„Christus musste nicht für Gott sterben“

„Christus musste nicht für Gott sterben“

er bekannte Theologe und Autor Hans-Joachim Eckstein ist ein  gern gesehener Gast auf evangelikalen Veranstaltungen, sei es nun in Liebenzell, Marburg oder Siegen. Schließlich verbindet er „den Glauben mit dem Alltag, die Theologie mit den Menschen, die Uni mit der Gemeinde“. Eckstein war bis 2016 Professor an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen.

Bei der SMD ist Eckstein ein Stammredner, hielt z.B. den Hauptvortrag auf der Herbstkonferenz 2017, im Jubiläumsjahr der Reformation (s. hier). Vor zehn Jahren feierte die SMD ihr sechzigjähriges Bestehen (1949 gegründet als Studentenmission in Deutschland). Die „Heko“ 2009 hatte man daher dem Kreuz Christi gewidmet, dem Kern des christlichen Glaubens. Im gleichen Jahr erschien in der Reihe Edition-SMD des Verlages der Francke-Buchhandlung John Stotts Hauptwerk The Cross of Christ in deutscher Übersetzung (Das Kreuz). In diesem Jahr kam erfreulicherweise eine Neuauflage heraus. 1544081603-949150

Den Hauptvortrag hielt auch damals Prof. Eckstein. Er nahm darin ausführlich Stellung zu der sehr wichtigen Frage, was am Kreuz Christi geschehen und weshalb und für wen dort der Erlöser gestorben ist. Eckstein setzte dabei jedoch ganz andere Akzente als große evangelikale Theologen wie James I. Packer (geb. 1926) oder auch John Stott (1921–2011). Seine vorgebrachte Lehre ähnelt in entscheidenden Punkten nicht der der Reformatoren, sondern scheint eher von Neuerungen des neunzehnten Jahrhunderts geprägt zu sein. Auch Gedanken von Fausto Sozzini, dem Vater des unitarischen Glaubens, sind bei ihm zu finden.

„Alles viel zu kompliziert“

Eine der Kernthesen Ecksteins im Vortrag von 2009 lautet: „Es ist nicht Gott, der Objekt des Versöhnungs- und Sühnegeschehens ist.“ Und betonend noch einmal: „Es ist nicht Gott.“ Dies sei „die ganz entscheidende Weichenstellung“. Weiter heißt es in der Audioaufnahme des Vortrags:

„Christus musste nicht für Gott sterben. Nicht Gott hatte ein Problem, wir hatten ein Problem. Das ist ganz entscheidend und lässt sich bei der Versöhnungsaussage sehr schön deutlich machen. 2 Korinther 5 und Römer 5 heißt es: Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber. Es heißt nicht: Christus musste Gott versöhnen, denn Gott war gar nicht Feind, er war schon immer der Schöpfer und liebende Gott. Es heißt auch nicht: In Christus hat sich – in dialektischer Weise – Gott der Vater mit sich selbst versöhnt. Als gäbe es zwei Seiten in seiner Majestät, denen er gleichzeitig gerecht werden müsste; als wäre Gott selbst einer Gerechtigkeit unterstellt, und er hat jetzt eine Lösung gefunden, wie er sein Gesicht wahren kann als gerechter Richter und gleichzeitig barmherzig sein kann.

Alles viel zu kompliziert. Es ist viel einfacher. Christus ist nicht gestorben, um Gott zu versöhnen, denn Gott war nicht Feind. Das Evangelium ist das Ungeheuerliche: Obwohl Gott allen Grund hätte, unser Nein ernst zu nehmen und sich abzuwenden, akzeptiert Gott unser Nein nicht, nicht unsere Feindschaft, sondern er übernimmt die Rolle, die eigentlich der Schuldige hätte, nämlich sich zu entschuldigen, zu werben: lass dich doch versöhnen. Er tritt an unsere Stelle… Christus musste nicht sterben, damit Gott uns liebt, sondern Christus ist gestorben, weil Gott uns liebt.“

Zur Kritik dieses Aussagenreihe wird noch einiges zu sagen sein. An dieser Stelle nur ein Gedanke. Eckstein drückt sich präzise und klar aus, wenn er etwas ablehnt und verwirft. Im zweiten Absatz geht er zur positiven Darstellung seines Verständnisses des Kerns des Evangeliums über. Es stimmt, dass Gott „die Rolle, die eigentlich der Schuldige hätte“, übernimmt; Jesus trat tatsächlich „an unsere Stelle“. Genauso wahr ist auch, dass Christus gestorben ist, „weil Gott uns liebt“.

