Ich glaube an die Kreativität

Ich glaube an die Kreativität

(Ein alter Beitrag aus dem Jahr 1996, geschrieben für das Journal Prizmė, auf Litauisch hier. Zur Kreativität s. auch “Called to be creative“.)

Kreativität ist das wichtigste Kennzeichen der Künstler. Große Künstler sind auf herausragende Weise kreativ. Doch nicht nur sie sind mit Kreativität begabt. Jeder Mensch, ob besonders talentiert oder nicht, ob alt oder jung, ob arm oder reich, kann kreative Leistungen vollbringen – wenn er sich dafür entscheidet.

Kreativität ist inzwischen ein Modewort und ein Massenphänomen. Wir kennen den kreativen Geschäftsmann, der mit ganz neuen Ideen reich geworden ist, den kreativen Lehrer, der einen neuartigen, interessanten Unterricht gestaltet, und die kreative Hausfrau, die immer wieder neue, schmackhafte Gerichte in der Küche zaubert. Und wir fordern den kreativen Politiker, der endlich neue Konzepte für die Probleme des Landes entwickelt, den kreativen Pastor, der interessanter und abwechlsungsreicher predigt, und schließlich wollen wir, dass auch unser Kinder ihre Kreativität entwicklen – wir schicken sie auf Kunstschulen und lassen sie Musikinstrumente lernen.

Kreative Menschen und kreative Leistungen sind heute überall zu finden. Und irgendwie wissen wir, dass Kreativität etwas Gutes ist, das man anstreben sollte. Aber, so meinen viele,  wie kann ich Durchschnittsmensch etwas Kreatives tun? Vielleicht habe ich auch einmal ein gute Idee, doch von den Künstlern und Genies, von den Begabten und Talentierten, trennen mich doch Welten. So “richtig” kreativ können eben doch nur sie sein.

Tatsächlich war der Begriff “kreativ” lange für die Künstler (und Wissenschaftler/ Philosophen) reserviert. Ihnen gestand man zu, von einer schöpferischen Tätigkeit zu sprechen.  Ansonsten war dies Wort dem Schöpfer selbst, Gott, vorbehalten. Erst in diesem Jahrhundert drang das Wort “kreativ” immer mehr in die Alltagssprache der europäischen Länder und der USA ein. Endgültig populär wurde die Kreativität nach dem II Weltkrieg durch die intensive psychologische Kreativitätsforschung, besonders in Amerika. Ausgelöst wurde dieser Kreativitätsboom durch ein eher politisches Ereignis: Amerika war geschockt durch den ersten Sputnik-Start der Sowjets. Der Wettlauf um die Erforschung des Weltalls begann, technische Höchstleistungen galt es nun möglichst schnell zu vollbringen. Und dazu brauchte man natürlich möglichst viele, sehr kreative Wissenschaftler und Techniker. Staat und Industrie förderten daher massiv psychologische Untersuchungen zum Thema Kreativität.

“Kreativ” rückte mehr und mehr an die Stelle einer ganzen Reihe von verwandten Wörtern: originell, produktiv, künstlerisch, erfinderisch, phantasievoll, einfallsreich, musisch, gestaltend usw. usw. Um den Begriff kreativ etwas genauer zu kennzeichnen, möchte ich ihn nur kurz von drei dieser Verwandten abgrenzen: “Produktiv” und “gestalterisch” ist jeder Prozeß, der etwas Geordnetes hervorbringt, kreativ braucht dieses Produkt noch nicht zu sein. Dazu macht es erst das Moment der Neuheit. Wer immer nur Altes gestaltet, ist nicht kreativ.

“Originell” drückt auch diese Neuheit aus, doch der Begriff hat fast ausschließlich statische, einmalige Bedeutung. Ein originelles Produkt ist das einmalige Resultat des kreativen Tuns. Originell ist man vielleicht von Zeit zu Zeit, kreativ kann man andauernd sein.

Man kann auch sehr “einfallsreich” sein, ohne dass man dabei besonders kreativ ist. Wer kreativ sein will, braucht möglichst viele Ideen. Doch diese Einfälle müssen auch eine bestimmte Qualität besitzen, sie müssen zu meinem Problem, meiner Aufgabe passen. Jemanden, der viele dumme und schlechte Ideen hat, nennen wir nicht einen Kreativen, sondern einen Spinner. Zu einem kreativen Produkt gehört, dass es irgendwie wertvoll für uns ist.

