Der Neue

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Die drei baltischen Staaten haben viel gemeinsam wie nun die Mitgliedschaften in Nato, EU, Euro- und Schengenraum. Alle Länder waren 1940/45 mit Zwang in die Sowjetunion integriert worden und nutzten die erste Gelegenheit, dieses Joch abzuschütteln. Kulturelle Unterschiede zwischen den Staaten gibt es aber auch genug, und sie haben nicht zuletzt mit der deutlich anders verlaufenden Geschichte im Norden und in der Mitte Zentraleuropas zu tun.

Herrschten im heutigen Estland und Lettland lange Skandinavier (vor allem Schweden) und eine deutsche Oberschicht, so behauptete sich im Süden ein litauisches Großreich. Im 16. Jahrhundert wurde es faktisch Teil des polnischen Königtums. Als Nationen bzw. Nationalvölker bildeten sich Esten und Letten erst spät – als die Litauer schon den Untergang beklagten. Schließlich hatte man doch einst einen König und später wirklich mächtige Großfürsten. Letten und Esten brachten dagegen in ihrer Geschichte nie einen Monarchen hervor.

Vielleicht auch deshalb wird in den Ländern so unterschiedlich auf das Staatsoberhaupt geblickt. In allen drei Staaten ist ein gewählter Präsident oberster Repräsentant der Nation. Am 29. Mai wählte die Saeima, die lettische Volksvertretung, einen neuen Präsidenten. Als Nachfolger von Raimonds Vējonis wurde Egilas Levitas bestimmt. Selbst im benachbarten Litauen bekommt kaum jemand etwas davon mit. In Estland steht seit knapp drei Jahren Kersti Kaljulaid an der Staatsspitze. Vor ein paar Monaten führte „Der Spiegel“ ein interessantes Interview mit der noch recht jungen Frau (Jg. 69): „Was Deutschland von Estland lernen kann“.

Ein ganz anderes Auftreten als die sympathische Estin hat die Amtskollegin in Litauen, Dalia Grybauskaitė. Diese pflegt auch einen ganz anderen Politikstil, den man – im Vergleich zu den baltischen Nachbarn – fast schon autoritär nennen möchte. Um scharfe Worte ist die 63jährige Volkswirtin nie verlegen. Grund für dieses ganz andere Machtgebaren ist natürlich auch die Direktwahl des litauischen Präsidenten durch das ganze Volk, also nicht durch das Parlament oder eine Bundesversammlung wie in Deutschland.

Am 26. Mai wurden in Litauen nicht nur die Abgeordneten für das Europaparlament bestimmt. Viel interessanter für die Bürger war die Stichwahl zum Staatsoberhaupt. Alle Umfragen wurden dabei bestätigt: Von den neun Kandidaten schafften es am 12. Mai Ingrida Šimonytė und Gitanas Nausėda in die zweite Runde. Beide kamen auf etwa 31% der Stimmen, wobei die ehemalige Finanzministerin den ehemaligen SEB-Bänker um ein paar Tausend Stimmen überholte. Auf dem dritten Platz blieb abgeschlagen der derzeitige Premier des Landes, Saulius Skvernelis.

Šimonytė schnitt besonders in Kaunas und Vilnius gut ab; in der Hauptstadt kam sie sogar auf 43% der Stimmen. Zwar schickte sie die oppositionelle „Heimatunion – Christdemokraten Litauens“ ins Rennen, die als die konservative Partei des Landes gilt, doch große Unterstützung kam auch aus dem liberalen Spektrum. Tatsächlich fragte man sich im Wahlkampf immer, welches ihre konservativen Überzeugungen seien. Wirtschaftspolitisch vertritt Šimonytė einen gemäßigt liberalen Kurs, gesellschaftspolitisch denkt sie eher linksliberal. So hieß es z.B. aus ihrem Munde, Familie könne jeder so definieren wie er wolle. Kein Wunder, dass theologisch konservative Katholiken und andere Christen mit ihr Bauchschmerzen hatten.

Nausėda, der bis vor einigen Monaten das bekannteste Gesicht der litauischen SEB war, hatte seinen Wahlkampfstab in unserem Nachbarhaus eingerichtet. Anders als Šimonytė trat er als unabhängiger Kandidat an. Allerdings bezeichnet sich auch Nausėda als konserativ.