Was hat er uns nun aber Positives – abgesehen von Gottes Motivation – über das konkrete Werk Christi am Kreuz gesagt? Er übernahm die Rolle des sündigen Menschen, um „zu werben: lass dich doch versöhnen“. Natürlich wirbt Gott, aber dies ist gewiss nicht die Handlung, die Jesus stellvertretend für den Menschen am Kreuz vollbrachte. Denn welchen Sinn sollte dies machen? Das Werben ist schließlich nicht das, was der sündige Mensch Gott schuldig ist.

Bleibt also folgende Aussage: Jesus starb, um „sich zu entschuldigen“. Das klingt eingängig, weil natürlich irgendwie positiv, gerade in den Ohren von Christen – entschuldigen ist (fast) immer gut. Aber was soll dies in diesem Zusammenhang heißen? Bei wem bzw. vor wem entschuldigte sich Jesus? Bei Gott? Doch dann ist dieser wieder  das Objekt des Versöhnungsgeschehens, was ja laut Eckstein nicht sein darf. Und wozu dann überhaupt das Kreuz? Eine bloße Bitte um Entschuldigung käme doch wunderbar ohne das Kreuz aus. Wieso braucht es dann überhaupt einen Stellvertreter, der an unserer Statt sich entschuldigt? Oder ist mit Enschuldigung Ent-Schuldigung, also eine Schuldbeseitigung, gemeint? Aber wie, auf welche genaue Weise, geschieht diese dann? Über den halben Satz Ecksteins stolpert man beim ersten Hören kaum, die Worte sind aber in der Sache unklar und liefern nichts wirklich Substantielles. Allein dies sollte Skepsis wecken.

In der gedruckten Version des Vortrags in „SMD transparent“ (2009/04) führt Eckstein aus: „Was ist im Kreuz aber nun eigentlich geschehen?“ Er habe auch „aus berufen frommem Munde schon gehört: Christus kam, um Gott mit der Welt zu versöhnen.“ Dem wirft Eckstein auch hier entgegen: „Falsch! Christus kam nicht, um Gott mit der Welt zu versöhnen. Das würde ja voraussetzen, dass Gott dieser Welt Feind wäre. Unversöhnt war nicht Gott, unversöhnt sind wir. Christus kam und starb nicht, damit Gott uns liebt; sondern Christus kam, lebte und starb, weil Gott uns liebt.“

Präzise heißt es außerdem: „Das Kreuzesgeschehen ist nicht der Realgrund, sondern ausschließlich der Erkenntnisgrund der Liebe Gottes. Das heißt: Christus musste nicht sterben, damit Gott uns liebt, sondern weil Christus gestorben ist, wissen und erkennen wir, dass und wie sehr Gott uns liebt.“

Eckstein kommt auch auf  Anselm von Canterbury zu sprechen. Der Theologe des hohen Mittelalters entwarf ein „Modell der Satisfaktion“, wonach „Christus einen Konflikt in Gott lösen“ musste. „Ich sage aber, Gott hat gar keinen Konflikt in sich! Gott liebt nicht konditioniert oder geteilt. Gott ist Liebe, Gott ist Licht und ihn ihm ist keine Finsternis. Das, was die Sache trübte, sind wir! Die Sünde hat Christus ans Kreuz gebracht. Was uns den Tod bringt, ist unsere Trennung von Gott als dem Leben und der Liebe, die Trennung von der Beziehung, die unser Leben begründet.“

Drei verfälschende Buchstaben

Soweit die „Heko“ 2009. In einem Interview mit dem epd vom März 2010 berührte der Theologe ebenfalls diese Fragen. Eckstein betont darin wieder, dass nicht Gott versöhnt werden musste, „sondern wir, die Menschen; denn nicht Gott war der Welt gegenüber feindlich und ablehnend, sondern die Menschen gegenüber Gott.“ Außerdem ginge es „bei den biblischen Aussagen von ‘Sühne’ und Vergebung nicht primär um Strafe, sondern um die Wiederherstellung von Gemeinschaft und Heil“. Und wieder heißt es: „Christus musste nicht sterben, weil Gott ein Problem hatte, sondern weil wir als Menschen ein Problem hatten, nämlich unsere Trennung von Gott als dem Leben und der Liebe. In Christus trug Gott stellvertretend für uns die Konsequenz unserer eigenen Sünde, den Tod, damit wir nun mit ihm in seinem neuen Leben leben können.“

