Ein Land in Blau und Gelb

Ein Land in Blau und Gelb

Der Krieg in der Ukraine geht nun schon in den vierten Monat. Es wundert kaum, dass die Sympathien der allermeisten Litauer ganz auf der Seite des angegriffenen Landes liegen. Weite Teile der Ukraine gehörten schließlich einst zum Großfürstentum Litauen. Aber viel wichtiger dürfte sein, dass man mit den Opfern der Aggression Russlands mitfühlt. 1940 und dann wieder 1944/45 wurde Litauen von dem Imperium im Osten gegen seine Willen einverleibt. Der Partisanenkampf nach dem II Weltkrieg hatte keine Aussicht auf Erfolg, und dass man sich 1940 ohne jede Gegenwehr besetzen ließ, wird immer noch als Schmach verstanden. Den Russen die Stirn bieten – das tut nun die Ukraine, und im Herzen ganz dabei auch Litauen. Von Freiwilligen aus Litauen an der Front im Donbass ist zwar nichts zu hören, aber dennoch ist der Konflikt in der Ukraine eine Art Stellvertreterkrieg des Herzens zwischen Litauen und Russland.

In der Hauptstadt Vilnius ist daher das Blau und Geld der ukrainischen Flagge geradezu allgegenwärtig (s.u. die Fotostrecke). Manchmal könnte man den Eindruck gewinnen, dass man sich in der Ukraine befindet. Von zahlreichen Balkonen und Fenstern hängt die Flagge des slawischen Bruderlandes, der Fernsehturm und andere Objekte erstrahlen in den beiden Farben, so gut wie alle öffentlichen Gebäude haben nun neben der litauischen Trikolore (und meist der Europa-Fahne) die Flagge der Ukraine gehisst. Auf dem Subačius-Hügel von Vilnius (s.o. Foto), wo man einen herrlichen Blick über die Altstadt hat, weht einzig eine riesige ukrainische Fahne. So gut wie niemanden stört es, dass gerade mit dem Hissen an Verwaltungsgebäuden das litauische Flaggengesetz verletzt wird. Neben der Nationalfahne dürfen die Flaggen anderer Staaten nur unter ganz bestimmten, recht engen Umständen aufgezogen werden. Der strenge gesetzliche Schutz von Gelb-Grün-Rot wird also übergangen. Der rechtliche Nihilismus, der in der Pandemie schon um sich griff, findet hier seine Fortsetzung. (Am 4. Juni, dem Tag des „Baltic Pride“-Marsches, hing am Wirtschaftsministerium auch die Regenbogenflagge der LGBTQ-Bewegung – schlicht und einfach illegal.)

Die Regierung Litauens hat sich ganz dem Slogan „Gemeinsam [mit der Ukraine] bis zum Sieg“ verschrieben und gibt den Takt vor. Auch im Seimas, dem Parlament, hängen vom Sitz der Vorsitzenden nun zwei Flaggen. Zahlreiche Firmen und Organisationen haben ihr Logo in Blau und Gelb eingefärbt oder zeigen im Internet daneben die ukrainische Flagge. Die private Organisation „Blue/Yellow“ sammelt seit vielen Jahren Spenden für die Unterstützung der ukrainischen Einheiten im Osten des Landes (wobei nicht Waffen, sondern Ausrüstung wie Helme, Schutzwesten oder Drohnen gekauft werden). Ihre „Schicke Geld zum Kämpfen“-Plakate sind nun an jeder Ecke zu sehen. Die Illustration eines Mannes mit Panzerfaust in Form eines Geldscheines macht deutlich, worum es geht, nämlich den bewaffneten Kampf. Gründer des Vereins ist der Schwede Jonas Öhman, der einst lutherischer Pastor werden wollte, mit dem Glauben aber schon lange nichts mehr am Hut hat. Auf seinem Portrait-Foto auf der „Blue/Yellow“-Seite hat Öhman als einziger Rot und Schwarz unter den Augen – die Farben des „Rechten Sektors“ in der Ukraine, des paramilitärischen Zusammenschlusses radikaler nationalistischer Organisationen seit dem Euro-Maidan 2014. Das ist sicher kein Zufall, aber natürlich stört sich in Litauen auch daran niemand, im Gegenteil.

