Eine kapitalistische Lösung

Eine kapitalistische Lösung

Das Thema Flüchtlinge und Migration lässt die Deutschen nicht in Ruhe. Nicht zuletzt der Bilderstrom von Schwarzafrikanern auf Schlauchbooten im Mittelmeer sorgt dafür. Wohl an die zweitausend von ihnen sind in diesem Jahr bisher vor der libyschen Küste ertrunken. Die Regierungen von Malta und Italien wehren sich aber immer stärker gegen die Neuaufnahme von Geretteten. Der deutsche Kapitän des Flüchtlingshilfsschiffes „Lifeline“, der in Malta vor Gericht steht, empörte sich: „Was ist das für eine Welt, in der die Retter zu Tätern gemacht werden? Was ist das für eine Welt, in der stärker gegen das Retten als gegen das Sterben vorgegangen wird?“ Und an die Politik gerichtet: „Die EU nimmt das Sterben aus politischen Gründen in Kauf. Das ist widerlich.“

Als widerlichster Politiker der Bundesrepublik gilt zurzeit wohl der Innenminister, gegen ihn und seine Partei gingen kürzlich in München (!) Zehntausende auf die Straße. Oppositionspolitiker wie Sahra Wagenknecht hauen gerne weiter in die Kerbe: „So schön es auch ist, wie die Welt angesichts der in Thailand festsitzenden Jugendlichen zusammenrückt – So traurig ist es, mit welcher Gleichgültigkeit Europa den toten Kindern vor den eigenen Grenzen begegnet. Auf dem Mittelmeer ertrinken täglich Menschen, unter ihnen viele Kinder und Jugendliche. Die Gleichgültigkeit, die sie erfahren, ist erschreckend.“

Die Krise hat natürlich auch die Kirchen auf den Plan gerufen. Der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Manfred Rekowski, reiste in diesem Monat in die Gegend südlich von Sizilien und machte sich selbst ein Bild von den privaten Rettungsinitiativen. Auch in seinen Statements mangelt es nicht an kategorischen Forderungen: „Solange es so ist, dass Menschen mit Booten flüchten, müssen wir dafür sorgen, dass diese nicht zu Tode kommen“; das „tausendfache Sterben an der südlichen Grenze Europas“ müsse beendet werden; eine „staatliche europäische Seenotrettung“ muss aufgebaut werden.  Die Politik im Allgemeinen muss sich „neben der Bekämpfung von Fluchtursachen mit sicheren Fluchtrouten befassen“; „Als Friedensnobelpreisträgerin muss die EU hier ihren Beitrag leisten“. So viel Unbedingtheit gab es lange nicht.

Der EKD-Präses Bischof Heinrich Bedford-Strom kommentierte am 19. Juli auf Facebook die Reise seines Kollegen: „Hinter den Kreuzen, die in dem Video bei der Andacht im Hafen sichtbar sind, stehen konkrete Geschichten von Menschen, die ihr Leben verloren haben. Bei den Kindern ist die Vorstellung besonders schwer erträglich. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Die Frage, die wir den politisch Verantwortlichen stellen müssen, ist: Was tun sie konkret, um das Sterben zu verhindern? Wenn es darauf keine überzeugende Antwort gibt, und das ist mein Stand, ist die Behinderung der zivilen Seenotretter unverantwortlich…“

Auch die Deutsche Evangelische Allianz stimmte in den Chor mit ein. In der kurzen Erklärung „Wir dürfen dem Sterben nicht zusehen“ vom 12. Juli drücken die Leiter der Allianz eingangs ihre Erschütterung aus, „dass Tausende von Flüchtlingen auf der Flucht sterben, insbesondere im Mittelmeer vor den Toren Europas ertrinken. Das darf nach Gottes Willen nicht sein.“ Sie erinnern daran, dass „Gott die Notleidenden unter seinen besonderen Schutz stellt.“ Christen werden aufgefordert zu beten, „dass gute hilfreiche Lösungen gefunden werden. Ohne Wenn und Aber müssen Menschen vor dem Ertrinken bewahrt werden und zugleich dem menschenverachtenden Schlepperwesen das Wasser abgegraben werden.“ Schließlich wird „an die Europäische Union und die Regierungen in den europäischen Ländern“ appelliert, „noch entschlossener gemeinsame Lösungen zu suchen, die sich an der Not der Menschen und dem Rechtsstaatsgebot orientieren. Darum kann eine Abschottung Europas oder einzelner Länder gegenüber den schutz- und hilfsbedürftigen Flüchtlingen keine Lösung sein.“

