Unter der Gürtellinie

Unter der Gürtellinie

„Die Maske unter der Nase tragen – das ist, als ob man die Unterhose so trägt“ – und darunter sieht man die Umrisse eines männlichen Unterleibs mit kurzem, aber klar erkennbaren Geschlechtsorgan. Auf der anderen Seite des Plakatständers gibt es, ganz geschlechstneutral, noch mal die weibliche Variante mit BH und Oberweite. Über die Wintermonate hinweg bemühte sich die Stadtverwaltung von Vilnius auf diese Weise die Bürger dazu zu bringen, doch bitteschön die Masken immer hochzuziehen: „Zeigt Verwantwortung – bedeckt mit der Maske sowohl Mund als auch Nase. STOPPEN WIR COVID-19.“

Auf Hunderten Plakaten in der ganzen Stadt prangten also viele Wochen lang primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale – wenn auch zurückhaltend und reduziert mit einfachen Linien dargestellt. Dies Beispiel aus der litauischen Hauptstadt zeigt nur zu deutlich, dass die Komunikation zwischen Staat und Bürgern in Corona-Zeiten vor die Hunde zu gehen droht und wie tief man dabei mitunter sinken kann.

Die litauische Kampagne haben sich natürlich kreative Werbeleute ausgedacht. Aber im Rathaus kam offensichtlich niemand auf den Gedanken, den Werbetext einmal genauer anzuschauen. Im Litauischen heißt es nämlich wörtlich sogar, das falsche Tragen der Maske sei „das Gleiche“ wie den Penis über den Hosenrand hängen lassen. Nun ist das Zeigen des Geschlechts in der Öffentlichkeit ein rechtliches Vergehen und unanständig allemal. Und auf diese fundamentale und immer noch für jeden verständliche Anstandsregel spielt die ganze Kampagne ja auch an. Aber es ist eben nicht „das Gleiche“, wenn man die Maske unter die Nase rutschen läßt. Maske falsch tragen kann dumm oder – im schlimmsten Fall – gefährlich sein, aber ist es auch völlig unanständig und eindeutig unmoralisch??

Unwissenheit oder Dummheit ist mit sachlichen Informationen zu bekämpfen, vor Gefahren ist konkret und präzise zu warnen. Von einem Überzeugen der Bürger kann in diesem Fall aber überhaupt keine Rede sein. Schlampige Maskenträger werden einfach moralisch herabgewürdigt, ja verunglimpft. Die Botschaft ist einfach „so etwas macht man nicht, Punkt“.

Die Vilniuser Kampagne (andere Städte Litauens haben nichts dergleichen plakatiert)  ist eine Paradebeispiel von Paternalismus: Den Bürgern werden keine Gründe geliefert, warum dies zu lassen und jenes zu tun wäre. Man geht mit ihnen ‘väterlich’ um (daher Paternalismus, von lat. pater – Vater) und erzieht sie wie Kinder: Lass das gefälligst, das gehört sich nicht! In der Familie hat diese Art der Erziehung ihren Platz, denn Kindern muss man unter Umständen solche Grenzen setzen. Erwachsene verlangen aber allermeist mehr an Begründung. Und mit erwachsenen Bürgern hat der Staat auch entsprechend umzugehen.

Das Plakat gab unten zu verstehen, dass das ordentliche Maskentragen dazu beiträgt, „Covid-19“ zu stoppen. Ein Hauch von Grund. Vor allem ging es dabei um das Tragen an der frischen Luft, was monatelang im ganzen Territorium aller Ortschaften Litauens Pflicht war. Das Kommando war klar: Draußen die Maske hoch! Ende Februar wurde der Maskenzwang außerhalb von Gebäuden aber abgeschafft, und im März hieß es von Regierungsseite bald sogar: Ja, wir wussten schon immer, dass diese Maßnahme eigentlich kaum zur Eindämmung des Virus beiträgt, also überflüssig ist. Eine Regierungsexperte sprach vom „psychologischen Zweck“.

Damit war die Katze aus dem Sack. Eine wissenschaftliche Begründung für einen allgemeinen Maskenzwang an der frischen Luft gibt es nicht (99,9% aller Ansteckungen finden in geschlossenen Räumen statt). Beim „Setzt draußen bloß ordentlich die Maske auf!“ geht es tatsächlich in erster Linie um Psychologie, um den Drill der Bürger. Und die haben ihre Lektion tatsächlich gelernt: Viele, auch gerade junge Leute, tragen draußen fleißig weiter ihre Maske, weil nun nicht wenige ‘überzeugt’ sind, dass dort überall Killerviren durch die Luft schwirren, die jederzeit durch die Nase einfallen können.

Und man kann es kaum glauben: der Bürgermeister, der all dies letztlich zu verantworten hat, gehört zur liberalen „Partei der Freiheit“. Er war einst Direktor des Litauischen Instituts für freie Marktwitschaft und bezeichnete sich sogar noch 2016 (allerdings gegenüber Gesinnungsgenossen im westlichen Ausland) als „Anarchokapitalist“. Ein Libertärer also, ein Radikaler unter den Liberalen. Jemand, der Paternalismus der üblen Sorte wie der Teufel das Weihwasser meiden müsste. Eigentlich. Aber auch in Litauen gilt: Corona bringt so manches ans Tageslicht.