Kreative Produkte müssen jedoch nicht unbedingt neu sein. Wird eine altes Produkt auf ganz neue Weise gestaltet, sprechen wir auch von einer kreativen Leistung. Neben “neu” und “wertvoll” gilt daher “auf neue Weise” als dritter Aspekt der Kreativität.

Gott der Schöpfer

Kehren wir nach diesem Exkurs in die Begriffsgeschichte zu unserer Frage zurück. Ist jeder Mensch kreativ? Oder kann jeder Mensch kreativ werden? Eine erste grundlegende Antwort erhalten wir, wenn wir Gott, seine Eigenschaften und Taten, betrachten. Denn Gott ist zuallerst der Schöpfer aller Dinge. So begegnet er uns auf den ersten Seiten der Bibel, und so bekennen wir es im ersten Artikel des Apostol. Glaubensbekenntnisses: “Ich glaube an Gott den Vater, den Schöpfer Himmels und der Erde…”. Gott hat diese Welt mit einer wunderbaren Vielfalt und Schönheit geschaffen, denken wir nur an den ungeheuren Reichtum an Farben, Tönen, Mustern und Harmonien, an die fast unendlich vielen Tier- und Pflanzenarten. Alles ist verschieden, kein Baum gleicht genau dem anderen, keinen Menschen werden wir noch einmal auf der Erde finden. Über diese Kreativität Gottes kann man nur staunen. Dies taten auch die Autoren der biblischen Bücher häufig. Besonders in den Psalmen und im Buch Hiob wird Gott für seine vielfältige Schöpfung gepriesen (Ps 8; 19; 148; Hi 39-39).

Gott war und ist sehr kreativ. Er schuf etwas ganz Neues und Wertvolles auf einzigartige Weise. Allein dies zeigt uns, dass Kreativität als solche gut ist. Wenn wir etwas in Gottes geschaffener Welt verachten, dann verachten wir damit Gottes Kreativität. Paulus fordert uns zum Gegenteil auf: “Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird” (1 Tim 4,4). Wir dürfen, ja sollen, alle “Produkte” von Gottes Kreativität dankbar annehmen. Gottes vielfältige Schöpfung ist eine Gabe an uns, die wir genießen sollen. Jeder Asketismus ist von daher schon ausgeschlossen.

Den Garten pflegen

Gott war und ist ein großer, ja der größte Künstler und Kreative. Er war der erste Künstler, aber er wollte als solcher nicht allein bleiben. Er schuf uns Menschen zu seinem Ebenbild, d.h. ihm ähnlich. Das bedeutet in unserem Zusammenhang, dass wir ähnlich wie Gott auch kreativ sind.  Wir sind kreativ, denn jeder von uns ist Ebenbild Gottes. Der Mensch ist kreativ, aber nur auf eine ähnliche Weise wie Gott, nicht genauso wie er. Gott schuf durch sein Wort aus dem Nichts. Er benötigt kein Material, um etwas herzustellen. Als Menschen brauchen wir dagegen schon unsere Hände (und unser Gehirn), Werkzeuge und Material, um etwas zu schaffen. Wir sind nur kreativ mit dem von Gott Geschaffenem. Wir nehmen es, um damit zu arbeiten und daraus etwas Neues zu machen.

Auf den ersten Seiten der Bibel finden wir eine Beschreibung dieses Prinzipes: Gott gab dem ersten Menschen den Garten Eden, das Paradies, damit er ihn “bebaue und bewahre” (Gen 2,15). Und eine paar Verse später erhielt Adam von Gott die Aufgabe, den Tiere Namen zu geben (2,19) – wenn das keine kreative Arbeit war!

Natürlich ist die Kreativität wie jede Fähigkeit des Menschen (Wille, Gefühl, Verstand, Sprache) durch den Sündenfall beeinträchtigt worden. Einen großen Teil unserer schöpferischen Kraft benutzen wir Menschen, um uns ganz “kreativ” neue böse Dinge auszudenken und durchzuführen (allerdings sprechen wir hier in der Praxis nicht mehr von Kreativität). Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir Menschen bleiben und kreativ sind.