Mit Wenn und Aber

Die Absicht hinter all diesen Erklärungen ist ehrenvoll und menschfreundlich. Dennoch stellen sich viele Fragen – weniger an die Politik, als an die Kirchenleiter selbst. Der Tod Vieler durch das grausame Ertrinken dürfe „nach Gottes Willen nicht sein“. Ähnlich  dekretierte schon der Ökumenische Weltrat der Kirchen 1948: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ Irgendwie stimmt dies alles, doch sobald man konkreter nachhakt, wird‘s komplizierter. Ja, alle Kriege sind ein Übel. Müssen daher alle Kriege als falsch und ungerecht bezeichnet werden? Ist der konsequente Pazifismus die einzig wahre christliche Position? Und wer soll oder muss Menschen vor dem Ertrinken bewahren? Welche genau? Diejenigen, die „vor den Toren Europas“ den Tod drohen zu erleiden, oder alle, denen so ein Schicksal droht? Und auf welche Weise soll dies geschehen?

Auch die Allianz drückt sich sehr kategorisch aus: „Wir dürfen dem Sterben nicht zusehen“ – es muss also gehandelt werden, und zwar „ohne Wenn und Aber“. Letzterer Ausdruck ist eigentlich völlig klar. Kein „wenn ich Zeit und Möglichkeiten und Geld habe“, kein „aber ich bin zu weit weg, zu alt, zu…“ Doch auch die drei Unterzeichner des Statements der Allianz nehmen für ihr persönliches Handeln natürlich Wenn und Aber in Anspruch. Ansonsten würden wir sie schon vor der libyschen Küste sehen. Sie berücksichtigen ihre Umstände. Warum gilt das dann aber nicht für andere Akteure?

Es geht ums Handeln, und Handeln von Menschen ist immer persönlich, auch wenn man – wie in Regierungsverantwortung – im Namen einer ganzen Bevölkerung und mit sehr weitreichenden Folgen handelt. Wem gilt dann das „ohne Wenn und Aber“? Der Bundesrepublik? Der europäischen Staatengemeinschaft? Wer bestimmt die Umstände, wann Nichthelfen unterlassene Hilfeleistung ist, die unter Strafe steht?

Wer entscheidet, welchem drohenden Sterben in der Welt ein unbedingtes Eingreifen zu gelten habe? Dem Tod im Mittelmeer dürfe man in keinem Fall nur zusehen, aber dem Hungertod im Jemen schon? Dem erbärmlichen Sterben von kleinen Kindern in Krankenhäusern von Venezuela? (S. der erschütternde Bericht im „Spiegel“ Nr. 30: „Im Land des Hungers“.) Und wie sieht es mit den über 900.000 Flüchtlingen (ganz Köln!) im Lager Kutupalong in Bangladesch aus? Dort überleben die aus Myanmar geflohenen Rohingyas gerade so, aber viele, ebenfalls sicher Hunderte, vielleicht Tausende, sterben auch an Krankheiten, durch Gewalt oder unter Erdrutschen, was kaum weniger grausam sein dürfte, als der Tod durch Ertrinken. Muss jetzt nicht allerschnellstens ein breiter „humanitärer Korridor“ nach Bangladesch her? Wer entscheidet,  wann das „Mindestmaß an Zivilisiertheit“ zum Tragen kommen muss und wann nicht?

Man kann sich nicht um alle Übel der Welt gleichzeitig in gleichem Maße kümmern, werden die Kirchenleute wohl entgegnen. Genau! Aber dies heißt eben kein „ohne Wenn und Aber“, eben kein jetzt-sofort-muss-irgendetwas-gemacht-werden. Alles menschliche Handeln wägt ab. Auch der gerne als Beispiel herangezogene barmherziger Samariter in der Geschichte aus Lukas 10 wog ab, und er kam zu dem Schluss: Ja, ich habe Zeit, ich kann und will helfen, und ich habe die finanziellen Mittel übrig, um auch noch die Pflege des Ausgeraubten zu bezahlen. Auch er stürzte sich nicht blind in seine Hilfe.