Flüchtlinge erster und dritter Klasse

Schon Ende Februar war die Welle der Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge aus der Ukraine groß. Zahlreiche Organisationen wie z.B. „Stark zusammen“ kümmern sich um die Vermittlung von Hilfe. Die Unterbringung bei Familien lief von Anfang an reibungslos. In der reformierten Gemeinde in Kaunas kamen ein gutes Dutzend Ukrainerinnen mit Kindern unter. Auf dem Höhepunkt der Fluchtwelle waren etwa 70.000 Ukrainer im Land registriert. Mittlerweile hat die Rückreisewelle eingesetzt, gut 50.000 Flüchtlinge werden noch gezählt.

Von staatlicher Seite wurde von Anfang an viel für die Flüchtlinge getan. Der Nahverkehr ist für sie kostenlos, auch viele Firmen bieten Nachlässe an. Mit Russischkenntnissen können sich Ukrainer auch ohne große Probleme im Arbeitsmarkt integrieren. Manche Privilegien stoßen aber auch auf gewisses Unverständnis:  Automobile aus der Ukraine dürfen auch ohne Haftpflichtversicherung und TÜV weiter durch die Gegend fahren. Und die Lebensmittelpakete sind von der Spitzenklasse. Noch bröckelt die Solidarität nicht, aber es ist auch in Litauen nicht zu übersehen, dass unter den Geflohenen nicht wenige Wohlhabende sind, die die staatlich finanzierten Leckereien auch selbst bezahlen könnten.

Die einen werden mit Kusshand genommen, aber wehe man kommt aus dem von den Taliban geschundenen Afghanistan. Migranten/Flüchtlinge aus den Nahen und Mittleren Osten haben es in Litauen seit Jahren sehr schwer. Viele werden weiterhin an der Grenze zu Belarus „zurückgeschoben“. Die meist muslimischen Flüchtlinge leben bis heute wie in Internierungslagern. Um sie kümmert sich die eine oder andere kirchliche Einrichtung, aber ansonsten sind sie Flüchtlinge zweiter oder gar dritter Klasse.

Im öffentlichen Raum und den Leitmedien bestimmt die Rhetorik des Sieges der Ukraine den Ton. Dass man mit Putin&Co nicht reden kann (und darf), ist Dogma. Mit Polen und Briten bilden die Balten die Hardliner-Fraktion in Europa in der Haltung zu Russland. Scharfe Kritik an den Regierungen von Frankreich und Deutschland ist an der Tagesordnung. „Deutschland zittert vor Angst“ hieß es spöttisch in einer Überschrift des katholischen Portals „bernardinai.lt“. Andere haben das ach so feige Westeuropa schon komplett abgeschrieben. Gibt es in Deutschland noch Debatten, so ist in Litauen klar: einen Sieg-Frieden schaffen mit immer mehr Waffen.

Einen großen Einfluss üben auch sog. Influencer aus wie nicht zuletzt Andrius Tapinas. Der Journalist und Gründer von „Laisvės TV“ (Freiheits-TV) hat schon in der Vergangenheit so manche öffentlichkeitswirksame Aktion gestartet. Während der Pandemie propagierte er lautstark das Impfen (und verhöhnte alle Impfgegner) und gehört auch nun zu den Trommlern für Waffenlieferungen und den totalen Boykott Russlands. Ende Mai startete er eine Crowdfunding-Aktion für eine türkische Bayraktar-Kampfdrohne für die Ukraine. Innerhalb weniger Tage kamen tatsächlich über 5 Mio Euro zusammen. Die Drohnenstory brachte Tapinas in die internationalen Medien wie CNN, Al Jazeera usw. Die litauische Post wird der Aktion eine eigene Briefmarke widmen. Der Stolz über das eigene Engagement kennt fast keine Grenzen. Nur dumm, dass die Türkei nun verkündet hat, dass sie die Drohne der Ukraine fast geschenkt abgibt. Was macht Tapinas nun mit 3,5 Mio Spendengeldern?

