Hungersnot

Hungersnot

Mitte des 19. Jahrhunderts starben in Irland eine Million Menschen an Hunger. Danach gab es abgesehen von Kriegszeiten in Europa westlich von Russland keine Hungerkatastrophen mehr. Bedürftige gibt es seitdem immer noch, auch in christlichen Gemeinden. Seit der Zeit der ersten Christen ist es Aufgabe der Diakone, sich um die leibliche Not der Menschen in der Kirche zu kümmern.

Grundlage des Diakonats ist im Neuen Testament vor allem Apg 6,1–6, die Einsetzung der ersten Diakone in der Urgemeinde. Die Gemeinde ist wie damals für ihre eigenen Mitglieder sozial verantwortlich, sofern nicht Verwandte die Versorgung übernehmen können. Die einzige Qualifikation, die der Diakon im Unterschied zum Ältesten nicht vorweisen muss, ist die Fähigkeit zu lehren. Dazu passt, dass die Diakone in Apg 6 eingesetzt werden, damit die Apostel – und nun Pastoren – den „Dienst am Wort“, die Lehre, nicht vernachlässigen.

Leider geriet das Amt des Diakons in der Kirchengeschichte immer mehr in Vergessenheit bzw. wurde umgedeutet. Der Diakon diente bald nicht mehr den Armen, sondern den Bischöfen und Priestern. In vielen Kirchen wurde das Diakonat zu einem reinen Durchgangsstadium auf dem Weg zum Pfarramt. Gerade die reformierten Kirchen haben dann jedoch im Zuge der Reformation für eine Wiederbelebung des Diakonats als Amt der Armenhilfe gesorgt. Johannes Calvin bezeichnete den Dienst an den Armen der Kirche sogar als eine „heilige Sache“. In der Genfer Kirchenordnung von 1561 und in Calvins Institutio wird der Dienst der Diakone für die Armen beschrieben. Als erster hatte wohl der Straßburger Reformator Martin Bucer in seiner Schrift Von der wahren Seelsorge gefordert, dass das biblische Amt des Diakons wiedereingeführt werden muss. Bucer betont dort, dass die Sorge um den Leib dem um die Seele nicht untergeordnet ist; daher steht bei ihm der Diakon nicht unter, sondern neben dem Pastor.

Wurde die biblische Diakonie im Mittelalter vergessen, so verfällt man heute oft in ein anderes Extrem. Die Kirche solle nicht so viel predigen, sondern den Menschen Gutes tun. Dies sei das plausiblere Zeugnis des christlichen Glaubens. „Erst Diakonie, dann Verkündigung“, lautet die Devise. Die soziale Arbeit drängelt sich vor Schriftauslegung und missionarische Dienste. Als Begründung heißt es, die Kirche müsse sich mehr um Menschen in Not kümmern. Allerdings denkt man dabei nur an materielle Not.

Hinzu kommt, dass wir in einem visuellen Zeitalter leben, und gerade in diesem besitzen soziale und diakonische Aufgaben gegenüber den pastoralen einen großen Vorteil: eine größere Augenfälligkeit. Leibliche Not ist leichter erkennbar als geistliche. Seelisches Elend ist oft verborgen und weitgehend unsichtbar. Ein hungernder Mensch ist fotografierbar, eine verletzte Seele aber nicht. Ein leiblich verhungernder Mensch ruft daher unsere Hilfsbereitschaft eher hervor als ein seelisch verhungernder.

Diakonische Aufgaben, so wichtig sie auch sind, haben etwas besonders Dringliches, nicht selten auch Aufdringliches an sich. „Wir müssen etwas gegen die Armut tun!“, so Leiter von christlichen Hilfswerken. Denjenigen, denen heute im Jemen, in Afghanistan oder in Zentralafrika der Hungertod droht, muss tatsächlich schnell geholfen werden – auch von uns im fernen, wohlhabenden Europa. Doch der geistlichen Not in Europa muss mindestens genauso engagiert begegnet werden! Zu den Notgebieten des Hungers, den nur das „Brot des [ewigen] Lebens“ (Joh 6,35) stillen kann, gehört auch Litauen.

Besonders seit dem Beitritt zur EU 2004 ist der Wohlstand im Baltikum deutlich gestiegen. Der Konsum der Haushalte hat sich in Litauen in vierzehn Jahren sage und schreibe verdoppelt. Noch liegen die Gehälter im Schnitt weit unter dem westeuropäischen Niveau, doch bald wird wohl die Marke von eintausend Euro brutto geknackt werden. Die Regale prallen über wie im Westen, aber die Kirchen sind meist alles andere als voll. Estland gehört zu den am stärksten entkirchlichten Ländern der Welt. Im katholischen Litauen hält sich eine Mehrheit zwar an so manche kirchliche Tradition, doch dies ist meist praktische Gottlosigkeit unter der dünnen Tünche von formeller Religiosität.

Mit geistlicher Brille gesehen kommen uns auf den Straßen der Hauptstadt also nicht nur schick gekleidete Bürger der Mittelschicht entgegen, sondern elende Gestalten. Das „höchste Gut“ ist eben nicht das neueste Smartphone, sondern, so Calvin im Genfer Katechismus, die wahre Gotteserkenntnis. „Wenn sie uns fehlt, sind wir trauriger dran als irgend ein Tier“; einem Menschen „kann nichts Schlimmeres zustoßen, als gottlos zu leben“. Derselbe Calvin, der die Diakonie neu betonte, wusste genauso: viel schlimmer als der irdische Hungertod ist der ewige Tod. Der Mensch braucht zu essen, aber er lebt nicht weniger vom Wort Gottes, von dessen Auslegung und Anwendung. Wir müssen den materiell Armen helfen, zuerst denen in unseren Gemeinde (Gal 6,10). Doch nichts ist wichtiger als der Kampf gegen die seelische Armut. Die Predigt des unverfälschten, biblischen Evangeliums von Jesus Christus – nach protestantischer Überzeugung Hauptkennzeichen jeder wahren Kirche – ist das, was auch Litauen nun am meisten braucht.

(Bild o.: Lilian Lucy Davidson, 1879–1954, Burying the Child)