Abwägen betrifft natürlich auch die Nächstenliebe, gerade sie. Sie ist Gebot, kommt aber nicht ohne den Prozess des Überlegens aus, was die Situation, in der man sich wiederfindet, die eigenen Möglichkeiten und die Resultate des geplanten Handeln sind. Leider wird die Kosten-Nutzen-Rechnung nur mit wirtschaftlichen Prozessen in Verbindung gebracht. Es gilt aber, dass wir bei jedem Handeln den Aufwand, die Kosten, in Relation zum erhofften und gewollten Ergebnis setzen. Erscheinen uns die Kosten zu hoch, handeln wir nicht.  Theologen und christlicher Ethiker sollten an dieser Stelle Kriterien formulieren: Welches konkrete Handeln kann wem unter welchen Umständen zugemutet werden? Welche Ergebnisse wollen wir erzielen? Doch schon eine ganze Weile enttäuschen hier die Spitzen von EKD, katholischer Kirche und auch der Allianz.

In „‘… und ihr habt mich aufgenommen.’ Zehn Überzeugungen zu Flucht und Integration aus evangelischer Sicht“ der EKD ist viel Richtiges festgehalten, doch einige Formulierungen lassen ins Stutzen geraten. Unter Punkt 3 heißt es: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. So klar formuliert es die Bibel. Es ist die unbeschränkte Verpflichtung, für die Würde aller Mitmenschen einzutreten. Nächstenliebe unterscheidet nicht. Nächstenliebe heißt, dass jeder hilfsbedürftige Mensch im Blick sein muss.“

Die Bibel formuliert tatsächlich klar, aber die „Zehn Überzeugungen“ machen aus dem Gebot, dem befolgt werden kann, etwas ganz anderes. Es meint eben nicht eine „unbeschränkte Verpflichtung, für die Würde aller Mitmenschen einzutreten“; nicht „jeder hilfsbedürftige Mensch“ muss im Blick sein. Denn man nehme diese Aussagen – so, wie sie dort formuliert sind – einmal ernst. Niemand, auch keine Organisation und kein Staat, kann dieser so absolut und breit dargestellten Verpflichtung nachkommen. Jeder Hilfsbedürftige kann zu meinem Nächsten werden (bzw. ich ihm); alle Menschen haben eine Würde, aber ich muss keineswegs „unbeschränkt“ (ohne Wenn und Aber) für die Würde „aller“ eintreten. Alles für alle ‘tun’ können wir nur rein verbal und deklarativ („ich liebe alle Menschen“); diese Liebe bleibt im Wünschen hängen („ich wünsche allen das Beste“), ist bloßes Wunschdenken. Liebe ist aber nicht Wünschen, sondern Wollen, das zu Handeln führt: echtes Eintreten und Einsetzen für echte Menschen.

Allein der Begriff Nächstenliebe ist ja selbst eigentlich präzise. Er meint ausdrücklich nicht die Liebe aller Menschen, sondern des Nächsten. Dabei stimmt es sicher, dass bei der Frage, wer dies im konkreten Fall ist, keinesfalls zu enge Linien gezogen werden dürfen, d.h. es darf nicht falsch unterschieden werden. (Der barmherzige Samariter überschreitet ja eine damalige falsche Linie: die zwischen verschiedenen Völkern.) Nächstenliebe macht genau das: sie unterscheidet. Wem bin ich persönlich zur Hilfe verpflichtet und aufgefordert, dann auch konkret zu handeln?

Konkret wird‘s bei der EKD nur, wenn die Nächstenliebe auf die Politik angewendet wird: „Abschiebungen in Konfliktgebiete“ und „Obergrenzen für die Flüchtlingsaufnahme“ seien mit ihr natürlich nicht zu vereinbaren. Es wird zwar eingestanden, dass sich das Gebot der Nächstenliebe „nicht direkt in Politik übertragen“ lässt. Dennoch bleibe die Nächstenliebe „aus christlicher Sicht zentraler Maßstab und Orientierungspunkt“ – auch für politisches Handeln. „Daher fordert die evangelische Kirche, dass Deutschland schutzsuchenden Menschen hilft – auch über die eigenen nationalen Grenzen und die EU-Außengrenzen hinaus. Es braucht die internationale Gemeinschaft, um das globale Problem Flucht zu lösen.“

Dieser Darstellung ist zu widersprechen. Zentraler Maßstab und Orientierungspunkt des politischen Handelns ist nicht die Nächstenliebe. Das widerspricht, erstens, der persönlichen Ausrichtung des Gebots. Wer soll denn der Nächste der Bundesrepublik sein? Die Kanzlerin hat auch ihre Nächsten, aber die Regierung? Wer ist der Nächste des Verwaltungsapparates? Im Inneren wie Äußeren führen solche Grundsätze zu einer Gießkannenpolitik: „alle“ werden mit staatlichen Wohltaten überschüttet. Schließlich solle ja „alle“ geliebt werden. Ich will aber nicht, dass der Staat mich liebt; er soll mich und meine Rechte schützen (nur in einem ganz weiten Sinn kann auch das der Liebe zugeordnet werden).