Der Mensch geht mit der Schöpfung Gottes kreativ um. Ein Teil dieser Schöpfung ist die menschliche Sprache. Wir haben unendliche viele Möglichkeiten, sie zu gestalten. Wir können Briefe, Gedichte, Märchen, Romane, Epen, Predigten und Lieder usw. usw. verfassen. Diesen Reichtum der Sprache drückt auch das Wort Gottes, die Bibel, aus. In ihr finden wir neben großartiger lyrische Literatur (das Hohelied) und Gedichten (Hiob) spannende Geschichten und Erzählungen (Genesis, Samuel, Esther), neben ergreifenden Reden (Jeremia, Jesaja) genaue Reisebeschreibungen (Lukas Apg.), neben anspruchsvoller theologisch-philosophischer Literatur (Römer) persönliche und bewegende Briefe (2 Kor, Phil). Was wäre die Bibel ohne diese Vielfalt? Was wäre sie ohne die wunderbaren Psalmen? Zu uns spricht besonders deren Reichtum und ihre Imagination, weil dies unserem Menschsein entspricht.

Jeder ist kreativ

Jeder Mensch ist kreativ, weil jeder Gottes Ebenbild ist. Genau dies hat auch die moderne Kreativitätsforschung (s.o.) bestätigt. Lange suchte man die “kreative Persönlichkeit” und forschte nach den Faktoren, die eine kreative Person ausmachen. Aber dieser Ansatz ist gescheitert. Es gibt keine besonderen Faktoren, die Menschen in Kreative und Nichtkreative unterteilen. Ein Absolvent einer renomierten Kunstschule oder einer angesehenen Universität ist als solcher nicht kreativer als ein einfacher Arbeiter – sicher eine bittere Pille für die künstlerischen und intellektuellen Eliten.

Eine besondere Ursache für Kreativität konnte nicht gefunden werden. Aber dennoch hält sich hartnäckig das Vorurteil, nur einige wenige wären in die Geheimnisse eines besonderen kreativen Prozesses eingeweiht. Viele sagen von sich: “Ich bin eben nicht so klug und kreativ wie ….” Woran liegt das? Der Grund, weshalb diese Menschen nicht “so kreativ” sind, ist auch darin zu sehen, dass sie genau dies von sich glauben. Das normale, weniger kreative Verhalten wird als Routine festgehalten. Ein klares Ergebnis erbrachte so die Kreati-vitätsforschung: Kreative glauben an ihre Fähigkeiten.

Aber, so werden nun manche einwenden, es gibt doch die Genies, die besonders talentierten großen Künstler. Kann man denn wirklich einen Mozart, Beethoven und Ciurlionis, einen Leonardo, Shakespeare und Picasso auf eine Ebene mit normalen Menschen stellen? Natürlich wäre es völlig unsinnig, besondere Talente und Begabungen zu bestreiten. Ein perfektes Gehör wie ein Mozart hat fast niemand. Und es gibt Menschen, die immer mehr Ideen haben als andere, aus denen die Einfälle fast ständig herausfließen. Manche haben auf einzelnen Gebieten besondere Begabungen. Aber eben nur auf einzelnen Gebieten. Womöglich war Beethoven eine miserabler Koch, der kaum zwischen sauer und bitter unterscheiden konnte. Die großartigen Talente der Genies verstellen uns oft den Blick vor unseren eigenen Begabungen. Wer sagt denn eigentlich, dass ich nicht lernen soll, Klavier zu spielen, nur weil ich nie so gut spielen werde wie ein Mozart? Wir müssen darauf achten, nicht in Extreme zu verfallen: Weder ist jeder auf besondere Weise kreativ, noch gibt es jemand, der völlig unkreativ wäre.

Jeder von uns ist kreativ. Karl-Heinz Brodbeck, der Kreativität “lehrt”, zeigt dies an einem Beispiel aus dem Alltag: “Was geschieht, wenn wir einen Text lesen? Betrachten wir einen ganz einfachen Kriminalroman oder eine Liebesgeschichte. Die Wörter, die in dem Krimi vorkommen, kennen wir alle ganz genau. Wir kannten sie schon lange bevor wir den Text in die Hände genommen haben. Dennoch geschieht nun beim Lesen etwas ganz Merkwürdiges. Die Folge der Wörter und Sätze ruft in uns Bilder, Stimmungen, Gefühle und Gedanken hervor; wir erzeugen einen Handlungsablauf. Jeder von uns macht dies sicher anders. Den einen macht das Happy End eines Liebesromanes unglücklich, den anderen euphorisch. Die Elemente einer Geschichte (Häuser, Autos, Bäume usw.) werden von uns völlig verschieden im Geist aufgebaut und kombiniert. Jeder erschafft beim Lesen seine Geschichte.” (Entscheidung zur Kreativität) Jeder erweist sich beim Lesen als kreative Persönlichkeit. Noam Chomsky, der berühmte Sprachforscher, sagt aus diesem Grunde auch, dass der Gebrauch der Sprache überhaupt ein zutiefst kreativer Akt ist.

