Warum ein Kind?

Warum ein Kind?

[Dieser Beitrag wurde inspiriert von Thomas Jeisings Uns ist ein Kind geboren]

Weihnachten ist heute ein Fest der Gaben, der Kinder und der Familie. Allerdings ist dies, historisch gesehen, ein recht junges Phänomen. Bis zum Beginn der Neuzeit machte man Kindern nur am Tag des Hl. Nikolaus am 6. Dezember Geschenke. Erst in den letzten Jahrhunderten wanderte die Beschenkung zum Weihnachtsfest herüber.

Bis in die Neuzeit hinein war Weihnachten daher ein klassisches Kirchenfest praktisch ohne private oder familiäre Seite. Erst seit der Reformation verlagerte sich das Weihnachtsfest in den Städten immer mehr aus der Kirche in die Familie hinein. Im 19. Jahrhundert fand die liturgische Feier zwar noch in der Kirche statt, das eigentliche Weihnachtsfest aber wurde zu Hause gefeiert. Die Weihnachtsfeier wurde zu einer bürgerlichen Privatangelegenheit, zu einem Familienereignis mit Bescherung, Weihnachtsbaum und Festessen. Und mehr und mehr rückten die Kinder in den Mittelpunkt.

Weihnachten war also lange nicht so sehr ein Fest der Kinder, wohl aber das Fest des Kindes – des Säuglings, der einst in Bethlehem geboren wurde. Bei Lukas sind in der Weihnachtsgeschichte die Worte eines Engels an die Hirten wiedergegeben: „An folgendem Zeichen werdet ihr das Kind erkennen: Es ist in Windeln gewickelt und liegt in einer Futterkrippe“ (Lk 2,12). Tatsächlich finden sie das Kleinkind oder den Säugling (so wörtlich brephos), der „der Messias, der Herr“ oder „Retter“ ist (V. 16 und 11). Später im Kapitel wird von der Darbringung Jesu im Tempel in Jerusalem berichtet. Hier ist von dem Kleinkind (gr. paidion) die Rede, das der alte Simeon aber immer noch offensichtlich leicht in seine Arme nehmen konnte (V. 28).

In Lukas 1–2 steht (neben dem ebenfalls kleinen Johannes, dem Täufer) ein Säugling oder Kleinkind im Mittelpunkt. Warum überhaupt ein kleines Kind? Warum kam der Sohn Gottes nicht direkt in der Gestalt eines erwachsenen Mannes auf die Erde? Wäre dies dem Allmächtigen nicht möglich gewesen? Warum keine eindrücklichere Erscheinung? Warum ausgerechnet ein Säugling, der doch in der griechisch-römischen Kultur noch nicht einmal als richtiger Mensch galt?

Die Geburt eines Kindes zeigte, dass sich Vorhersagen aus dem Alten Testament erfüllten. Hier ist natürlich Jesaja 9,5 zu nennen – ein Vers, der damals schon lange messianisch verstanden wurde: „Ein Kind wurde uns geboren, ein Sohn wurde uns geschenkt. Die Herrschaft wurde auf seine Schulter gelegt. Man rief seinen Namen aus: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens.“

Warum ein Kind? Fünf weitere Dinge können wir nennen.

1. Das Kind Jesus zeigt, dass der Retter ein wirklicher Mensch ist. Woher hätte ein erwachsener Jesus, der direkt vom Himmel gekommen wäre, seinen Leib bekommen? Sein Körper wäre ein himmlischer gewesen, ein anderer Körper als der unsere. Die Geburt des Kindes durch eine Frau versichert uns, dass Jesus einen irdischen Körper wie wir erhielt. Auch wenn dieser Körper nun „verherrlicht“, also verwandelt ist, ist und bleibt es doch ein wirklich menschlicher Körper.

Jesus hatte eine menschliche Seele und einen menschlichen Leib; er starb mit diesem Leib und wurde mit ihm auferweckt; mit dem verwandelten Körper wurde er in den Himmel aufgenommen. So wie er werden auch wir Christen eines Tages „alle verwandelt werden“ (1 Kor 15,51). Dieser Jesus selbst wird „unseren armseligen Leib verwandeln in die Gestalt seines verherrlichten Leibes“ (Phil 3,21).

