Frauen an der Macht

Frauen an der Macht

Vor dreißig Jahren, 1990–91, führte mit Kazimiera Prunskienė eine Frau die erste Regierung des unabhängigen Litauens an. Beinahe wäre sie 2004 auch erste Präsidentin des Landes geworden. In der Stichwahl zum direkt von den Bürgern gewählten Staatsoberhaupt der Republik unterlag sie jedoch knapp gegen Valdas Adamkus. 2012 erlitt die Politikerin (geb. 1943) einen Schlaganfall und zog sich aus der Politik zurück. Erste Präsidentin wurde Dalia Grybauskaitė (2009–2019).

Im Frühjahr des vergangenen Jahres griff eine dritte Volkswirtschaftlerin nach dem höchsten Amt im Staat. Im ersten Wahlgang lag Ingrida Šimonytė sogar an der Spitze aller Kandidaten (im Foto o. in der Mitte). Eine deutliche Mehrheit gab zwei Wochen später dann aber doch Gitanas Nausėda, dem Chefvolkswirt der SEB in Litauen, den Vorzug.

Schon im Präsidentschaftswahlkampf hieß es wiederholt, Šimonytė mache doch eher eine bessere Figur als Regierungschefin. Als Finanzministerin in der konservativ-liberalen Regierung von Andrius Kubilius 2008–2012 erwarb sie sich tatsächlich viel Ansehen, als sie den Staatshaushalt in der Finanzkrise vor dem Kollaps bewahrte. Seit 2016 sitzt die Wirtschaftsexpertin im litauischen Parlament für die Partei „Heimatunion [o. Vaterlandsbund]– Litauische Christdemokraten“ (TS-LKD), der sie allerdings bis heute nicht als Mitglied beigetreten ist.

Im Oktober wählten die Litauer 141 Abgeordnete für den Seimas, die Volksvertretung in Vilnius. Angespornt vom relativen Erfolg bei den Präsidentschaftswahlen schickte die Heimatunion Šimonytė als Spitzenkandidatin ins Rennen. Der junge Parteichef Gabrielius Landsbergis, Enkel des Anführers der Unabhängigkeitsbewegung Vytautas Landsbergis, ließ ihr den Vortritt. Und die Rechnung ging auf: Die Partei konnte ihren Anteil der Sitze von 31 auf 50 verbessern. Präsident Nausėda beauftragte daher Šimonytė mit der Regierungsbildung.

Die Wahl der 46-jährigen Vilniuserin zur ersten Premierministerin seit Prunskienė Ende November gilt als sicher. Šimonytė steht für einen rationalen Politikstil ohne Aggressivität, Skandale und Allüren. Die ledige Politikerin pflegte über viele Jahre hinweg ihre Mutter im Haus in einer Gartensiedlung und hält an einem bescheidenen Lebensstil fest. Anders als der Name der Partei, deren Aushängeschild sie ist, kann Šimonytė jedoch nur schwer als wirklich konservativ in den Grundanschauungen bezeichnet werden. Sie ist nur formell katholisch und hat z.B. im Hinblick auf Ehe und Familie Ansichten, die von den Kirchen des Landes ganz und gar nicht geteilt werden.

Dazu passt, dass in der ganzen Heimatunion der wertkonservative und christdemokratische Flügel seit einer Weile recht schwach ist. Für welche Werte Parteichef Landsbergis steht, ist kaum auszumachen. So erinnert die Heimatunion mit Šimonytė viel eher an die deutsche CDU und Kanzlerin Merkel als an die PiS im benachbarten Polen. Dass die Union in Deutschland Orientierung für die litauischen Politiker ist, ist auch kein Geheimnis.

Durch den Schwenk der Heimatunion Richtung Mitte und Liberalität wurde auf dem eher rechten Spektrum Raum für andere Parteien frei. Doch keine schaffte es bei den Wahlen auch nur annährend über die 5-Prozent-Hürde. Die alte Zentrumspartei kam auf gut 2 Prozent, ähnlich wie die jüngst gegründete „Nationale Vereinigung“. Eine Neugründung ist außerdem die „Union der Christen“, angeführt von ehemaligen Mitgliedern der Heimatunion, aber auch anderer Parteien. Sie blieb aber knapp unter einem Prozent.

