Kirchen sprechen mit einer Stimme gegen „Istanbul“

Kirchen sprechen mit einer Stimme gegen „Istanbul“

Die Ökumene ist in Litauen schwach ausgeprägt. Es gibt im Land bis heute keinen Rat der Kirchen und auch keine Evangelische Allianz. In der Sowjetunion arbeiteten Christen und Geistliche aus verschiedenen Kirchen oft eng zusammen. Im freien Litauen kocht dagegen jeder seit dreißig Jahren lieber sein eigenes Süppchen. Doch langsam tut sich etwas, und die Übergriffigkeit des Staates wirkt auch hier als Katalysator.

Im März kam es sogar zu einem in Litauen kirchenhistorisch bisher einmaligen Ereignis: Praktisch alle Kirchen Litauens sprachen sich unisono gegen die Ratifizierung der „Istanbul-Konvention“ im litauischen Parlament aus. Im Jahr 2018 hatte Präsidentin Grybauskaitė „Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“, so der offizielle Name des Dokuments, dem Seimas zugestellt. Erst nach einer Absegnung durch die Volksvertreter würde der schon unterzeichnete Vertrag, benannt nach dem Ort der Erstunterzeichnung im Mai vor zehn Jahren, auch in Kraft treten und verbindliche Rechtsnorm werden.

In Westeuropa ist die „Istanbul-Konvention“ in allen Staaten ratifiziert (Ausnahme Großbritannien), in Zentraleuropa steht die Zustimmung der Parlamente in Tschechien, der Slowakei sowie in Ungarn, Bulgarien, Lettland und eben Litauen noch aus. Polen hatte schon vor Jahren das Dokument ratifiziert, kündigte aber im Juli 2020 an, dass es sich aus dem Abkommen zurückziehen werde.

Im vergangenen Frühjahr kam die öffentliche Diskussion um die „Istanbul-Konvention“ richtig in Gange. Eine der Hauptbefürworterin des Dokuments ist die litauische Europa-Abgeordnete Aušra Maldeikienė. Gerade noch rechtzeitig vor dem ersten Lockdown konnte eine von ihrem Team organisierte „pro“-Konferenz in Vilnius stattfinden. Wir von den Reformierten hatten damals mit einem katholischen Institut ein öffentliches Treffen aller wichtigen Kirchenleiter mit kritischen Vorträgen zur „Istanbul-Konvention“ organisiert; auch eine gemeinsame Resolution war geplant. Leider machte das Verbot aller Veransammlungen einen Strich durch die Rechnung und wir mussten die Veranstaltung kurzfristig abblasen.

Im Herbst kam in Litauen eine neue Regierung ans Ruder. Sie wird getragen von zwei liberalen Parteien, die einer progressiven Agenda folgen. Stärkste Kraft im Dreierbund ist die „Heimatunion“, die auch die Regierungschefin stellt. Ähnlich der deutschen CDU war dies einst eine konservative und christdemokratische Partei, doch beide Strömungen finden sich in ihr tatsächlich kaum noch wieder. So wundert es nicht, dass „Istanbul“-Fans Aufwind verspürten. Die Regierungskoalition sprach sich nämlich klar für eine zügige Ratifizierung aus.

Im Winter wurde deshalb die „Istanbul-Konvention“ in den Medien wieder breit diskutiert. Unter den Christen bildete sich eine breite Koalition, die von evangelikalen Organisationen wie dem ‘litauischen ERF’ GNC über katholische Einrichtungen, evangelische und katholische Kirchenvertreter und Laien bis zur Kleinpartei „Christliche Union“ und Christen aus der abgewählten Regierungspartei reichte. Wie aufgeheizt die Stimmung war, zeigte der Shitstorm, den Algirdas Toliatas über sich ergehen lassen musste. Der Bestsellerautor und derzeit bekannteste katholische Priester im Land hatte in einem „facebook“-Eintrag seine Sympathien für die Gegner der Ratifizierung gezeigt.