Im April lud er alle Nachbarn des Stabes zu einem einstündigen Plausch ein. Bei dem Dutzend Mitbürgern hinterließ der Mittfünfziger einen sehr guten Eindruck, sprach er doch auch von seinen persönlichen Schwächen, von denen man an den Bildschirmen kaum etwas mitbekäme. Ich fragte den Kandidaten, worin sich sein Konservatismus von dem Šimonytės unterscheide. „Ingrida ist nicht konservativ“, entgegnete er wie aus der Pistole geschossen. Und ungefragt strich er direkt anschließend die wichtige Rolle der Kirchen in der Gesellschaft heraus. Dies deckt sich mit anderen Äußerungen Nausėdas, so dass viele Christen zu dem Schluss kamen: dies ist der bessere Kandidat.

Sicher kann man sich freuen, dass zwei so ernste Kandidaten in die Stichwahl kamen – und kein TV-Komiker wie in der Ukraine. Allerdings mussten beide im durchaus heißen Wahlkampf zu allen Politikbereichen Stellung nehmen und dabei, übertrieben formuliert, allen Bürgern so gut wie alles versprechen. Der Präsident wird nämlich allgemein als eine Art noch mächtigerer Ministerpräsident angesehen, verantwortlich für alles und jeden. Und das, obwohl seine Kompetenzen laut Verfassung eng begrenzt sind. Der Präsident leitet vor allem die Außen- und Sicherheitspolitik. Die Innen-, Sozial- und Wirtschaftspolitik – also alle Bereiche, die das Leben der Bürger direkt beeinflussen – wird von der Regierung bestimmt, die allein dem Parlament verantwortlich ist. Der Einflußbereich des Präsidenten ist hier also sehr begrenzt. Einzig bei vielen Personalentscheidungen kann er mitmischen. Außerdem kann auch das Staatsoberhaupt Gesetze vorlegen und sein Veto einlegen. Große innenpolitische Macht wie bspw. der Präsident Frankreichs hat der litauische Kollege nicht.

Hatte Šimonytė die erste Runde für sich entscheiden können, so verlor sie in der Stichwahl haushoch gegen Nauseda. In jedem Wahlkreis gewann der Finanzfachmann gegen die Finanzfachfrau und holte am Ende sogar Zweidrittel der Stimmen. Anders als die Kandidatin zweier Großstädte wurde Nausėda im ganzen Land breit unterstützt, was großes Vertrauen in seine Person ausdrückt. Womöglich gelingt es ihm, an seinen großen Vorgänger Valdas Adamkus anzuknüpfen. Auch dieser war parteilos, konservativ und allgemein geachtet; Nausėda organisierte für ihn den Wahlkampf 2004.

Nausėda und seine Frau Diana (im  Bild o. im Stab mit ihrem Mann; die beiden erwachsenen Töchter sind lange aus dem Haus) werden wohl aus Sicherheitsgründen in die Präsidentenresidenz umziehen müssen. Bisher wohnen die beiden in einer Art Glashaus, idylllisch gelegen in einem Naturpark auf dem Stadtgebiet von Vilnius. Im Keller des Haus befindet sich Nausėdas große Bibliothek – seit vielen Jahren sammelt der Bänker vor allem antiquarische litauische Bücher. Übrigens spricht er auch fließend deutsch, da der junge Volkswirt Anfang der 90er Jahre eine Weile in Mannheim studierte.

Šimonytė wird nun zwar nicht Nachfolgerin von Dalia Grybauskaitė, doch ihr Karriere dürfte weiter nach oben gehen. Parteichef Gabrielius Landsbergis bot ihr schon den ersten Listenplatz bei der nächsten Parlamentswahl an – und den Job als Premierministerin gleich dazu. Durchaus pikant ist dabei, dass sie immer noch nicht ofizielles Mitglied der Heimatunion ist, und so wird schon spekuliert, dass sie zur neuen liberalen „Partei der Freiheit“ wechseln könnte, die Anfang Juni gegründet werden wird.

Grybauskaitė selbst wird wohl auch nicht arbeitslos werden. Die ehemalige EU-Finanzkommissarin wird als Nachfolgerin von EU-Ratspräsident Donald Tusk gehandelt. Im aktuellen „Spiegel“ heißt am Ende des Artikels „Üppig bezahlt“: „Chancen werden zudem Dalia Grybauskaitė eingeräumt. Die scheidende litauische Prasidentin kommt wie Tusk aus dem Osten und ware die erste Frau auf dem Posten. Vor allem aber tragt Grybauskaitė, 63, den schwarzen Gürtel in Karate. Der konnte helfen, um sich in Brüssel durchzusetzen.“