Wie das Beispiel Lesen/Sprache zeigt, handeln wir praktisch immer kreativ. Wir werden im Alltag ständig mit neuen Situationen und Problemen konfrontiert und suchen dafür neue Lösungen. Selbst einfache Tätigkeiten wie ein Stadtbummel oder eine Autofahrt werden wir nie genau wiederholen. Irgendetwas Neues begegnet uns immer, und irgendwie handeln wir immer anders. Wir könnten gar nicht leben ohne diese grundlegende Form der Kreativität.

Entscheidung zur Kreativität

Jeder Mensch handelt im Alltag ständig kreativ. Damit wollten wir nachweisen, dass jeder Mensch kreativ ist. Die “einfachen Formen” der Kreativität wie Gehen und Sprechen zeigen uns, dass jeder eine natürliche Kreativität besitzt. In der Praxis sprechen wir aber sicher noch nicht von einer kreativen Handlung, wenn jemand mit dem Auto zum Einkaufen fährt. Es sind die “besonderen Formen” der Kreativität, die uns interessieren. Aber woher kommen die? Kann jeder sie lernen, produzieren oder sonstwie erwerben, wenn wir besondere Begabungen nicht benötigen?

Begabungen und Talente können wir nicht machen. Genauso kann Kreativität nicht hergestellt werden. Sie erwächst vielmehr aus der natürlichen Kreativität eines jeden. Es gibt zwar zahlreiche Kreativitätstechniken, aber die besten von ihnen bewirken eigentlich nur eins: die Beseitigung von Denkschranken und so die Freisetzung unserer nun uneingeschränkten natürlichen Kreativität. Bekanntestes Beispiel einer solchen Technik ist das sog. “Brain-storming” (schwer zu übersetzen, etwa: “Alles aus dem Gehirn rausblasen”). Jedes Mitglied eines Team schreibt auf einer großen Tafel oder Wand zu genau bestimmten Suchfeldern und Fragen ALLES auf, was ihm gerade einfällt. Die drei wichtigsten Regeln dabei: jeder auch noch so dümmste Gedanke im Kopf wird genannt – alles wird festgehalten; eine Kritik findet nicht (d.h. erst hinterher) statt; und drittens: “klauen” ist erlaubt, ja gefordert. Die Gedanken der anderen Teammitglieder werden übernommen, um daran anzuknüpfen, um “weiter-zuspinnen”. Das unter “profesionellen Kreativen” weitverbreitete Brainstorming veranschaulicht sehr treffend, was einer der Schlüssel zu mehr Kreativität ist: Weg mit den Schranken in unserem Gehirn, die uns sagen: das ist zu dumm; das gefällt keinem; das ist uninteressant; das ist Quatsch…. Läßt man sich wirklich auf die Beseitigung dieser inneren Hemmschwellen ein, ist man wirklich offen, dann “fließt es” auch tatsächlich. Es kommen einem Einfälle, die einem “normalerweise” nie gekommen wäre. Und diese Einfälle kommen jedem, nicht nur den Phantasiereichen.

Das entscheidende Stichwort ist damit schon gefallen: Offenheit. Wenn wir kreativer sein wollen, müssen für offen dafür sein – offen für eine neue Sicht, für ein neues Denken, für neue Ideen. Wenn wir uns nicht für diese Offenheit entscheiden, regieren – fast automatisch – mechanisches Verhalten, Routine und untätige Warterei. Denn das ist ja einfacher für uns. Die alte Meinung, die bekannte Sicht, die gewohnte Routine schaffen keine unangenehmen Veränderungen. Alles bleibt beim Alten, unser Selbst- und Weltbild bleibt stabil, wir fühlen uns sicher und brauchen uns nicht zu verändern.