Zweitens ist zu bemerken, dass der tatsächliche Maßstab und Orientierungspunkt des politischen Handelns die Gerechtigkeit ist. Sie ist von der Barmherzigkeit und der Nächstenliebe zu unterscheiden (wenn auch nicht zu trennen). Ein Staat muss für Gerechtigkeit sorgen; nach Möglichkeiten kann er sich gegenüber schutzsuchenden Menschen aus anderen Ländern barmherzig zeigen und Fliehende aufnehmen. Dies ist ein moralisches Mehr, für das die Zustimmung der Bürger des Aufnahmelandes eingeholt werden sollte. Und diese Möglichkeiten sind abzuwägen: was wollen wir und was schaffen wir? Erfolgreiche Einwanderungsländer wie z.B. Kanada machen genau dies.

„Bürger“ kommt von „Burg“

In den Erklärungen der christlichen Kirchen und Verbände zeigt sich leider oft solch ein Verkennen der Aufgaben und der Möglichkeiten staatlichen Handelns. Alles Nationale kommt eher schlecht weg, „nationale Grenzen“ scheinen fast schon ein Unding zu sein. „Nationalist sein und katholisch sein, das geht nicht“, meinte Kardinal Marx aus München am 19. Juli in der „Zeit“. Er bedauert, dass in der Politik „der Trend derzeit stärker zum Nationalen, zur Selbstbehauptung“ geht. Als Christen seien wir „Patrioten und Weltbürger zugleich“.

Patrioten und Weltbürger? Passt das wirklich zusammen? Überall zuhause und in einem Land verwurzelt – geht das? Meinte er nicht Patriot und Bürger des Himmelreiches, also einer Größe ganz anderer Dimension? Muss ich etwa als Katholik oder Christ „Weltbürger“ sein? (Mitglied einer Weltkirche natürlich schon.)

„Global“ und „offen“ sind eben die Zauberwörter, und da verstolpert sich auch schon mal ein Kardinal. Das direkte Handeln von Regierenden ist jedoch allermeist auf das Territorium des eigenen Staates begrenzt. Hier, und nur hier, gilt das Grundgesetz oder eine andere Verfassung; hier haben staatliche Beamte und Behörden direkte Machtbefugnisse und können Recht direkt schützen und umsetzen. Immer wieder merken wir nun auch, dass die EU kein Bundesstaat, sondern ein Staatenbund ist – ein enges Bündnis von Nationalstaaten. Die Regierenden in diesen sind zuerst ihren jeweiligen Verfassungen, den Interessen des Landes und dem Wohl ihrer Bürger verpflichtet, ja darauf eingeschworen. Alle Staaten sind im Grunde „Festungen“, die die Rechte ihrer Bürger schützen („Bürger“ kommt von der schützenden Burg).

Abschotten, Grenzen schützen, nationale Eigeninteressen, Europa zur Festung machen – dies ist nun alles fast schon Teufelszeug. Doch die Grenzen staatlichen Handelns lassen sich nicht so einfach wegdeklarieren. Die Kanzlerin hat vor der libyschen Küste eben keine Richtlinienkompetenz. Dennoch werden geradezu gebetsmühlenartig überall politische „Lösungen“, vor allem „gemeinsame Lösungen“, gefordert. Da packt man dann gerne Dinge zusammen, die kaum zu harmonieren sind wie bei der Allianz die Grenzen sprengende „Not der Menschen“ und das nationale „Rechtsstaatsgebot“, an denen beiden sich zu orientieren sei.

Ihr Politiker, löst bitte das Problem, aber schleunigst, so der allgemeine Tenor. So fordert z.B. die deutsche Allianz, dass dem „Schlepperwesen das Wasser abgegraben werden“ muss. Und wie soll das geschehen? Mit Kanonenbooten? Oder die Migranten direkt an der Küste in Empfang nehmen? Das verlagert das Schlepperwesen dann komplett auf die Wüste. Tatsächlich „abgraben“ könnte man nur, wenn die Migrationsursachen in den westafrikanischen Staaten voll ins Visier genommen werden. An die Machthaber in diesen Ländern, die ihren Bürgern viele Rechte vorenthalten, wendet sich mit den scharfen moralischen Appellen jedoch fast niemand.