Ebenfalls auf den Seiten des „Instituts für Glaube und Wissenschaft“ (IGUW), das mit der SMD eng verbunden ist, befindet sich der Beitrag „Das Wort vom Kreuz“ aus der Feder Ecksteins. Die Überschrift von Kapitel V lautet „Wer wird versöhnt?“ Eckstein fragt rhetorisch: „Bestand nicht zwischen Gott und uns vor dem Sterben Christi der Zustand beidseitiger Feindschaft, und galt uns nicht anstatt der Liebe Gottes vorher nur sein Zorn? Musste nicht Christus zunächst den Vater mit uns versöhnen, so dass die Zuwendung Gottes zu uns lediglich als das Ergebnis der Vermittlung Christi zu verstehen ist?“ Eckstein kommt auch in diesem Text zu dem Schluss: „Christus musste nicht Gott, den Vater, mit uns versöhnen“. Es könne „von Feindschaft nur in Hinsicht auf unsere einseitige Ablehnung und Auflehnung Gott gegenüber gesprochen werden.“

Eckstein betont: „nicht sich selbst musste Gott ändern, sondern uns“; „nicht seine Abneigung galt es zu überwinden, sondern unsere Feindschaft und unsere Trennung von ihm als dem Leben und der Liebe.“ Er will den „für uns heute leider recht missverständlichen Begriff des ‘Zornes’ Gottes“ nicht verwerfen und hält fest: „Unter Gottes Zorn haben wir seine entschiedene Ablehnung der Sünde zu verstehen“. Er habe aber „mit menschlicher Wut und unbeherrschten Zornausbrüchen nichts gemeinsam“. „Gerade weil Gott den Sünder liebt, wendet er sich konsequent gegen die Sünde, die den Menschen von Gott trennt und damit Leben und Liebe zerstört.“

Es ist nur zu gut bekannt, dass es in der Theologie manchmal um einzelne Worte, ja Buchstaben geht (man denke an den arianischen Streit). In der gerade zitierten rhetorischen Frage ist es ein einziges kurzes Wort, das uns vor eine falsche Alternative stellt: „galt uns nicht anstatt der Liebe Gottes vorher nur sein Zorn?“ Ist die „Zuwendung Gottes… lediglich [nur]… das Ergebnis der Vermittlung Christi“? Sicher nicht! Aber wer hat je so etwas behauptet? Eckstein will den Gedanken einfach nicht zulassen, dass Gott dem Sünder sowohl in Zorn und Feindschaft als auch in Liebe gegenüber steht. Er will eben sein „es ist alles ganz einfach“ durchdrücken, und da macht er es sich selbst ganz einfach: entweder nur Zorn oder nur Liebe.

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John Stott (in den 80er Jahren)

Gottes „Doppelheit“

Eckstein ist landeskirchlicher Theologe, doch wer in den Bekenntnisschriften verwurzelt ist und sie noch halbwegs ernst nimmt, wird bei den steilen Aussagen des Tübinger Professors ins Stutzen kommen. Schließlich spricht z.B. der Heidelberger Katechismus nicht weniger als sieben Mal von einer Bezahlung durch das Opfer des Sohnes am Kreuz. Und wer ist Empfänger dieser Zahlung? Gott, der so versöhnt wurde. Ist in diesem so wichtigen Katechismus der Tod Jesu am Kreuz „nicht der Realgrund, sondern ausschließlich der Erkenntnisgrund der Liebe Gottes“? Ganz gewiss nicht! Autor Zacharias Ursinus hielt eben an einem Satisfaktionsmodell fest.

Auch im Kurzen Westminster-Katechismus der Presbyterianer heißt es eindeutig: „Christus übt das Amt eines Priesters aus, indem er sich einmal als ein Opfer gab, um die göttliche Gerechtigkeit zu erfüllen, und um uns mit Gott zu versöhnen, und indem er fortdauernd für uns eintritt.“ (25) Natürlich spricht auch Martin Luther an vielen Stellen von der Versöhnung des Menschen mit Gott in dem Sinne, dass Gott versöhnt wurde.

Es wäre nun zu erwarten, dass John Stott in Das Kreuz in diesen entscheidenden Fragen eine im Kern gleiche Position wie Eckstein vertritt, doch dies ist keineswegs der Fall. In   Kapitel 5 betont der anglikanische Theologe dort, dass in der Bibel zahlreiche Begriffspaare wie Gerechtigkeit und Liebe oder Heiligkeit und Barmkerzigkeit, Güte und Strenge, Gottes Zorn und Gottes Liebe „eine ‘Dualität’ im Inneren Gottes ausdrücken“. Der schweizer reformierte Theologe Emil Brunner (1889–1966) zögere nicht, so Stott, in Der Mittler (1927) von „Gottes ‘Doppelheit’ als dem ‘zentralen Geheimnis der Christusoffenbarung’ zu schreiben. Denn ‘Gott ist nicht einfach die Liebe. Gottes Wesen soll nicht mit einem einzigen Wort ausgesagt werden können’.“