Wir alle waren einmal Säuglinge. Jesus kam ebenfalls als Säugling auf die Welt und zeigte auch dadurch, dass er uns wirklich gleich geworden ist. Daher können wir gewiss sein, dass wir auch in der Ewigkeit ihm ähneln werden – mit dem eigenen, echten Körper.

2. Das Kind Jesus zeigt, dass sich der Retter vom Beginn seines irdischen Lebens an erniedrigte. Die Position eines Kindes ist bis heute zweifellos ein sehr niedrige, denn sehr viele Dinge können sie nicht, weshalb sie auch die meisten Rechte nicht in Anspruch nehmen können; vieles lässt man sie nicht tun. Auch Maria und Josef kontrollierten das Leben Jesu anfangs fast vollständig, später war er ihnen Gehorsam schuldig.

Heute begegnen wir kleinen Kinder zwar meist recht emotional, aber dies war historisch gesehen längt nicht immer der Fall und in der Antike eher genau anders herum. Das Kleinkind stand in jeder Hinsicht niedrig und wurde sogar mehr verachtet als geschätzt. Hinzu kommt, dass Jesus irgendwo am Rand des Römischen Imperiums, in einer unbedeutenden Kleinstadt in einem kleinen Vasallenkönigtum geboren wurde – der Retter der Welt kam nicht im damaligen Zentrum der Welt, nicht in Rom und noch nicht einmal in Jerusalem zur Welt; nicht in einem Palast und nicht in einer Villa der Wohlhabenden. Jesus wurde in einem einfachen Haus mit zwei Räumen geboren, in dem das Gästezimmer (traditionell eher falsch als „Herberge“ übersetzt) wegen der vielen Besucher im Ort belegt war. Einfacher konnte der Messias nicht in die Welt kommen.

Nicht nur in der Passion, in Leid, Kreuz und Tod, erniedrigte sich Jesus. Er litt in seinem gesamten Leben, war immer gehorsam und in niedriger Position. Paulus schreibt: „Er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“ (Phil 2,7–8) Von der Geburt „bis zum Tod“.

3. Vor allem das Kind Jesus zeigt, dass der Retter auf Erden schwach Säuglinge sind in erster Linie schwach. Sie atmen, essen, verdauen und schlafen. Ansonsten tun sie kaum etwas, nicht einmal sprechen können sie. Die Hilflosigkeit und Schwäche des Menschen zeigt sich wohl nirgends so deutlich wie im Kleinkindalter.

Jesus wuchs natürlich zu einem erwachsenen und recht kräftigen Mann heran (schließlich arbeitete er viele Jahre auf dem Bau). Doch die allen Menschen gemeine Schwäche begleitete ihn sein Leben lang, und obwohl auch Gott hielt er bewusst an dieser Schwäche fest. „Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird“ (Mt 4,3). Sei stark, schließlich bist du doch Gott! Zeig, was du kannst!, so der Widersacher. Doch Jesus gab Versuchung des Teufels nicht nach und blieb hungrig.

Mit Angst und Zittern sah Jesus dem nah bevorstehenden Leiden am Kreuz entgegen. Als er dann an diesem hing, spotteten die Menschen: „Wenn du Gottes Sohn bist, rette dich selbst und steig herab vom Kreuz!“ „Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten. Er ist doch der König von Israel! Er soll jetzt vom Kreuz herabsteigen, dann werden wir an ihn glauben.“ (Mt 27,40–42) Mit anderen Worten: Du bist zu schwach! Sicher konnte Jesus vom Kreuz herabsteigen und damit allen seine Gottheit beweisen, aber er tat es nicht. In seiner Person zeigte Jesus, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist (2 Kor 12,9–10).

Auch das Niederländische Glaubensbekenntnis (1561) formuliert diese Wahrheit: Jesus „hat die Gestalt eines Knechtes an sich genommen und ist gleich wie ein anderer Mensch geworden und hat wahrhaft menschliche Natur mit allen ihren Schwachheiten (die Sünde ausgenommen) wahrhaft angenommen, als er empfangen wurde im Schoß der heiligen Jungfrau Maria, durch Kraft des Heiligen Geistes…“ (18).

