„Die Hauptsumme des christlichen Lebens“

„Die Hauptsumme des christlichen Lebens“

„Wie wird die Kirche neu?“ fragte vor über vierzig Jahren mit dem gleichnamigen Buch der spätere Landesbischof der Württembergischen Kirche Theo Sorg. Es ist vielsagend, dass seine dortigen Ausführungen bis heute kaum etwas von ihrer Aktualität verloren haben. Sorg bietet keine radikal neuen Rezepte, sondern empfiehlt der Kirche, sich auf ihre alte Hauptaufgabe zu konzentrieren: die erweckliche Verkündigung des Evangeliums mit dem Ziel der Buße und Umkehr.

Wenn von den Aufgaben der Kirche heute die Rede ist, hört man meist wenig von so etwas Altbackenem wie dem Bußruf. In der Ethik geht es heutzutage um Transformation, Klimaschutz und diverse Gerechtigkeiten. Hier ist ein Begriff nicht nur aus der Mode, sondern fast ganz aus der christlichen Lexik verschwunden: die Selbstverleugnung. Johannes Calvin überschrieb dagegen Kapitel III,7 in der Institutio „Die Hauptsumme des christlichen Lebens; hier ist von der Selbstverleugnung zu reden“. Diese ist also zentral für die Ethik und das Leben allgemein. Im ersten Abschnitt stellt der Reformator dar, dass wir „nicht unsere eigenen Herren sind“. Vielmehr sind wir „Gottes Eigentum – also sollen wir ihm leben und ihm sterben!“ Anschließend betont er die Hingabe an Gott:

„Der Christenmensch muss wahrlich so beschaffen und so zubereitet sein, dass er bedenkt: ich habe es in meinem ganzen Leben mit Gott zu tun. Aus diesem Grunde wird er all sein Tun und Lassen nach Gottes Urteil und Ermessen richten. Ebenso wird er auch alles Streben seines Herzens fromm auf ihn lenken. Denn wer es gelernt hat, bei allem, was er auszurichten hat, auf Gott zu schauen, der wird dadurch zugleich von allem unnützen Gedanken abgewendet. Dies ist die Selbstverleugnung, die Christus mit solchem Nachdruck allen seinen Jüngern von ihrer ersten Lehrzeit aufträgt. Hat diese Selbstverleugnung einmal unser Herz ergriffen, so lässt sie zunächst der Hoffart, der Aufgeblasenheit, der Prahlerei, dann aber auch dem Geiz, der Gier, der Ausschweifung, der weichlichen Wollust und all dem anderen, was aus unserer Selbstliebe entsteht, keine Raum mehr. Wo sie dagegen nicht das Regiment führt, da verbreiten sich schamlos selbst die gemeinsten Laster – oder aber es wird zwar ein Schein der Tugend sichtbar, er ist aber durch böse Ruhmsucht verdorben.“

In Abschnitt 4 sehr nüchtern:

„Wenn uns die Schrift für den Umgang mit den Menschen die Weisung gibt: ‘Einer komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor’ (Röm 12,10; Phil 2,3), so dass wir also aus ehrlichem Herzen alles daransetzen sollen, für das Wohlergehen der anderen zu sorgen – so erteilt sie uns damit einen Befehl, den unser [gefallenes] Herz nicht fassen kann, wenn es nicht zuvor seines natürlichen Sinnes entledigt worden ist. Denn wir sind ja alle aus furchtbarer Blindheit in Selbstliebe versunken – und deshalb glaubt jeder einen gerechten Grund zu haben, um sich selbst zu erheben, alle anderen dagegen im Vergleich mit sich selbst zu verachten. Hat uns Gott etwas geschenkt, dessen wir uns nicht schämen brauchen, so setzen wir gleich unser Vertrauen darauf und erheben unser Herz, wir blasen uns auf, ja wir bersten schier vor Hochmut! Unsere Laster, von denen wir so viele haben, verstecken wir mit Fleiß vor den anderen und machen uns selbst schmeichlerisch vor, sie seien geringfügig und unerheblich, ja wir hätscheln sie gar noch als Tugenden!.. So trägt jeder Einzelne durch seine Selbstbespiegelung irgendein Königreich in seinem Herzen. Denn jeder spricht sich anmaßend etwas zu, kraft dessen er an sich selbst Gefallen findet – und von da aus sitzt er dann über dem Charakter und der Lebensweise des anderen zu Gericht! Wenn es aber zum Streite kommt, dann bricht das Gift offen hervor… Da gibt es kein anderes Heilmittel, als dass die furchtbar schädliche Pestilenz der Ehrsucht und Selbsthilfe aus dem tiefsten Inneren herausgerissen werde – wie das durch die Unterweisung der Heiligen Schrift wirklich geschieht. Denn die Schrift lehrt uns so, dass wir daran denken: die Gaben, die uns Gott gewährt hat, sind nicht unser Besitz, sondern Gottes Geschenk; wenn einer nun darüber hoffärtig wird, so kommt seine Undankbarkeit ans Licht.“