Mit Brunner beklagt Stott „das Untergehen des Gedankens der göttlichen Heiligkeit in dem der göttlichen Liebe.“ Noch einmal Brunners wichtiges Werk zitierend: „Das Kreuz ist der einzige Ort, wo der liebende, vergebende, barmherzige Gott so geoffenbart ist, dass er zugleich als der heilige ebenso unbedingt anzuerkennen ist, wie als der liebende.“ Versöhnung sei daher zu verstehen als „die Vereinigung beider, der unverbrüchlichen Strafgerechtigkeit und der alles übergreifenden Liebe“.

Auch der niederländische reformierte Theologe Gerrit C. Berkouwer (1903–1996) kommt bei Stott zu Wort: „Im Kreuz Christi werden Gottes Gerechtigkeit und Liebe gleichzeitig geoffenbart.“ Unmißverständlich schließlich auch Johannes Calvin: „Auf eine wunderbare und göttliche Weise hat er [Gott] uns geliebt, selbst als er uns hasste.“ (Inst. II,16,4)

All diese Autoren und Stott selbst widersprechen also eindeutig dem ‘Monismus’ Ecksteins, der ja von einer Dualität in Gott, von den „zwei Seiten in seiner Majestät“, nichts, aber auch gar nichts wissen will.

Eingangs von Kapitel 6 („Die Stellvertretung durch Gott selbst“) formuliert Stott das Grundproblem einer sündigen Menschheit in der Frage „Wie kann die heilige Liebe Gottes sich mit der unheiligen Lieblosigkeit des Menschen abfinden?“ Und er fügt direkt hinzu: „Das Problem liegt nicht außerhalb von Gott, es liegt in seinem Wesen.“ Eckstein dagegen: Das Problem liegt ausschließlich bei uns und in keiner Weise in Gott.

Wie wir sahen will Eckstein an der Stellvertretung festhalten. Damit steht er in einer langen Traditionslinie. Stott weiter: „Wahrend der letzten Jahrhunderte wurden eine Reihe einfallsreicher Versuche unternommen, das Vokabular der ‘Stellvertretung’ zu erhalten, dabei aber die ‘stellvertretende Strafe’ abzulehnen.“ Er nennt Abaelardus aus dem hohen Mittelalter, Socinus (Sozzini) „höhnische Ablehnung der Lehre der Reformatoren“ und dessen De Jesu Christo Servatore (1578), außerdem John McLeod Campbells The Nature of Atonement (1856).

In den Augen des Letztgenannten, des sehr einflussreichen schottischen Theologen (1800–1872), „seien die Leiden Christi keine ‘Strafleiden, die er erduldete, indem er die Forderung der göttlichen Gerechtigkeit erfüllte’, sondern ‘die Leiden der göttlichen Liebe, die ihrer eigenen Natur gemäß unter unseren Sünden litt’.“

McLeod Campbell lehnte die Auffassung ab, „dass Christus am Kreuz bestraft wurde“, so Alister McGrath in Der Weg der christlichen Theologie. Laut McGrath vertrat der Schotte die Vorstellung einer „stellvertretenden Buße“, dass nämlich „Christus ein vollkommenes Sündenbekenntnis zugunsten der Menschheit ablegte, das in irgendeiner Weise erlösend wirke. Für Campbell muss man sich den gekreuzigten Christus so vorstellen, dass er ‘die Sünde und den Sünder mit Gottes Augen betrachtet und im Blick auf sie mit Gottes Herzen fühlt.’ Bei der Kreuzigung geht es nicht um das göttliche Auferlegen ‘einer bestrafenden Zufügung’ auf Christus, sondern darum, dass Christus Gottes Hass gegen die Sünde und seine Liebe zum Sünder manifestiert und verkörpert.“

McGrath geht in seinem Lehrbuch auch auf Robert C. Moberlys Atonement and Personality (1901) ein und kommt zu dem Schluss: „Keiner dieser Ansätze kann als ‘strafrechtlich’ betrachtet werden; beide nehmen aber den Gedanken der Stellvertretung auf, nach dem Christus etwas tut – in diesem Fall: Gott Buße für die Sünde anzubieten –, das die Menschheit selbst hätte tun sollen.“ Es ist zu vermuten, dass diese Argumentationslinie auch Eckstein inspirierte, wenn er vom Entschuldigen Jesu an unserer Statt spricht.

