Eine Autofahrt mit Folgen

Eine Autofahrt mit Folgen

Heute diskutiert Deutschland die Wiedereinführung der Wehrpflicht oder gar ein allgemeines Dienstjahr. Vor gut dreißig Jahren, als noch kaum jemand das nahe Ende des Kalten Krieges zu erhoffen wagte, war es für die meisten jungen Männer Realität: nach der Schule wurde man gezogen oder leistete Ersatzdienst – für uns damals, in der zweiten Hälfe der 80er, fast zwei lange Jahre.

Schon 1981, während einer Freizeit von „Sportler ruft Sportler“ (heute SRS) im Neues Leben-Zentrum in Wölmersen, stand mein Entschluss fest: Hier machst du mal deinen Zivildienst. Und so kam es dann auch fast sechs Jahre später. Am 1. April 1987 trat ich meinen Dienst im „Zentrum“ an.

An Abwechslung mangelte es in den kommenden zwanzig Monaten nicht. Für das Team von einem halben Dutzend Zivis um Hausmeister Gerhard gab es in dem Gebäudekomplex aus den 70er Jahren und auf dem weiten Gelände immer genug zu tun. Gerade in den Sommermonaten brummte es auf dem ‘heiligen Hügel’ am Rand des kleinen Westerwalddorfes im Kreis Altenkirchen nur so: verschiedene Gruppen gaben sich die Klinke in die Hand; das „Sommer-Festival“ forderte jeden Mann und jede Frau; und auf Trab gehalten wurde man immer von Herbert Müllers spontanen Anweisungen, des damaligen Geschäftsführers von „Neues Leben“.

Ab und an kam auch theologische Prominenz im NLZ zusammen, das heute hauptsächlich als Campus des TSR dient (und nach manchen Umbauten kaum noch wiederzuerkennen ist). In der zweiten Augusthälfte 1988, vor genau dreißig Jahren, fand die Konferenz der „Gemeinschaft europäischer evangelikaler Theologen“ (GEET, engl. FEET) in Wölmersen statt. Bekanntester Redner war damals niemand anderes als John Stott (1921–2011) aus London.

Der anglikanische Theologe war ab 1950 ein Vierteljahrhundert Hauptpfarrer der „All Souls“-Gemeinde in der britischen Hauptstadt. Das Aufleben des evangelikalen Flügels innerhalb der Kirche von England war nicht zuletzt auch sein Verdienst. Seit den 50er Jahren engagierte sich Stott auch in der evangelikalen Studentenbewegung (UCCF, international IFES). Später war er Mitinitiator des Lausanner Kongresses für Weltevangelisation (1974) – ein Meilenstein der evangelikalen Bewegung.

Nach Lausanne widmete sich Stott verstärkt seinen zahlreichen internationalen Aktivitäten und wurde in evangelikalen Kreisen weltweit bekannt und geschätzt. 1982 gründete Stott das „Institute for Contemporary Christianity“ in London. Zu seinem Vermächtnis gehört auch die „Langham Partnership“. Außerdem verfasste er zahlreiche Bücher, die fast alle zu internationalen Bestseller wurden, angefangen bei Basic Christianity (1958) bis hin zu I Believe in Preaching (1982), Issues Facing Christians Today (1984) und The Cross of Christ, sein vielleicht wichtigstes Buch aus dem Jahr 1986.

Damals hatte ich noch nichts davon gelesen und auch nur Ungefähres über den recht berühmten Engländer gehört wie z.B., dass er u.a. Prediger der Queen sei (1959–1991 hatte Stott mit anderen den Titel eines „Chaplains-in-Ordinary to HM in Scotland“ inne). Und nun kam es so, dass ich den 67-jährigen Stott nach der Tagung der GEET zum Flughafen nach Frankfurt bringen sollte. Solche Flughafenfahrten gehörten damals zu unseren Aufgaben; die gut 150 Kilometer bis zum Airport südlich des Mains fuhren wir fast schon wie im Schlaf.

Es war ein warmer, sonniger Augusttag, und die Begegnung mit Stott an diesem Tag werde ich nicht mehr vergessen. Der große Theologe setzte sich nicht auf die Rückbank des Renault 25 und nutzte die gut eineinhalb Stunden keineswegs, um sich auf weitere Vorträge vorzubereiten, an einem neuen Buchprojekt zu arbeiten oder internationale Korrespondenz zu erledigen. Nein, all das tat er nicht. Er setzte sich neben den jungen Spund auf den Beifahrersitz und unterhielt sich während der gesamten Fahrt mit mir, dem 21-Jährigen.

Stott war ganz Gentleman, aber nicht nur das: er fragte nach meiner Familie und Herkunft, Interessen und Zielen, und ich musste meine ganze Konzentration aufbringen, um auf den Weg zu achten und noch halbwegs klares Englisch herauszubringen. Natürlich wusste ich kaum etwas Schlaues, was ich den weltläufigen Theologen hätte fragen können. Aber über die ganze Zeit hielt Stott mit seinem Interesse an mir das Gespräch aufrecht. An mir, dem jungen Zivi. Am Flughafen angekommen gehörte es zu unserem Job, Gäste bis zum Check-In zu begleiten. Doch Stott wollte, kaum dass wir den Terminal betraten, selbst seinen Koffer weitertragen.

