„Ökumenische Pionierleistung“ vor 450 Jahren

„Ökumenische Pionierleistung“ vor 450 Jahren

Ab etwa 1550 drang der evangelische Glaube auch in Litauen schnell vor. Zwar wurde das Großfürstentum gemeinsam mit Polen von einem katholischen Monarchen regiert, doch konnten Protestanten höchste Ämter im Staat übernehmen. König Sigismund II. August war dem evangelischen Glauben gegenüber erstaunlich wohlgesonnen. Johannes Calvin hatte ihm sogar seinen Hebräerkommentar gewidmet. Dennoch machte der letzte Jagellone auf dem Thron Polen-Litauens keine Anstalten, sein Land von Rom zu lösen.

Eine dominierende evangelische Kirche des ganzen Landes wie in England oder Skandinavien war in Polen-Litauen eine wenig wahrscheinliche Option. Umso wichtiger erschien die Bildung einer kräftigen und großen evangelischen Nationalkirche, die sich sowohl von den Sekten (Trinitätsleugnern) als auch von den Katholiken abgrenzte. Schließlich gab es Polen-Litauen wie auch in Frankreich und anderswo nicht die Möglichkeit des Schutzes für die Protestanten in mächtigen Fürstentümern wie im Deutschen Reich.

Eine vereinigte evangelische Kirche war die große Vision von Johannes a Lasco oder (polnisch) Jan Łaski. In den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts wirkte er in Ostfriesland und leitete als Superintendent die dortige reformierte Kirche. Nach Jahren in England  kehrte er 1557 in seine Heimat zurück. Doch schon 1560 verstarb der große polnische Reformator.

In Litauen war Nikolaus Radziwill der Schwarze, Kanzler und Landmarschall des Landes, nicht nur der politische Kopf der Reformierten, sondern auch ein Vorkämpfer der Einheit der Evangelischen. Er tolerierte dabei selbst manche aus Italien geflüchtete Dissidenten, die von anderen Reformierten als Häretiker angesehen wurden. Doch 1565 starb auch er mit gerade fünfzig Jahren.

Nach dem Tod des Schwarzen trennten sich die Antitrinitarier endgültig von den Evangelischen. Krzysztof Tretius übersetzte die Confessio helvetica posterior, das Zweite helvetische Bekenntnis von Heinrich Bullinger, das 1566 erstmals in der Schweiz erschienen war, ins Polnische. Die reformierte Kirche in Polen und Litauen begann sich (wieder) ganz im reformiert-orthodoxen Fahrwasser zu bewegen. (2011 erschien erstmals eine Übersetzung des Bekenntnisses ins Litauische.)

In Litauen war die Lage der Evangelischen nach Ankunft der ersten Jesuiten 1569 ernst (s. auch hier). Lutheraner und Reformierte mussten eine Einigung finden, um sich langfristig behaupten zu können. Auf Initiative von Nikolaus Radziwill dem Roten (Cousin des Schwarzen) trafen sich am 2. und 3. März 1570 in Vilnius Vertreter der beiden Konfessionen. Eine Vereinigung beider Kirche konnte nicht erreicht werden. Aber es wurde, so Ingė Lukšaitė, die große litauische Reformationshistorikerin, „zunächst ein ‘politischer’ Bund geschlossen: Sie vereinbarten, dass man die jeweiligen Kirchen für religiöse Zeremonien beider Konfessionen nutzen könne; dass die Geistlichen beider Konfessionen in extremen Situationen geistliche Dienste auch für Angehörige der jeweils anderen Konfession leisten könnten und dass beide Kirchen gemeinsam in den Beziehungen zur staatlichen Macht handeln würden. Außerdem besprachen Lutheraner und Calvinisten die Möglichkeit eines religiösen Bundes.“ (Die Reformation im Großfürstentum Litauen und in Preußisch-Litauen, 2017)