Stotts resumiert jedoch zu diesen Ansätzen: „Auf diese Weise hat sich das ‘Sündentragen’ in Mitleid aufgelöst, die ‘Genugtuung’ in Trauer über die Sünde, und die ‘Stellvertretung’ in eine stellvertretende Buße anstelle einer stellvertretenden Strafe.“

Doppelseitige Feindschaft

Stott zitiert auch zustimmend J.I. Packers wichtigen Artikel „What Did the Cross Achieve? The Logic of Penal Substitution“ (1974). Demnach bedeutet die stellvertretende Strafe, „dass unser Herr Jesus Christus, getrieben von einer Liebe, die entschlossen war, alles Notwendige zu tun, um uns zu retten, das vernichtende göttliche Gericht erduldete und bis zur Neige leerte, dem wir sonst unentrinnbar verfallen gewesen wären, und so für uns Vergebung, Annahme an Kindes Statt und Herrlichkeit erlangte.“

Stott wendet sich aber gegen die Vorstellung, „als wäre Jesus ein unwilliges Opfer der strengen Gerechtigkeit Gottes gewesen“. Vater und Sohn waren in erster Linie „Subjekte, die gemeinsam die Initiative zur Rettung der Sünder ergriffen. Was immer am Kreuz im Sinne einer ‘Gottverlassenheit’ geschah, wurde von beiden freiwillig akzeptiert, aus derselben heiligen Liebe heraus, welche die Sühne überhaupt notwendig machte.“

„Der einzige Weg, der heiligen Liebe Gottes Genugtuung zu verschaffen, besteht darin, dass sich seine Heiligkeit im Gericht gegen den von ihm erwählten Stellvertreter richtet, damit sich seine Liebe in der Vergebung auf uns richten kann“, so Stott. „Indem er seinen Sohn gab, gab er sich selbst.“ Er zitiert R.W. Dale (1829–1895): „Die geheimnisvolle Einheit des Vaters und des Sohnes machte es Gott möglich, das Strafleiden gleichzeitig zu erdulden und zu verhängen.“

In Kapitel 7 von Das Kreuz  wird noch einmal deutlich, dass Ecksteins und Stotts Lehren nicht zusammenpassen. „Die entscheidende Frage ist, wie das Sühnehandeln Jesu zu verstehen ist: Ist das Objekt der Sühne Gott oder der Mensch? Im ersten Fall wäre das richtige Wort ‘Sühnung’ (Gott versühnen, engl. propiation); im zweiten Fall ist der richtige Ausdruck ‘Wegnahme der Sünde’ (engl. expiation).“

Nach der klassischen Lehre, die auch Stott vertritt, geschah am Kreuz sowohl „propiation“ als auch „expiation“ (der australische Theologe Leon Morris hat in The Apostolic Preaching of the Cross, 1955, eine ausführliche biblische Begründung geliefert). Stotts Landsmann C.H. Dodd (1884–1973) legte jedoch den ganzen Akzent z.B. bei der Deutung von Röm 3,25 auf die Wegnahme der Sünde, nicht die Sühnung. Stott lehnt diesen Ansatz ab. In einer Fußnote bemerkt der deutsche Herausgeber gut: „‘Propiation’ bedeutet Sühne im Sinne von ‘Sühnung’ oder ‘Besänftigung’, wobei Gott das Objekt ist. ‘Expiation’ bedeutet Sühne im Sinne von ‘Wegnahme’, wobei die Sünde das Objekt ist.“ Es sieht also ganz danach aus, dass Eckstein Dodd folgt und das gr. hilasterion ausschließlich im Sinne des engl. „expiation“ verstehen will, nicht „propiation“.

Gott ist zwar auch Objekt des Sühnegeschehens, doch „es kann nicht stark genug betont werden, dass Gottes Liebe die Quelle, nicht die Konsequenz der Sühne ist.“ Stott ist also hier ganz bei Eckstein, der ja betont: „Christus ist gestorben, weil Gott uns liebt“. Der Brite zitiert den schottischen Theologen P.T. Forsyth (1848–1921): „Die Sühne erwirkte nicht die Gnade, sie floss aus der Gnade.“ Stott führt weiter aus: „Gott liebt uns nicht, weil Christus für uns gestorben ist; sondern Christus starb für uns, weil Gott uns liebte. Wenn es Gottes Zorn ist, der versühnt werden musste, ist es Gottes Liebe, welche die Sühnung bewirkte… Was durch die Sühnung verändert wurde, ist sein Umgang mit uns.“

Stotts Zusammenfassung: „Es ist Gott selbst, der in heiligem Zorn versühnt werden muss, Gott selbst, der es in heiliger Liebe auf sich nahm, die Sühnung zu bewirken, und Gott selbst, der in der Person seines Sohnes als Sühnung für unsere Sünden starb.“