Dieses entgegengebrachte Interesse, dieses sich auf eine Ebene mit dem Anderen Stellen, diese völlige Abwesenheit von Arroganz oder Überzeugtsein von der eigenen Wichtigkeit, diese vorgelebte Demut und Einfachheit – all das hatte damals tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. So etwas hatte ich in den eineinhalb Jahren zuvor, in denen sich mein Horizont der christlichen Welt gewaltig geweitet hatte, nicht erlebt. Wir hatten damals so manchen Evangelisten durch die Gegend kutschiert, doch so wie Stott hatte sich kaum einer verhalten.

Ein paar Jahre später begann ich mit der Lektüre von Stotts Büchern, die mich in ihrer fundierten, aber auch sehr klaren Art immer weiter in die Theologie hineingeführt haben. Seine persönliche Glaubwürdigkeit hat die Vertiefung in die Wahrheiten des Christentums nur befördert. Als Stott sich ein paar Jahre nur vor dem Tod aus jedem aktiven Dienst verabschiedete, verschwand er am Ende des Gottesdienstes eher heimlich, still und leise. Selbstverliebtheit war ihm völlig fremd. Bücher über Stott werden ganz zu recht „The Humble Leader“ genannt.

Dabei sollte man natürlich kein unkritischer Fan von Stott. Gewiss hatte er auch seine persönlichen Schwachstellen, die sich in ein paar Stunden eben nicht gezeigt haben. Und es gibt heute Punkte in der theologischen Lehre, bei denen ich mit ihm nicht übereinstimme (Stichworte „anihilationism“ oder „incarnational mission“). Dennoch empfehle ich grundsätzlich alle seine Schriften. 2004 veröffentlichten wir bei LKSB Stotts Bergpredigtkommentar in litauischer Sprache, 2009 folgte in einem anderen Verlag auf meinen Vorschlag hin die Herausgabe von The Contemporary Christian. Im Journal „Prizmė“, das ab 1995 ein knappes Jahrzehnt erschien und dessen Artikelarchiv bis heute im Internet zugänglich ist, finden sich einige Beiträge von Stott. 1997 traf ich Stott noch einmal: Zu dritt führten wir von der „Prizmė“-Redaktion ein Interview mit ihm im Rahmen einer Konferenz in Jurmala bei Riga.

Auch sieben Jahre nach seinem Tod wirkt Stott weiter durch seine Bücher, und auch die  „Langham Partnership“ (früher John Stott Ministries) hat sich der Literaturarbeit gewidmet. Nicht zuletzt die Schriften von Stott und Francis Schaeffer (gest. 1984) sowie J.I. Packer (geb. 1926) haben mich geprägt. Was ihre Botschaft so stark macht, ist aber nicht nur der reine Inhalt, sondern der pastorale Geist, von dem alle drei auf verschiedene Weise durchdrungen waren. Stott, Schaeffer und Packer haben tief gebohrt, waren aber keine Akademiker im Elfenbeinturm, sondern Pastoren und Evangelisten, Männer der Kirche und der Mission

Am dem kommenden Monat werde ich in der ev.-reformierten Gemeinde in Vilnius den Dienst der beiden Pfarrer ergänzen und damit einen Teil der pastoralen Verantwortung übernehmen. Obwohl die Begegnung mit Stott drei Jahrzehnte zurückliegt, kann ich persönlich angesichts der neuen Herausforderungen durchaus noch davon zehren. Denn Stott hat mir eine der wichtigsten Lektionen pastoraler Theologie mitgegeben: Hirten sind aufgerufen, Aufmerksamkeit gegenüber anderen in der Gemeinde zu zeigen; sie müssen zuhören können, dürfen keinesfalls abheben und die ‘einfachen’ Leute, ob jünger oder älter übergehen; die Menschen wollen ernstgenommen werden, ihnen gegenüber ist Respekt zu zeigen.

Hinter all dem steht die Überzeugung, dass der Einzelne wichtig ist, egal, wie bekannt oder begabt oder alt er oder sie ist. Dies ist nicht nur in der Gemeinde, sondern auch in christlichen Werken wie der Studentenmission wichtig. Auch im Rahmen von LKSB sind wir nicht dazu da, wie mit einem Mähdrescher durch die Universitäten zu fahren. „One student at a time“ war über viele Jahre hinweg ein Motto der IFES, mit der, wie gesagt, auch Stott bis ins Alter eng verbunden war.

Es geht um den Einzelnen, nicht die Massen. Stott hat auch Letztere erreicht, aber anders als Ben Fitzgerald, der in zehn Tagen im Rahmen von „Awakening Europe“ Riga mit dem Evangelium „fluten“ will, schwafelte Stott nicht von „masses“ und „multitudes“. Fitzgerald, ein in Deutschland lebender Evangelist aus Australien, ist sich sicher, dass im Baltikum eine „echte Erweckung“ ausbrechen wird. Stott war sich vor dreißig Jahre einer anderen Sache sicher: schenke einem Menschen ein paar Stunden deine Aufmerksamkeit, und du wirst ein Leben verändern. Das funktioniert manchmal wirklich und reicht vollkommen.