Die Übereinkunft von Vilnius war gleichsam die Ouvertüre zur großen evangelischen Synode in (dt.) Sandomir vom 9. bis zum 14. April 1570, also vor 450 Jahren. In Sandomierz (sprich Sandomiesch), heute eine malerische Kleinstadt an der Weichsel im Südosten Polens, trafen sich Delegierte von drei evangelischen Kirchen aus Polen-Litauen. Aus dem Großfürstentum war der reformierte Pfarrer Stanislaw Marcyjan aus Deltuva (nahe des heutigen Ukmergė) angereist. Neben Lutheranern und Reformierten waren die Böhmischen Brüder vertreten, deren Name auf die tschechischen Wurzeln (Jan Hus) hinweist.

Alle drei Kirchen legten ihre Bekenntnisse vor und hofften darüber zu einer Bekenntniseinheit zu kommen. Die Lutheraner präsentierten natürlich die Confessio Augustana von 1530; die „Brüderunität“ legte die Confessio Bohemica von 1535 vor, für die sogar Martin Luther ein Vorwort geschrieben hatte; die zahlenmäßig stark vertretenen Reformierten erwarteten, dass die Lutheraner und die Böhmischen Brüder ihre Konfesja sandomierska, die polnische Version des Zweiten Helveticums, übernehmen würden.

Aber wie schon vierzig Jahre zuvor beim Religionsgespräch in Marburg 1529 konnten die unterschiedlichen Auffassungen zur Gegenwart Christi im Abendmahl nicht überbrückt werden. Nach mehreren Wellen des Abendmahlsstreits zwischen Lutheranern und Reformierten um Zwingli, später Calvin, war der Graben zwischen beiden Konfessionen nur breiter geworden. So konnte man sich auch in Polen-Litauen nicht auf ein gemeinsames Bekenntnis einigen. Eine evangelische Nationalkirche konnte somit nicht gebildet werden.

Auch wenn die Konfession von Sandomir ein reformiertes Bekenntnis blieb, so wurde mit dem Konsens von Sandomir dennoch viel erreicht. Die drei Kirchen behielten ihr jeweils eigenes Bekenntnis, eine eigene Kirchenordnung und eigene Gottesdienste. Aber man anerkannte sich in der Konsensformel, der Formula Recessus, gegenseitig: „So wollen wir unsere Kirchen gegenseitig mit derselben christlichen Liebe behandeln und als rechtgläubig anerkennen, und wir wollen den Extremen absagen und Schweigen über alle Streitereien, Zerwürfnisse und Meinungsverschiedenheiten legen, … so dass es unseren Feinden nicht mehr leicht fallen wird, unsere wahre christliche Religion zu schmähen und ihr zu widersprechen.“

Außerdem vereinbarte man u.a. gegenseitigen Besuch und Beistand in Notlagen: „Deshalb haben wir versprochen und nehmen es an, gegenseitige Beratung und Dienste der Liebe unter uns darzubringen und für die Zukunft über die Bewahrung und das Wachstum aller frommen, rechtgläubigen, reformatorischen Kirchen des ganzen Königreiches wie über einen Leib zu beratschlagen…“

Lukšaitė fasst die Ergebnisse so zusammen: „In Sandomierz wurde beschlossen, dass die Evangelischen Kirchen einander den wahren Glauben zugestünden; dass sie einmütig beim Trinitätsdogma blieben; dass sie in der Rechtfertigungslehre sowie in anderen grundlegenden Glaubenssätzen übereinstimmen; dass sie einander die Kirchengebäude für ihre Gottesdienste zur Verfügung stellen; dass sie gegenseitig die Pfarrer annähmen und sich um weitere Abstimmung differierender Ansichten bemühten.“

