Menschen, den  Sadisten rauszulassen und sei ein Kennzeichen von moralischer Überheblichkeit.

Wie nicht anders zu erwarten, bekamen die USA (in denen es ja längst nicht in allen Bundesstaaten die Todesstrafe gibt) ihr Fett weg: „Gibt’s da so viele traumatisierte Menschen, dass die solche Vorstellungen entwickeln müssen?“ Günther sprach von „archaischen Ängste“ dort und spekulierte über gesellschaftliche Ursachen wie „krasse soziale Ungleichheit“. „Kommentar zu den USA noch?“ Man hätte sich bei so viel europäischer verständnisvoller Hochnäsigkeit einen amerikanischen Vertreter gewünscht…

Natürlich gab es in der Runde so manchen Lichtblick. Nahlah Saimeh stellte viele guten Gedanken vor, die man auch in Christa Meves Büchern (wie Geheimnis Gehirn) finden kann. Die Psychiaterin sieht Ursachen für impulsive Straftaten, und Mord ist dies sehr häufig, vor allem in der frühkindlicher Entwicklung, konkret in der mangelnden Bindung an die Mutter. Daher haben „dissozial“ Aufgewachsene „bestimmte Ressourcen nicht“; ihr Verhaltensrepertoire ist zu eng, so dass sie in Konfliktfälle mitunter zu falsch und gewaltsam reagieren.

Saimeh machte insgesamt recht interessante Ausführungen, die auch durchaus  gegen herkömmliche Strafbegründungen gewendet werden können. Dissoziale Menschen, so die Psychiaterin, sind nachgewiesenermaßen durch Strafe kaum belehrbar. Damit wird ein negatives Licht auf das heute sehr wichtige Ziel der Erziehung im Strafvollzug geworfen.

Frühkindliche Prägung, Bindungsmangel usw. – Scobel  dazu: „Menschen können daraus ein Argument gegen Strafe überhaupt machen. Ist Strafe überhaupt legitim?“ Gegen Ende noch einmal: „Macht Strafe überhaupt einen Sinn?“ Kann jemand mit Hinweis auf seine Kindheit nicht behaupten: „Ich musste in der U-Bahn einfach zuschlagen…“ (Auf dieser Linie argumentierte übrigens konsequent der berühmte Anwalt Clarence Darrow im Prozess gegen die jugendlichen Mörder Leopold und Loeb 1924, die er so vor der Hinrichtung bewahrte; die skrupellosen Verbrecher wurden bei ihm fast schon zu den eigentlichen Opfern. Darrow war dann im berühmten „Affen-Prozess“ ein Jahr später der Gegner von W.J. Bryan.)

Dies wurde natürlich zurückgewiesen und auf die grundlegende Verantwortung von Menschen für ihre Taten verweisen.  Insgesamt wurde aber nicht klar, was die zum Teil richtigen Thesen Saimeh mit der Verwerfung der Todesstrafe zu tun haben sollen.  Sie stellt in ihrem Buch dar, dass jeder das Potential zum Verbrecher besitzt, was Christen nicht überrascht. Es gibt nicht den Verbrecher-Typus, den man nur finden und dann gegebenenfalls hinrichten muss. „Der Mensch, den wir hinrichten, könnten wir selbst sein“. Richtig. Das macht die Todesstrafe nur umso ernster, aber nicht hinfällig.

Scobel gab an einer Stelle selbst zu erkennen, dass die Kluft zwischen den Demokratien, die die Todesstrafe ablehnen, und denjenigen, sie sie praktizieren, vielleicht doch nicht so groß ist. Er nannte die Theorien des Gesellschaftsvertrag der Aufklärer und dass auch heute noch in ihren Spuren die Bürger übereinkommen:  „die richtig Bösen werden ausgeschlossen“. Diejenigen, die nicht mehr rehabilitiert und nicht mehr erzogen werden können. Die einen wollen Kinderschänder für immer wegsperren, die anderen führen Hinrichtungen für Kapitalverbrechen durch.

Der moderne Strafvollzug hat sich von dem Grundsatz der gerechten Vergeltung weitgehend verabschiedet. Was bleibt, ist die Suche nach den richtig Bösen. Lewis hat eindrücklich gezeigt, dass dies inhuman ist. Die Bibel bekräftigt dagegen: Jeder ist böse und kann unter Umständen (so ja auch Saimeh in Jeder kann zum Mörder werden) ein Gewaltverbrechen begehen. Der Mörder ist als solcher nicht böser, aber eine besonders böse Tat verdient besondere Vergeltung. Ist man an diesem ganz und gar nicht inhumanen Punkt angelangt, ließe sich auch die Todesstrafe rechtfertigen.

Ausführlicher zur Todesstrafe im Beitrag “Von der Aktualität eines Un-Themas“.