Der Unterschied zwischen Stott und Eckstein tritt auch in diesen Sätzen klar zu Tage: „Es ist ein Fehler zu denken, die Barriere zwischen Gott und uns, die das Werk der Versöhnung notwendig machte, hätte sich ausschließlich auf unserer Seite befunden, sodass wir versöhnt werden mussten, Gott aber nicht [Ecksteins Lehre – „ein Fehler“]. Sicher, wir waren ‘Feinde Gottes’, ihm feindselig gesonnen. Doch die ‘Feindschaft’ bestand auf beiden Seiten [gegen Eckstein]. Die Mauer oder Schranke zwischen Gott und uns bestand sowohl aus unserer Rebellion gegen ihn als auch aus seinem Zorn auf uns aufgrund unserer Rebellion.“

Eindeutig ist schließlich auch dieser Abschnitt: „Der ‘Friede’, den Evangelisten predigen (Eph 2,17), kann also nicht die Überwindung unserer Feindschaft sein (schließlich predigen sie ja, damit sie überwunden wird), sondern die Tatsache, dass sich Gott aufgrund des Kreuzes Christi von seiner Feindschaft abgewendet hat.“ Und noch einmal bei Stott Emil Brunner in Der Mittler: „Versöhnung setzt Feindschaft zwischen zweien voraus. Wirkliche Versöhnung, objektives Versöhnungsgeschehen setzt genauer doppelseitige Feindschaft voraus; dass der Mensch Gott und dass Gott dem Menschen feind sei.“

Drei Positionen

Der schon zitierte J.I. Packer ist wie Stott anglikanischer Theologe und der letzte noch lebende der großen und prägenden evangelikalen Leiter des 20. Jahrhunderts. 1973 erschien sein bis heute wohl bekanntestes Buch, das in vielen Ländern ein Bestseller wurde: Knowing God. Im Kapitel „Der Kern des Evangeliums“ in der deutschen Ausgabe Gott erkennen bringt es Packer auf den Punkt: „Im Christentum hingegen [anders als im Heidentum] versöhnt Gott Seinen eignen Zorn durch Sein eigenes Handeln… Es war Gott selbst, der Seinen Zorn löschte gegen jene, die Er – trotz allem – liebte und retten wollte.“

Dem verlorenen Menschen steht Gott in Liebe und Zorn gegenüber. Die moderne zeitgenössische Theologie – und mit ihr Eckstein – lehrt dagegen fast unisono: Gott muss nicht versöhnt werden. Gott braucht das Kreuz nicht, er braucht kein Menschenopfer, um besänftigt, um versöhnt zu werden. Jesus starb nicht, um Gottes Haltung zu mir, sondern um unsere Haltung zu Gott zu ändern. Das Kreuzesgeschehen ist nicht mehr der Realgrund, sondern – s.o. Eckstein – ausschließlich der Erkenntnisgrund der Liebe Gottes.

1974 vertiefte Packer die in Knowing God eher nur angerissenen Gedanken in „What Did the Cross Achieve?“ – bis heute eine der besten Darstellungen  zum Thema (nun auch im Sammelband In My Place Condemned He Stood). Darin fasst der Theologe die unterschiedlichen Interpretationsansätze sehr gut zusammen. Was erreichte oder schaffte das Kreuz? In einem weiten Sinne natürlich die Erlösung. Aber was genau bewirkte Christi Tod? Packer unterscheidet drei grundlegende Antworten.

Nach der einen Auffassung hat das Kreuz „ausschließlich eine Auswirkung auf Menschen: sei es nun, dass Gottes Liebe zu uns offenbart wird; oder dass uns deutlich gemacht wird, wie sehr Gott Sünde hasst; oder mit dem Ziel, uns ein höchstes Beispiel des gottgefälligen Lebens zu geben; oder um einen Weg zu Gott freizumachen, den wir dann beschreiten sollen…Es wird vorausgesetzt, dass unser grundlegendes Bedürfnis eine mangelnde Motivation zu Gott hin ist, uns fehlt es an Offenheit für das Einströmen des göttlichen Lebens; um uns in die richtige Beziehung zu Gott zu bringen, ist nur ein Wandel in diesen beiden Punkten nötig, und genau diesen bringt Christi Tod hervor… Was Christus für uns getan hat wird mit dem gleichgesetzt, was er in uns tut.“ Eckstein ist natürlich dieser Antwort zuzuordnen.