Der Konsens von Sandomir begründete somit eine Art von Kirchengemeinschaft. Unter wachsendem Druck wurden sowohl religiöse Vielfalt bewahrt als auch Zersplitterung vermieden. Die erhoffte offizielle Anerkennung der Evangelischen auf dem Sejm (Landtag oder Parlament) von Polen-Litauen im selben Jahr blieb jedoch aus. Doch wurde 1573 in der „Konföderation von Warschau“, einer Art Toleranzedikt, der  protestantische und orthodoxe Adel dem katholischen gleichgestellt. „Dissidenten“ sollten nicht verfolgt werden und wurden mit Häretikern (vor allem den Trinitätsleugnern) nicht gleichgesetzt. Für die damalige Zeit wurde damit ein ungewöhnlich hohes Ausmaß an Toleranz erreicht. In Polen-Litauen konnten daher sowohl Religionskriege als auch innerprotestantische Kämpfe vermieden werden.

Auf dem Hntergrund der damaligen Zeit erscheint der Konsens als ein erster wichtiger Schritt in Richtung – wie es heute oft heißt – „versöhnter Verschiedenheit“ oder „Einheit in der Vielfalt“. Damals war aber gerade auf lutherischer Seite das Echo auf Sandomir eher nüchtern. Im Juni 1578 erklärten die litauischen Lutheraner sogar ihr Loslösung vom Konsens. Ein Kolloquium zwischen Lutheranern und Reformierten zum Abendmahl in Vilnius im Jahr 1585 brachte auch kein fruchtbares Ergebnis.

Die lutherische Position zum Konsens ist bis heute nicht eindeutig. Die Reformierten dagegen standen und stehen eindeutig zu ihm wie auch zur Übereinkunft von Vilnius im März 1570. Sie übernahmen außerdem zahlreiche lutherische Lieder in ihre Gesangbücher (rund die Hälfte). Als heute deutlich kleinere Kirche (etwa ein Fünftel der Größe der lutherischen Kirche) ist die reformierte nun auch stärker auf Kooperation angewiesen. Seit Jahrzehnten betreuen lutherische Pfarrer auch Reformierte und wird z.B. eine lutherische Konfirmation auch in der reformierten Kirche anerkannt. Immer noch ist „Sandomir“ die Grundlage.

Von einer echten oder vollen Abendmahlsgemeinschaft kann wegen der nicht ausgeräumten Grunddifferenz eigentlich keine Rede sein. Reformierte Christen Litauens nehmen aber vereinzelt – je nach Ort auch regelmäßig – an lutherischen Abendmahlsfeiern teil. Umgekehrt sieht dies anders aus, denn bis heute vermissen die Lutheraner in der reformierten Abendmahlsfeier und –liturgie Wesentliches.

In Bewegung und Beharrung: Aspekte des reformierten Protestantismus 1520–1650 wird die Bedeutung der Übereinkunft von 1570 so umrissen: „Der Konsens von Sandomir war ein Vorläufer der Leuenberger Konkordie von 1973, in der die Verschiedenheiten der protestantischen Kirchen in Lehre und Gottesdienstformen von ihnen gegenseitig als rechtgläubig anerkannt wurden. Der Konsens war trotz einiger theologischer Schwächen und Unklarheiten eine ökumenische Pionierleistung ersten Ranges.“

Tatsächlich ist der Konsens weltweit wohl eine der ältesten ökumenischen Partnerschaften. Im Geist von „Sandomir“ vereinbarten 2016 die reformierte Kirche Litauens und der freikirchliche „Bund evangelischer Gemeinden Litauens“ (LEBB, bis 2018 „Tikėjimo žodis“ – „Wort des Glaubens“) eine Übereinkunft in theologischen Grundsatzfragen – ebenfalls eine gegenseitige Anerkennung als evangelische und rechtmäßige Kirche. Und auch hier fehlt noch der letzte Schritt zur vollen Abendmahlsgemeinschaft, der aber in diesem Fall keine Hindernisse im Weg stehen. Konsensdokumente müssen eben immer wieder neu mit Leben erfüllt werden.