Auf in den Kampf!

Ob nun die Regierung, die Leitmedien oder Tapinas&Co – das öffentliche Narrativ kann man nur als bellizistisch bezeichnen. Schon Anfang März machte Ex-Präsidentin Grybauskaitė von sich reden, als sie auf „Facebook“ schrieb: Wenn ein Krieg Russlands mit dem Westen schon unvermeidlich ist, dann lasst ihn uns auch führen! Diese „wenn-schon-dann-richtig“-Position bekräftigte sie noch einmal Ende April bei einer Fachkonferenz in Vilnius. Echten Widerspruch hat sie eigentlich von keiner Seite gehört. Von Deeskalation ist also in Litauen keine Rede, eher im Gegenteil. Verhandlungen gelten als aussichtslos, „Kompromiss“ gilt schon als Schimpfwort und Pazifismus wird gerne gepaart mit Worten wie „naiv“, „radikal“ oder „gefährlich“.

Es herrscht nun der politische Konsens, dass alle Kontakte nach Russland einzustellen sind – wirtschaftliche wie kulturelle. Und das trotz vielfacher Verflechtungen. Der Bürgermeister von Kaunas war als Unternehmer in der Lebensmittelbranche zu Vermögen und Ansehen gekommen. Sein Image eines Machers hat ihm in der zweitgrößten Stadt Litauen phantastische Wahlergebnisse eingebracht. Nun steht er am Pranger, weil er nicht alle Produktionsstandorte in Russland aufgeben will

Im Bereich der Kultur rief der Schriftstellerverband Litauens auf, den Himmel für die russische Kultur zu schließen (in Anspielung an die militärische Flugverbotszone) – ein totaler Boykott der russischen Kultur, die auf absehbare Zeit ihre Unschuld verloren hätte. Der bekannte Journalist Rimvydas Valatka, übrigens Mitglied der lutherischen Gemeinde in Vilnius, geht sogar noch weiter: in einem Beitrag für das Nachrichtenprotal „delfi“ sah er die Ursache der Aggression im russischen Volk selbst, gar nicht in Putin und seiner Clique. Die Russen hätten in ihrer Geschichte es wieder und wieder verpasst, „Menschen zu werden“.

In das gleiche Horn stieß mehrfach Vytautas Landsbergis, als erstes Staatsoberhaupt in der Zeit des Ringens um die Unabhängigkeit vor über dreißig Jahren der Politik-Patriarch Litauens. Trotz seines hohen Alters ist er in den Medien immer noch fast allgegenwärtig. Die große Mehrheit der Russen, die, glaubt man den Umfragen, Putins Politik befürworten oder sie zumindest nicht klar ablehnen, bezeichnete er mehrfach als „Zombies“ und „Menschenfresser“. Diese ganze Rhetorik ist natürlich von der eigenen, schmerzhaften Geschichte mit den Russen gespeist. Dennoch klingen solche Sätze in den Ohren eines Deutschen mehr als seltsam – es fehlt nur noch der Begriff des „Untermenschen“.

Willkommene Ablenkung

Die Regierung erklärte schon im März wegen des Krieges in der Ukraine den Ausnahmezustand. Verfassungsexperten bezweifeln allerdings, dass die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Litauen steht mit dieser radikalen Entscheidung allein in Europa da (erst Ende Mai verkündete auch Ungarn den Ausnahmezustand). Aber Widerspruch im Land selbst wird kaum lautstark geäußert, schließlich will niemand auch nur in den Verdacht geraten, nicht für die Ukraine zu sein.