Eine zweite Position: Christi Tod hatte vor allem und zuerst eine Auswirkung auf feindliche geistliche Mächte, die uns gefangen hielten. Am Kreuz wurden diese Mächte, der Satan vor allem, besiegt.

Packer anschließend zur dritten Sicht, die auch die seine ist. Diese „leugnet nichts von dem, was von den anderen beiden Positionen bekräftigt wird – außer deren Anspruch, vollständig zu sein [man erinnere sich an Ecksteins mehrfach betont vorgebrachte „ausschließlich“]. Sie gesteht ein, dass es für sie eine biblische Grundlage gibt, doch sie geht weiter. Dass wir Opfer der Sünde und des Satans sind und dies unser menschliches Schicksal ist, wird mit der Tatsache begründet…, dass der Mensch als Sünder unter dem göttlichen Gericht steht; seine Gefangenschaft im Bösen ist der Beginn seiner Strafe, und er ist auf ewig verloren, solange nicht Gottes Verwerfung in Annahme verwandelt ist. Nach dieser Sicht hatte Christi Tod zuerst auf Gott eine Wirkung, der damit besänftigt wurde…“

Auch McGrath (s.o.) zitiert aus Packers Aufsatz. Christi Tod hatte zunächst Wirkung auf Gott, „der dadurch versöhnt wurde (oder besser, sich dadurch selbst versöhnte), und nur weil er diese Wirkung hatte, ergab sich daraus ein Sturz der Mächte der Finsternis und eine Offenbarung der nachgehenden und rettenden Liebe Gottes. Dieser Gedanke läuft darauf hinaus, dass Christus Gott das bot, was der Westen die Satisfaktion für die Sühne genannt hat, eine Genugtuung, die Gottes eigenes Wesen als das einzige Mittel vorsah, durch das sein Nein zu uns zu einem Ja werden konnte… Jesus sühnte, indem er das Kreuz auf sich nahm, unsere Sünden, versöhnte unseren Schöpfer, verwandelte Gottes Nein zu uns in ein Ja und rettete uns auf diese Weise.“ (Hervorhebungen H.L.)

Das Ergebnis ist folglich eindeutig: Eckstein hat sich von jeder Satisfaktionslehre entfernt – nicht nur von der des Anselms, sondern auch von der deutlich modifizierten der Reformatoren. Stott und Packer halten jedoch am reformatorischen Ansatz (wie er bis heute im Heidelberger Katechismus zu finden ist) fest.

Ein statischer Gottesbegriff

Stott geht in seinem Buch auf die „höhnische Ablehnung der Lehre der Reformatoren“ durch Fausto Sozzini (latinisiert Faustus Socinus) nur am Rande ein. Es ist das Verdienst des aus Litauen stammenden Theologen Kestutis Daugirdas, die Bedeutung und breite Wirkung der Lehre des Italieners neu gewürdigt zu haben. Seit dem vergangenen Jahr ist Daugirdas wissenschaftlicher Leiter der Johannes a Lasco-Bibliothek in Emden, unterricht außerdem in Tübingen. 2016 legte er mit Die Anfänge des Sozinianismus seine Habilitationsschrift vor.

„Wichtige Traditionsstränge der abendländischen Soteriologie“ wurden durch Sozzini gekappt. Erlösung betrachtete dieser „nur als eine Metapher für die Erkenntnis des gnädigen Willen Gottes durch den Menschen und seinen daraus resultierenden Lebenswandel“; sie ist die „Erkenntnis der in Christus geoffenbarten Güte Gottes“ (Ecksteins alleiniger „Erkenntnisgrund“!).  Rechtfertigung ist nicht die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, sondern besteht darin, dass Menschen ihn kennen und ihm änlicher werden. Rechtfertigung ist daher nicht im Verdienst Christi, sondern in der Freigiebigkeit Gottes begründet.

Mit den Antitrinitariern und ersten Unitariern (wie Ochino, Biandrata oder eben Sozzini) mussten sich auch die orthodoxen Protestanten auseinandersetzen. In Litauen griff der Kopf der Reformierten, der aus Westpolen stammende Andreas Volanus (ca. 1530–1610), aktiv in die Debatten ein. Daugirdas hatten dessen Wirken und Schriften in seiner Doktorarbeit Andreas Volanus und die Reformation im Großfürstentum Litauen (2009) gewürdigt.