Ein Beispiel für unser “geschlossenes Denken”: Wir unterteilen die Welt mit polaren Ausdrücken wie “schön/häßlich”, “gefällt mir/gefällt mir nicht” usw. Wenn wir sagen “dieses Bild ist häßlich”, dann klingt das, ols ob das Häßliche im Bild stecken würde. Aber das ist sicher eine Täuschung. “Häßlich” ist unser Urteil über das Bild. Beim geschlossenen Denken beharren wir auf unseren Urteil: “Das Bild ist eben so – Ende der Diskussion”. Denken wir offen, so fragen wir: “Ich sehe dieses Bild als Häßlich an. Aber du hast etwas Schönes darin entdeckt. Kannst du mir das zeigen?” Abstrakte Kategorien dieser Art verwenden wir geradezu zwangsläufig. Die entscheidende Frage ist, ob sie offen sind, d.h. ob wir ihnen kritisch gegenüberstehen.

Sprachliche Kategorien wie “schön/häßlich” zeigen, wie das Denken unsere Wahr-nehmung formt. Sind wir davon überzeugt, dass bspw. Jazz häßliche Musik ist, so werden wir gar nicht in der Lage sein, das Schöne daran zu hören. Im Denken werden die Weichen gestellt. Hier können wir alte Mauern immer höher bauen. Hier eröffnet sich aber auch ein wirklich unendlich weites Feld für neue Gedanken. In unserer Phantasie können wir Grenzen über-schreiten und alle Dinge unserer Erfahrung ganz neu kombinieren. Wir können dort ganz neue Entdeckungen machen und Dinge so sehen, wie es noch nie jemand tat.

(Jeder Begriff und Gegenstand läßt sich gedanklich unendlich variieren. Dazu als Beispiel eine Checkliste zum Brainstorming. Ich kann einen Begriff… anders verwenden; adaptieren (was ist so ähnlich?); modifizieren (läßt sich Bedeutung, Farbe, Form, Bewegung, Klang….verändern?); magnifizieren (was kann man hinzufügen? Mehr Zeit? Stärker? Höher? Dicker? Übertreiben?); minifizieren (was kann man wegnehmen? Aufspalten? Tiefer? Kleiner?); substituieren (durch was kann man es ersetzen? Anderes Material? Andere Herstellung? Anderer Platz?); rearrangieren (kann man Komponenten austauschen? Andere Reihenfolge?); umkehren (wie ist es mit dem Gegenteil? Kann man oben mit unten vertauschen?); kombinieren (was ist mit einer Mischung? Kann man den Zweck kombinieren? Kann man Ideen kombinieren?) [Werner E.A. Boehler, Frankfurt 1973])

Alle großen Kreativen haben auf diese Weise Schablonen in ihrem Kopf beseitigt und so ihre Wahrnehmung geöffnet. Sie haben Ideen “ermordende” Sätze wie “das haben wir noch nie so gemacht”, “nur so geht das richtig” und “was soll man von uns denken, wenn wir…” abgelehnt. Vielmehr waren sie offen für Neues und haben sich davon begeistern lassen. Ein historisches Beispiel aus der bildenden Kunst: Die Impressionisten (ab ca 1870) lehnten das Dogma der Klassizisten “die Linie ist alles” (Ingres) konsequent ab. Sie sahen in der Wirklichkeit nun keine Linien mehr (obwohl es da natürlich genug zu sehen gäbe), sondern nur noch ein Geflimmer reiner Farben. Eine einschränkende Denkvorschrift lehnten sie ab und setzten an deren Stelle eine neue Überzeugung. Ihre Wahrnehmung orientierte sich völlig neu.

Für diese Offenheit des Denkens und Wahrnehmens müssen und können wir uns entscheiden. Doch damit werden wir noch nicht automatisch kreativ. Nachdem wir grundsätzlich unseren Blick geöffnet haben, müssen wir wieder genau hinsehen. Das fokussierte und konzentrierte Achten ist der zweite Schlüssel zur Kreativität. Etwas Achtung schenken ist der große Feind der Routine. Denn wenn ich z.B. genau darauf achte, wie ich eine ganz alltäglich Handlung wie Geschirrspülen ausübe, entdecke ich schnell, wieviel Spielraum ich tatsächlich habe: Könnte ich das nicht anders machen? Wie wär’s, wenn ich das so machen würde?