Der Regierung kommt der Krieg nur recht, denn unter normalen Umständen würde sich Unmut in der Bevölkerung regen. Die Inflation ist mit um die 20 Prozent die höchste im Euro-Raum und leert der nicht so wohlhabenden Bevölkerung das Portemonnaie. Im vergangenen Jahr war die Übersterblichkeit eine der höchsten weltweit – und dies gar nicht wegen der Corona-Toten. Auch in diesem Jahr werden schlimme Zahlen erwartet, die zumindest zeigen, wie schlecht immer noch das Gesundheitssystem aufgestellt ist. Schließlich zeichnet sich eine gerade katastrophale demographische Entwicklung ab. Die Geburtenzahl ist auf dem tiefsten Stand seit 1990, der leicht positive Trend hat sich schon wieder umgekehrt. Innerhalb von zwei Generationen wird sich die Bevölkerung Litauens durch niedrige Geburtenrate, hohe Sterbequote und Emigration wohl fast halbieren (von 3,7 Mio 1989 auf etwa 2,1 Mio in dreißig Jahren). Auch in der Familienpolitik sind keine vernünftigen Gegenmaßnahmen geplant, im Gegenteil. Der Regierung liegen viel mehr die Rechte der LGBTQ-Bewegung am Herzen. Vor der Sommerpause soll unbedingt noch ein Gesetz über eine eingetragene Lebenspartnerschaft durch das Parlament gebracht werden.

Die politischen Aussichten sind eher düster, selbst ohne Krieg im eigenen Land. Umso mehr muss es erstaunen, dass von den Kirchen Litauens in diesen schwierigen Zeiten fast gar keine eigenen Akzente gesetzt werden. Anfang März fand ein Gebet für die Ukraine auf dem Lukiskes-Platz in Vilnius statt, bei dem viele Kirchenleiter der wichtigsten Konfessionen teilnahmen.  Auch sonst man betet man viel „für die Ukraine“. In einigen Gemeinden hängt die ukrainische Flagge am Altar oder steht neben dem Kreuz. Die Katholiken diskutieren teilweise sehr kontrovers die Aussagen ihres Papstes zum Krieg, der auf überraschend viel Ablehnung stößt. Dass es auch in Russland Christen gibt, ist fast gar nicht auf dem Radar. Aktionen für Friedensgebete – Fehlanzeige.

Wo sind die Friedensstifter?

Frieden – fast schon ein Wort, dass man in Litauen derzeit besser nicht in den Mund nimmt. Man könnte sich ja dem Verdacht aussetzen, das Narrativ Putins zu befeuern. Was soll aber aus der Kirche werden, wenn sie sich nicht für Versöhnung unter verfeindeten Völkern einsetzt? Es wäre gut gewesen, wenn es vor achtzig Jahren mehr Friedensgebete gegeben hätte, Gebete gerade für die Geschwister im Land des jeweiligen Erzfeindes. Verblendet waren damals auch viele deutsche Christen. Manchmal bringen totale Niederlagen Völker zur Einsicht, aber wünschen sollten Deutsche dies wirklich niemandem. In Litauen fordern nun viele Politiker einen „K.O.-Schlag“ der Russen, was in einer Katastrohe enden könnte. Es ist nun wirklich Zeit, für ein Ruhen der Waffen zu beten.

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“Russkij vojennyj korabl, idi na chuj!” – Die obszönen Worte der ukrainischen Besatzung der Schlangeninsel zu Beginn des Krieges: “Russisches Kampfschiff ….”

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“Ruhm der Ukraine – den Helden Ruhm!” und “Wir zusammen mit der Ukraine!” am Kino “Vingis” in Vilnius

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Präsidentenpalast

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“Ukrainische Tage” Mitte Mai, Reformierter Park

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Am Seimas, dem Parlamentsgebäude

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“Schick Geld zum Kämpfen” von “Blue/Yellow”

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“Ruhm der Ukraine” an einer Zapfsäule

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Am Museum für zeitgenössische Kunst in Vilnius

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Fernsehturm in Vilnius

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“Putin, [das Tribunal] in Den Haag wartet auf dich” an der Stadtverwaltung von Vilnius

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Im Reformierten Park

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Am Wirtschaftsministerium

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Veranstaltung Pro-Lebenspartnerschaft im Mai in Vilnius, mit dabei die Flagge der Ukraine

Panevezys

Evangelische Gemeinde Panevėžys, Pastor R. Jukna

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Katholische Kirche im Stadtteil Žvėrynas, Vilnius