„Weder die polnischen noch die litauischen Unitarier [zogen] aus ihrer Ablehnung der Gottheit Christi die Konsequenz“ der Kritik der Rechtfertigungs- und Versöhnungslehre, so Daugirdas. Volanus hatte aber die Verbindung schon erkannt: die traditionelle Versöhnungslehre ist nur unter Voraussetzung der Trinität möglich. Unter den Antitrinitarien ging erst Sozzini weiter und wandte die Leugnung der vollen Gottheit des Sohnes auf die Erlösungslehre an. Er „unternahm die konsequente Destruktion vor allem der Satisfaktionslehre und setzte an ihre Stelle seine Lehre von der Versöhnung der Welt mit Gott, die dadurch ermöglicht wird, dass Gott der Welt ihre Sünde nicht anrechnet.“

Christus habe laut Sozzini schon vor seinem Tod die Vergebung aller Sünde angeboten. Daugirdas: „Christus kann gar nicht erst mit seinem Blut, d.h. Leiden und Sterben, Gott mit dem Menschen versöhnt haben… Folglich kann der Tod Christi nicht dazu gedient haben, Gott mit den Menschen zu versöhnen, sondern aufzuzeigen, dass er bereits versöhnt sei, damit daraufhin die Menschen zu Gott zurückkehren, die sich von ihm entfremdet hätten. Die grundlegende Differenz zwischen der Versöhnungslehre Sozzinis zu derjenigen seiner Gegner besteht demnach in der Bestimmung des Zielobjekts des (Opfer-)Todes Christi. Bildet nach der anselmisch geprägten Satisfaktionslehre primär Gott selbst dieses Zielobjekt und erst danach der Sünder, so ist es nach Sozzini primär und ausschließlich der sündige Mensch. Dies ist für Sozzini eine schlichte Sache der Logik: Weil Gott in Christus als Erlöser handelt und seinen eigenen Sohn als Lösegeld gibt, kann er als Geber nicht auch Empfänger desselben sein. Das Zielobjekt, um dessen willen Christus als Lösegeld hingegeben wird, ist der der Sklaverei der Sünde verfallene Mensch, der dadurch die Freiheit wieder erlangt.“ Sozzini ist also ein wichtiges Beispiel der ersten Sicht bei Packer. Und es wäre zu fragen, wo Eckstein dem Italiener hier nicht folgt, schließlich setzt er doch die gleichen Akzente wie der Unitarier.

Damit einher geht eine „Umkehrung der Richtung des Versöhnungsaktes“. „Während z.B. bei Volanus die Versöhnung Gottes mit der Welt ein objektiver Vorgang in Gott selber ist, ist es nach Sozzini eigentlich der Mensch, der diesen Akt vollbringen muss: Weil Gott bereits dem Menschen gnädig gestimmt ist, müsse der Gott gegenüber feindselig gesinnte Mensch von seiner negativen Haltung und seinen Sünden ablassen und nach der Versöhnung mit Gott streben. Diese Umkehrung der Richtung des Versöhnungsaktes hat eine dreifache Ursache: einen unterschiedlich strukturierten Gottesbegriff, die daraus resultierenden Umdeutung des Attributes der Gerechtigkeit Gottes und eine grundlegend anders ausgerichtete Anthropologie.“

Nur eine trinitarische Theologie, die Volanus gegen die Unitarier verteidigte, macht es möglich, „das Versöhnunsgwerk Christi in das innertrinitarische Geschehen des dreieinigen Gottes hineinzuholen und so Gott als Objekt seiner eigenen Handlung zu erfassen, in denen er sich als gerecht und barmherzig erweist… Dem trinitarisch strukturierten Gottesbegriff ist es also zu verdanken, dass von Gott zwei scheinbare einander entgegengesetzte, für die Heilige Schrift allerdings zentrale Attribute der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit sinnvoll ausgesagt werden können.“ Hier haben wir wieder die Dualität bei Stott oder die „zwei Seiten in Gottes Majestät“, die Eckstein aber so ablehnt.

Die Unitarier dagegen hatten einen eher statischen Gottesbegriff. Gott könne daher „unmöglich gerecht im Sinn des strafenden Richters und barmherzig zugleich sein. Gott ist vielmehr und vor allem barmherzig.“ Auch die Unitarier hätten ihren Gegner dies entgegen geworfen: „Alles viel zu kompliziert. Es ist viel einfacher. Christus ist nicht gestorben, um Gott zu versöhnen, denn Gott war nicht Feind.“

Wie sich zeigte, ist die Frage, was genau am Kreuz geschah und für wen genau Christus starb, durchaus komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint – zumindest so kompliziert, dass ernste Diskrepanzen zwischen Eckstein und Stott auch theologisch Geschulten offensichtlich nicht aufgefallen sind. Man kann daher nur mit Gernot Spieß im Vorwort von Das Kreuz den Glauben an das Geschehen an eben diesem Kreuz „tiefer zu durchdenken“.