Die großen Künstler zeichnet solch eine geschärfte und konzentrierte Wahrnehmung aus. Sie sehen (und hören) dort etwas, wo viele gar nichts wahrnehmen. Jeder von uns kann dies auch üben. Wir müssen uns nur von Zeit zu Zeit “aufwecken” und auf irgendeinen Gegenstand konzentrieren: auf die Pflaumen, die vor dem Fenster in einer Palette von gelb bis violett leuchten; auf die Geräusche, die wir an einer Bushaltstelle hören usw. usw.

Die kreative Persönlichkeit

Wie wir gesehen haben kennzeichnet eine kreative Person Offenheit und konzentrierte Wahrnehmung. Was können wir noch über sie sagen? Sie ist “flüßig”, d.h. sie läßt alle Einfälle und Ideen herausfließen; sie ist flexibel und mobil, d.h.sie kann schnell von einem “Feld” zum anderen wechseln (in verschiedenen Bereichen Lösungen suchen); sie ist ausdauernd, denn zu guten Ideen kommt man nur mit “90% Schweiß und 10% Talent”; sie hat ein gutes Gedächtnis, um viele Eindrücke und Gedanken speichern und wieder kombinieren zu können; sie ist intelligent genug, um beurteilen zu können, ob man wirklich zu einer wertvollen, nützlichen Lösung gekommen ist. Und schließlich: sie hat den Mut, eigene Ideen zu verwerfen. Sie ist nicht schnell frustriert, wenn sich heraustellt, dass man zwar einen tollen Einfall hatte, aber keine wertvolle kreative Idee. Sie ist in hohem Maße selbstkritisch (“ist das wirklich gut?”) und greift die Kritik durch andere gerne auf.

Grenzen der Kreativität – Kreativität im Alltag

“Schön und gut”, mögen nun viele sagen, “ich bin aber nicht flexibel, ausdauernd und selbstkritisch. Und außerdem habe ich gar nicht die Möglichkeiten, meine Kreativität zu entfalten. Meine Arbeit ist recht eintönig, zu Hause ist auch immer das gleich zu tun. Wenn ich vielleicht einen interessanten Beruf und mehr Geld hätte, um auf Reisen mehr Eindrücke zu sammeln….”. Natürlich werden unsere kreativen Möglichkeiten durch berufliche, familiäre, finanzielle u.a. Faktoren eingeschränkt. Auf den ersten Blick scheint ein “reicher” US-Amerikaner tatsächlich viel mehr kreative Freiräume zu besitzen, als ein “armer” Litauer. Und von den professionellen Künstlern, Journalisten und Wissenschaftlern glaubt man auch, dass sie allein schon wegen ihres Berufs kreativer sind als Unausgebildete.

Unsere Kreativität wird begrenzt. Aber dies ist ein allgemeines Kennzeichen unserer schöpferischen Fähigkeiten – kommen wir kurz zu unserem theologischen Abschnitt zurück. Wir sind in unserem Schaffen begrenzt auf das, was Gott uns gegeben hat. Wir können nur innerhalb der Schöpfung Gottes kreativ sein. Nur Gott ist grenzenlos kreativ (unsere Gedanken sind auch fast grenzenlos, s.o., aber sie arbeiten dabei immer noch mit vorgegebenen Begriffen, Bildern und Vorstellungen). Etwas völlig Neues können wir daher nie erschaffen. Wir benötigen zum kreativen Tun immer Altes und Neues, wir entdecken in Altem etwas Neues, wir sehen etwas Altes auf ganz neue Weise, wir kombinieren Altes zu etwas Neuem. Kreativität braucht Gegebenes und Geordnetes, um damit verändernd und erweiternd zu arbeiten

Aus diesem Grunde ist auch Originalität nicht die wichtigste Eigenschaft von kreativen Personen. Wirklich originelle Dinge und Ideen bringen tatsächlich nur wenige Menschen hervor. Originell, d.h. einzigartig, ganz besonders, total neu, wird heute oft mit kreativ gleichgesetzt. Originell meint dabei auch: einzigartig für viele andere. Wenn wir dann in unsere Suche nach originellen Leistungen versagen, sind wir schnell von unseren kreativen Fähigkeiten enttäuscht. Wir dürfen uns daher nicht von der Frage “ist das für möglichst viele Leute originell?” tyrannisieren lassen. Unsere Frage sollte lauten: “Was entdecke ich für mich Neues?”