Wöchentliche Zoom-Konferenzen und heiß laufende Telefondrähte brachten ein konkretes Ergebnis: Am 9. März veröffentlichten die „traditionellen“ Kirchen (katholische, orthodoxe, lutherische und reformierte Kirche) eine Stellungnahme. Sie rufen darin die Parlamentarier auf, die Konvention nicht zu ratifizieren. Angedacht war lange ein gemeinsames Dokument aller Kirchen, das die anderen evangelischen Kirchen miteinschließt. Auch der die evangelisch-evangelikale Seite koordinierende Pfingstbischof Litauens sprach sich für ein gesamtkirchliches Dokument aus. Den von katholischen Experten formulierten Text hätte man mitunterschrieben. Dazu kam es dann doch nicht. Trotz vieler Gemeinsamkeiten scheuten die katholischen Bischöfe doch zu viel öffentliche Gemeinsamkeit und wollten oder konnten nicht über ihren Schatten springen.

Eine Woche später brachten daher die evangelischen Kirchen ihren ähnlich lautenden Aufruf heraus (s. hier). Es unterzeichneten außer den Lutheranern eigentlich alle evangelischen Kirchen bzw. ihre Leiter: Pfingstbund, Methodistische Kirche, Bund evangelischer Gemeinden, Freie Christen, „City Church“, Adventisten, mehrere unabhängige pfingstlerisch-charismatischen Gemeinde, Baptisten in und außerhalb des Bundes (die Bundesleitung war allerdings in der Frage gespalten) und unsere reformierte Kirche, die also als einzige beide Dokumente unterschrieb.

Obwohl es am Ende zwei kirchliche Texte gab, wurde dennoch viel erreicht. Denn, wie gesagt, sprachen die Kirchen des Landes so gut wie alle zu einem wichtigen Thema mit einer Stimme. Ohne Übertreibung kann dies als Durchbruch in den kirchlichen Beziehungen in Litauen bezeichnet werden, den bisher redete man nur wenig miteinander, wusste meist nur kaum etwas über die anderen oder blieb weitgehend unter Seinesgleichen oder nahestehenden Kirchen (z.B. Katholiken, Orthodoxe und Lutheraner auf der einen Seite, pfingstlerisch-charismatische Gemeinden am anderen Ende des Spektrums). Und nun telefonierte der bisher der Ökumene skeptisch gegenüber eingestellte Pfingstbischof mehrfach mit den katholischen Erzbischöfen. Und Rimas Schwager Artūras, Baptistenpastor in Kaunas und an sich strenger Ökumene-Skeptiker, spricht nun auf einmal nur lobend über die katholische Initiative in diesen Fragen. Konservative Katholiken und Evangelikale haben in sozialethischen Fragen wie der Familie ihre Übereinstimmungen entdeckt.

Das gemeinsame Wort der Kirchen in zwei Ausfertigungen verfehlte seine Wirkung nicht. Die Parlamentspräsidentin hat die Ratifizierung von der Tagesordnung genommen. Offensichtlich wollte die Regierungskoalition eine Abstimmungsniederlage vermeiden. Es bleibt abzuwarten, ob eine erneute Vorlage im Herbst erfolgen wird.

Auch beim Staatspräsidenten ist die Botschaft angekommen. Am Gründonnerstag lud Gitanas Nausėda drei Kirchenleiter zum Gespräch: Neben dem Erzbischof von Vilnius tauschten sich der lutherische Bischof und der Generalsuperintendent unserer reformierten Kirche mit ihm freundschaftlich aus. Nausėda gab zu verstehen, dass er das Anliegen der Kirchen mittrage.

„U-Boot ‘Gewalt gegen Frauen’“

Die litauischen Diskussionen um die „Istanbul-Konvention“ mögen in Deutschland seltsam erscheinen, schließlich hat die Bundesrepublik das Dokument schon lange ratifiziert. Manch einer fragt sich womöglich auch, ob man denn etwa in Litauen nicht gegen die Gewalt gegen Frauen ist. Daher stellten die beiden kirchlichen Texte eingangs klar, dass man häusliche Gewalt einhellig ablehnt. Den Kirchen nahestehende Juristen betonen ebenfalls immer wieder, dass es bisher schon genug rechtliche Mittel gibt, um Gewalttäter zur Verantwortung zu ziehen. Warum also noch eine Konvention?

In die Diskussion um die Konvention kann hier nicht eingestiegen werden (eine gute kritische Einführung bietet dieser Text der Organisation ADF International). Hier sei nur kurz auf einige problematische Aspekte hingewiesen, die den Kirchen besonders Sorgen machen.