Erstaunlich gut schnitten die beiden liberalen Parteien bei der Parlamentswahl ab. Die „Liberale Bewegung“ wurde doch nicht durch den Korruptionsskandal im Jahr 2016 um den damaligen Vorsitzenden Eligijus Masiulis in die Tiefe gezogen. 2019 wurde Viktorija Čmilytė-Nielsen, seit 2015 Mitglied des Seimas, Parteivorsitzende. Die aus Šiauliai stammende Schachgroßmeisterin galt nicht als erste Wahl und hat kein charismatisches Auftreten. Aber ihr ruhiger Politikstil führte zum Erfolg. Fast schon beerdigt, konnte die Partei 13 Mandate gewinnen, nur eins weniger als 2016. Die 37-jährige Čmilytė-Nielsen, in zweiter Ehe mit einem dänischen Schachprofi verheiratet und Mutter von drei Kindern, wurde zur neuen Parlamentspräsidentin gewählt (Foto o. rechts).

Neben der 2006 gegründeten „Liberalen Bewegung“, die sich von den Liberalzentristen abgespalten hatte, trat bei der Wahl auch die gerade erst im Sommer entstandene „Partei der Freiheit“ an – und eroberte aus dem Stand elf Mandate. In der „Liberalen Bewegung“ hatte es seit Jahren gebrodelt. Nicht wenige prominente Mitglieder wie der Vilniuser Bürgermeister Remigijus Šimašius waren unzufrieden mit der Aufarbeitung der Machenschaften in der Parteispitze um Masiulis. Šimašius und die junge Politologin und Abgeordnete Aušrinė Armonaitė wurden zu den wichtigsten Gesichtern der neuen Partei, die sich betont jung, modern und progressiv gibt. Zur Vorsitzenden der „Partei der Freiheit“ wählten die Mitglieder die 31-jährige Armonaitė. Gerade in den großen Städten fuhr die neue Partei überraschend gute Ergebnisse ein.

Beide liberalen Parteien werden nun mit der Heimatunion die Regierung bilden. Gemeinsam verfügt man über 74 Sitze, drei über der nötigen absoluten Mehrheit im Seimas. Ein Koalitionsvertrag wurde Mitte November unterzeichnet. Armonaitė wird höchstwahrscheinlich Wirtschaftsministerin in der neuen Regierung. Diese wird zur Hälfte aus Frauen bestehen – ein deutlicher Umschwung nach zwei Jahren ohne jedes weibliche Mitglied in der obersten Exekutive. Mit den meisten Ministern im Alter von Anfang dreißig bis Ende vierzig wird die Regierung auch jung wie nie zuvor sein.

Dem Ex-Polizisten Saulius Skvernelis im Amt des Premiers, der schon mit entsprechendem Gummiknüppel-Jargon von sich Reden machte, wird also eine ganz andere weibliche Regierungschefin nachfolgen – und mit ihr ein weibliches Spitzentrio, das es so in Litauen noch nicht gegeben hat. (Landbergis, der vierte an der Spitze, ist im diplomatischen Dienst groß geworden und rechnet daher mit dem Amt des Außenministers.)

Innen- und wirtschaftspolitisch wird die neue Regierung sicher einen vernünftigen Kurs einschlagen: die schon seit vielen Jahren praktizierte Finanzdisziplin wird gewiss weiter gewahrt werden, Liberalisierung und Entbürokratisierung werden die Stichworte lauten. Zu hoffen bleibt auch, dass die Bewältigung der Corona-Krise weniger von Angstmacherei und Strafandrohung wie bisher geprägt sein wird.

In gesellschaftspolitischen Fragen bahnt sich aber eine Entwicklung an, die auch den recht konservativen Kirchen Litauens nun schon erste Bauchschmerzen macht. Denn der Flügel der Heimatunion, der den Namen „Konservative“ wirklich verdient, ist, wie gesagt, eher klein; und gerade die forsch auftretenden Köpfe der „Partei der Freiheit“ rennen geradezu gegen ein chistliches Verständnis von Ehe und Familie sowie künstliche Befruchtung und Abtreibung an.

Im Seimas sitzt nun für diese Partei ein bekannter LGBTQ-Aktivist, der schon im Wahlkampf durch schrilles Auftreten von sich reden machte. Wenn nicht die litauische Verfassung die Ehe als zwischen Mann und Frau definieren würde, so müsste man damit rechnen, dass die beiden liberalen Parteien zügig die „Homo-Ehe“ gesetzlich verankern lassen würden. Die Kirchenleitungen des Landes sind derzeit im Gespräch miteinander, wie auf die neuen Herausforderungen angemessen zu reagieren ist.