Der enttäuschte Blick auf unsere Grenzen des Alltags und der Zwang zur Originalität sind zwei kreativitätshemmende Denk- und Wahrnehmungsfehler. Das Geheimnis der Kreativität ist nun ein Änderung der Blickrichtung um 180°: Wir anerkennen die Grenzen, auf die wir heute stoßen, und bejahen sie. Denn innerhalb dieser Grenzen gibt es immer noch genug Material, Freiheit und Möglichkeiten, mit denen wir kreativ umgehen können. Für diese Dinge können und sollen wir dankbar sein. Wenn wir uns nur konzentrieren auf das, was wir nicht haben, werden wir nie Kreatives hervorbingen. Wenn wir dagegen denken “Ich habe zwar nicht viel, aber was habe ich denn? Was kann ich damit machen?”, werden wir entdecken, wie weit wir unsere natürliche Kreativität entfalten können.

Und auch die Praxis zeigt doch, dass die Begrenzungen Kreativität nicht behindern – eher im Gegenteil. Wer in seinen Mitteln (gezwungenermaßen) begrenzt ist, handelt oft viel kreativer  als derjenige, dem die ganze Welt offen steht. Einige Beispiele:

Vielleicht kann ich meinen Kindern nicht alle teuren (und kreativen?) Spielsachen kaufen. Aber ist es nicht viel kreativer, aus wenigen Materialien wie Holz, Stoff und Farben Bauklötze, Puppen, Spiele, Drachen usw. usw. zu basteln und zu zimmern?

Vielleicht fehlen mir die erlesensten Zutaten, um ein tolles Rezept nach einem Kochbuch zuzubereiten. Wäre es da eigentlich nicht kreativer, mit wenigen einfachen Lebensmitteln etwas Neues auszuprobieren?

Vielleicht kann ich mir große Leinwände oder ein lichtes Atelier nicht leisten. Aber ist  es nicht auch sehr kreativ zu überlegen, worauf und wo man überall malen könnte?

Vielleicht muß ich auf eine große Hochzeitsfeier verzichten, um wenigstens ein paar Möbel zu kaufen. Ist dann nicht unsere Kreativität gefragt: Was könnte man selber machen und müßte nicht unbedingt kaufen? Wie könnten die Gäste zur Gestaltung mitbeitragen?

Vielleicht habe ich nicht genug Geld, um meiner Tochter einen neuen Mantel zu kaufen.  Ist es dann nicht ein Zeichen von Kreativität, wenn ich selbst einen entwerfe und an der Nähmaschine gestalte?

Vielleicht stehen mir als Pastor zur Predigervorbereitung nicht 10 Kommentare und 5 Nachschlagewerke zur Verfügung. Muß ich dann nicht umso kreativer nach Beispielen suchen, um den Zuhören die Botschaft verständlich zu machen?

Die Reihe von Beispielen ließe sich natürlich noch lange fortsetzen. Uns wird aber jetzt schon klar geworden sein, dass der Alltag eine einzige Quelle der Kreativität sein kann. Natürlich trifft dies besonders auf unsere Freizeit zu, denn im Beruf wird uns vielleicht fast alles fest vorgeschrieben. Daher ist es sinnvoll, zuerst in der freien Zeit Kreativität “zu üben” und von dort in stärker strukturierte Gebiete wie die Berufsarbeit vorzudringen. Wer nach Feierabend sein kreatives Potential immer nur durch den Fernseher ersticken läßt, der darf sich nicht über eine unkreative, langweilige Arbeit beschweren.

Kreativität und Glaube

Unser Überblick über die verschiedenen Aspekte der Kreativität wäre damit eigentlich beendet. Aber mit einen wichtigen Einwand müssen wir uns noch kurz beschäftigen. Schränkt das Christentum Kreativität nicht ein? Verhindern Traditionen nicht Veränderungen? Stehen  Dogmen und Vorschriften nicht Neuerungen entgegen? Und wozu brauchen Christen Kreativität?

Es ist wahr, das Bewahren der Guten Nachricht gehört unbedingt zum Christentum. So fordert Paulus dazu auf, an der Lehre von der leibhaftigen, realen Auferstehung Christi unbedingt festzuhalten. Wichtige zentrale Wahrheiten des Glaubens gilt es bis heute zu schützen und zu verteidigen. Oft genug müssen sich Christen gegen den Zeitgeist und die neusten Moden stellen. Wir haben z.B. keinerlei Anlaß, die sich verbreitende Mode des Homo- und Bisexualismus als kreative Neuerung zu begrüßen. Und allerneusten Auslegungen zu biblischen Büchern sollten wir auch nicht immer sofort Glauben schenken.