Natürlich enthält die „Istanbul-Konvention“ auch viele Abschnitte, an denen nichts auszusetzen ist. Eingangs heißt es aber z.B., dass Beseitigung jeder Gewalt und die völlige Gleichstellung von Mann und Frau in jeder Hinsicht angestrebt werde. Solche allumfassenden und radikalen Ziele sind höchstens dann zu erreichen, wenn der Staat mit seinem Gewaltmonopol mit eben dieser Gewalt massiv eingreift und all diese bösen Erscheinungen ausmerzt. Und dies ist wieder höchstproblematisch. Um Gewalt oder andere Mißstände komplett auszurotten, braucht es sehr viel, zu viel Gewalt.

Gewalt gegen Frauen sei „der Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern, die zur Beherrschung und Diskriminierung der Frau durch den Mann und zur Verhinderung der vollständigen Gleichstellung der Frau geführt haben“. Hier wird das Ziel der vollständigen Gleichstellung in jeder Hinsicht bekräftigt und außerdem als Ursache für die Ungleichheit allein die Macht als ausschlaggebender Faktor genannt. Dies ist allein schon aus historischer Sicht zu hinterfragen und dient vor allem dieser Argumentationslinie: Wenn die Ursache in „ungleichen Machtverhältnissen“ besteht, dann muss die Lösung auch in einer korrigierenden Machtausübung liegen. Wenn der Staat aber bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen mit Macht steuern und lenken will, mache man sich auf das Schlimmste gefasst.

Wie selbst die Befürworter zugeben, geht es der Konvention in erster Linie aber nicht um die direkte Bekämpfung der Gewalt, sondern um die Prävention. In Teil III, Art. 12 heißt es, es gehe darum, „Veränderungen von sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Frauen und Männern mit dem Ziel zu bewirken, Vorurteile, Bräuche, Traditionen und alle sonstigen Vorgehensweisen, die auf der Vorstellung der Unterlegenheit der Frau oder auf Rollenzuweisungen für Frauen und Männer beruhen, zu beseitigen.“ Hier werden Kirchen natürlich hellhörig. „Traditionen“, also auch christliche, die Geschlechtern bestimmte Rolle zuweisen, seien zu „beseitigen“. Nun kann und soll man über historisch gewachsene „Rollenzuweisungen“ diskutieren, aber auch hier kann diesem Sinn nach radikalem Ausmerzen nur widersprochen werden.

In Artikel 14 wird kategorisch gefordert, die „Aufhebung von Rollenzuweisungen“ sei „in die offiziellen Lehrpläne auf allen Ebenen des Bildungssystems aufzunehmen“. Dies bedeutet, dass ein bestimmtes Geschlechterverständnis (die radikale Ablehnung jeder „Stereotypen“ wie dann aber auch die Mutterrolle der Frau) in den Schulen durchgedrückt werden soll.

Schließlich ist die Definition von „Geschlecht“ (engl. gender) umstritten. Damit werden nun „die gesellschaftlich geprägten Rollen, Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Merkmale, die eine bestimmte Gesellschaft als für Frauen und Männer angemessen ansieht“, bezeichnet. Birgit Kelle bemerkt dazu bissig, dass der Artikel 3c „eine neue Geschlechtsdefinition für alle Unterzeichner kostenlos und inklusive mitliefert, in der so banale Wörter wie Mann oder Frau oder auch nur das biologische Geschlecht überhaupt nicht mehr vorkommen“ (Noch normal? Das lässt sich gendern!) Das Verbot der Diskriminierung wegen des „sozialen Geschlecht“ macht nun auch in Europa Absurditäten möglich, die man z.B. in Nordamerika schon beobachten kann. In die Schublade „sexistische Stereotype“ kann nun so gut wie alles gesteckt werden, was die traditionelle christliche Ethik zu diesen Fragen lehrte. Kelle spricht vom „U-Boot ‘Gewalt gegen Frauen’“ und resümiert nüchtern: „All das ist unter dem Vorwand und der hübschen Fassade des Kampfes wider die Gewalt gegen Frauen stillschweigend mit beschlossen worden.“

Ja, in Deutschland ist der Zug schon abgefahren. In Litauen jedoch haben die recht schwachen Kirchen gezeigt, dass breite ökumenische Zusammenarbeit auch einen Zug unter Dampf noch stoppen kann.