4. Das Kind Jesus zeigt damit, an welchen Retter wir glauben. Jesus ist König und Herr, „Starker Gott“ und „Fürst des Friedens“. Eines Tages werden ihn alle sehen, wenn er kommt, „zu richten die Lebenden und die Toten“, wie es im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißt. Dann werden alle an ihn glauben, denn „jedes Auge wird ihn sehen“ (Off 1,7). Doch bis dahin sind seine Größe und Herrlichkeit in Teilen verborgen. Jetzt sehen wir Jesus nicht, vielmehr glauben wir an ihn. Wir glauben vor allem an den Retter als „den Gekreuzigten“ (1 Kor 1,23), also an den Erniedrigten und Schwachen. Objekt unseres Glaubens ist zwar auch der zukünftigen Weltenrichter (weshalb dieser auch im Apostolikum genannt wird), aber in erster Linie „das uns zugewandte, sichtbare Wesen Gottes – d.h. seine Menschlichkeit, Schwachheit, Torheit“, so Luther in den Thesen zur Heidelberger Disputation von 1518. Gott erkennen wir nun vor allem in der Niedrigkeit Jesu. Der Reformator: „So reicht es für niemand aus, Gott in seiner Herrlichkeit und Majestät zu erkennen, wenn er ihn nicht in der Niedrigkeit und Schmach seines Kreuzes erkennt.“

5. Das Kind Jesus zeigt schließlich, wer die Gläubigen selbst sind. Jeder Säugling ist von anderen Menschen völlig abhängig, vor allem natürlich von seinen Eltern. Er kann ihnen direkt kaum etwas geben, hat nichts zum Eintauschen. Ein Kleinkind ist daher ganz auf Empfangen eingerichtet. Daher sollen auch erwachsene Menschen die Rettung in dieser Abhängigkeit und mit dem Vertrauen eines Kindes empfangen. „Wer das Reich Gottes nicht wie ein Kind annimmt, wird nicht hineinkommen“ (Lk 18,17), sagte Jesus. Wenn dieser selbst von seinem himmlischen Vater und auch seinen irdischen Eltern abhängig war, zu Beginn des Lebens sogar ganz abhängig und hilflos, wieviel mehr gilt dies dann für uns?

Vor Gottes Angesicht stehen alle Menschen mit leeren Händen da: Wir selbst haben nichts, was wir Gott für unser Heil anbieten könnten. „Da ich denn nichts bringen kann / Schmieg‘ ich an Dein Kreuz mich an“, heißt es in der deutschen Übersetzung des berühmten Liedes „Rock of Ages“ von A. M. Toplady. Geistlich sind wir alle Bettler, wie Luther sagte, oder eben Säuglinge. Sicher sollen Christen im Glauben wachsen und in dieser Hinsicht nicht kleine, unmündige Kinder bleiben. Aber wie wir auf Erden als Christen immer Jünger, also Schüler und Lernende, bleiben werden, so bleiben wir auch empfangende Kinder. Die völlige Abhängigkeit von Jesus bleibt. Was Johannes Calvin in seiner Institutio schreibt, gilt für alle erwachsenen Christen: „Unser ganzes Heil, alles, was dazu gehört, ist allein in Christus beschlossen. Deshalb dürfen wir auch nicht das geringste Stücklein anderswo ableiten… In ihm liegt ja die Fülle aller Güter, und deshalb sollen wir aus diesem Brunnquell schöpfen, bis wir satt werden, nicht aus einem anderen!“ (Inst. II,16,19)

Weihnachten ist das Fest des Kindes, denn in seinem Zentrum steht das Kind Jesus. Gleichzeitig erinnert das Fest daran, dass alle Gläubigen Kinder sind, die auf Gottes Geschenk des Heils angewiesen sind. Weihnachten ist daher das Fest des Kindes und der Kinder, aller Kinder Gottes.