Christen haben die Aufgabe, das Evangelium treu zu überliefern und weiterzusagen. Aber das beinhaltete schon zu biblischer Zeit Bewahren und Verändern. Paulus hat in seinen Predigten beides ständig miteinander verknüpft: Vor Heiden redete er ganz anders als vor Juden, dasselbe Evangelium verdeutlichte er in immer anderer Form. Sein “harter Kern” war die Auferstehung- und Erlösungsnachricht von Jesus Christus. Das war sein fester Ausgangspunkt, mit dem er kreativ umgehen konnte.

Hier können wir wieder unser bekanntes Modell erkennen: Kreativität benötigt eine Grundlage auf und mit der man dann kreativ arbeiten kann. Ein Beispiel aus der Praxis: Unsere Ausgangslehre ist “Sagt allen Menschen das Evangelium.” Nun ist unsere Kreativität gefordert: Wie können wir diese 2000 Jahre alte Nachricht heute erklären? Welche Schwerpunkte sollen wir dabei setzen? Woran können wir anknüpfen? Welche Menschen wollen wir konkret ansprechen? Und wie? Wie können wir mit anderen Gemeinden zusammenarbeiten?

Allerdings stoßen kreative Fragen in vielen christlichen Gemeinden oft schnell an die Grenzen der Tradition – “so war das schon immer, so wird es auch bleiben. Wir sind schließlich…”. Traditionen sind gut, wir brauchen sie! Sie bewahren viele wichtige Erinnerungen und Wahrheiten aus der Vergangenheit. Aber sie müssen unbedingt offen für kritische Fragen gehalten werden: Helfen sie uns immer noch? Sind sie sinnvoll und gut? Oder stehen sie nötigen Veränderungen nur im Weg? Solange nichts gegen einen guten Brauch spricht, sollten wir ihn beibehalten. Aber Traditionen müssen weiterentwickelt, kreativ verändert werden. Sonst erstarren sie zu gesetzlichen Vorschriften.

Ein Beispiel: Nichts spricht eigentlich dagegen, auch weiterhin dem sehr alten christlichen Brauch zu folgen, sich als Christen am Auferstehungstag des Herrn, am Sonntag, zu versammeln. Aber es ist ja kein Gesetz, unbedingt an diesem Tag und dann auch noch zu einer bestimmten Uhrzeit Gottesdienste zu halten. Kommen vielleicht zu einem zusätzlichen Gottesdienst an einem anderen Tag ganz andere, fremde Besucher? Und würde der Gottesdienst unter den Gemeindemitgliedern vielleicht wieder auf mehr Interesse stoßen, wenn man die Anfangszeit verschiebt? Frage- und Denkverbote darf es in der Kirche nicht geben.

Noch ein letzter Gedanke. Auf die Frage nach dem höchsten oder wichtigsten Gebot (Mt 22, 34-40) antwortete Jesus mit Zitaten aus dem Alten Testament: “Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt” (Dt 6,5) und “Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst” (Lev 19,18). Gott fordert von uns hier nicht das sture, blinde, mechanische Befolgen von Gesetzen. Er will, dass wir lieben – ihn und unseren Nächsten. Hier geht es nicht um das einmalige Erfüllen eines Gebots nach dem Motto: Jetzt habe ich aber genug geliebt. Hier eröffnet sich vielmehr ein unendlicher Freiraum für unsere Kreativität und Phantasie. Wie könnte ich heute meinem Nachbarn einen Gefallen tun? Welche Hilfe könnte mein Bekannter heute gebrauchen? Wie könnte ich heute Gott meinen Lob und Dank ausdrücken? – Liebe macht erfinderisch, d.h. kreativ.

Kreativität bereichert und verschönert unseren Alltag und unser ganzes Leben. Entscheiden wir uns für sie! Und Kreativität läßt uns in der Liebe zu Gott und dem Nächsten wachsen. Glauben wir daran!

(Bild o.: Albrecht Dürer, Flügel einer Blauracke, um 1500, Ausschnitt; s. auch die Dürer-Ausstellung in der Albertina, Wien)