Das globale Problem Flucht sei zu lösen. Nur ein übermächtiger Staatsapparat, nur eine allmächtige Politik könnte dies auch nur versuchen zu bewerkstelligen. Vor einigen Jahren beklagte Rolf W. Puster, Philosophieprofessor aus Hamburg, in einem Beitrag in „Cicero“, dass die Politik schon lange „– insbesondere in ihrer sich moralisch aufplusternden Form – zur neuen, säkularen Religion geworden [ist]. Wer den Raum des Politischen betritt, klammert seinen robusten Wirklichkeitssinn ein und bringt seinen Verstand in den Schongang des frommen Wünschens. Er schreibt den von reiner Menschliebe beseelten Hohepriestern der Politik die übermenschliche Kraft zu, jede Wüste zum Blühen zu bringen.“ Oder alles grausame Sterben zu verhindern; oder alle Armut und Ungleichheit zu beseitigen; oder… Dass Kirchen und Christen diesen Staats- und Politikkult weiter anheizen, anstatt diesem Götzendienst entgegenzutreten, kann nur verwundern.

Man hat sich eben vor allem in Europa daran gewöhnt, dass der Staat für so gut wie alles zuständig ist und fast alle sozialen Probleme lösen soll. Kaum einer lässt etwas auf den modernen Wohlfahrtsstaat kommen, die hohen Kirchenvertreter schon gar nicht. Dass wirklich offene Grenzen mit einem ausgeprägten Wohlfahrtsstaat nicht zu vereinbaren sind, wird verschwiegen. Dabei liegen die Zusammenhänge auf der Hand (Milton Friedman wies vor rund vierzig Jahren darauf hin).

Die USA waren bis ins 20. Jahrhundert ein wahrlich offenes Land. Wer es an seine Ufer geschafft hatte, der durfte bleiben. Aber er musste natürlich für sich und seine Familie selbst sorgen; die staatliche Hilfe beschränkte sich auf Landvergabe und Schutz der Rechte. Amerika wurde als Raum betrachtet, in dem jeder seinen Wohlstand schaffen und selbst seines Glückes Schmied werden kann. Nicht allen gelang dies auch.

Die von allen Linken und Progressiven verpönten liberalen „Nachtwächterstaaten“ des 19. Jahrhunderts förderten eine Kultur der Produktion von Wohlstand. Wohlfahrtsstaaten hingegen geht es um Ausgleich, Verteilung und Ansprüche, von denen es immer zahlreichere gibt. Um sie wird mehr oder weniger gerungen, da der zu verteilenden Kuchen (Sozialkassen und staatliche Hilfsgelder) naturgemäß begrenzt ist. Wie man es dreht und wendet, doch eine Anspruchskultur kann keine wirklich offene sein. Der demokratische Kapitalismus hingegen setzt auf einen zu vergrößernden Kuchen, und dafür sind in der Regel zusätzliche Arbeitskräfte nötig, häufig zugewanderte.

Ein alterndes Europa kann viele Migranten aufnehmen und sollte dies auch. Diese wollen arbeiten und ihr Leben verbessern. Aber die nur noch in Resten kapitalistische Wirtschaft der reicheren Länder, die ausgeuferte Sozialgesetzgebung, starre Lohngesetze und wahrlich unzählige bürokratische Regeln (20.000 Vorschriften für das private Bauen allein!) machen es Arbeitsemigranten schwierig. Wer wirklich für Lösungen ist, sollte endlich den Staatsapparat verschlanken und jungen Männern aus dem Senegal und Mali erlauben, zu dem Lohn zu arbeiten, der ihrer Qualifikation entspricht und ihnen passt (also u.U. auch unter dem Mindestlohn). Doch dies wird ja nicht passieren, vielmehr wird weiter an der Quadratur des Kreises gearbeitet. Noch einmal: Aufgeblähte Wohlfahrtsstaaten mit historisch einmaligen hohen Staatsquoten müssen zur Abschottung tendieren.

Der Keim einer Lösung

Offene Grenzen erfordern eine offene Wirtschaft. In diese Richtung scheint aber im Kirchenamt in Hannover und anderswo kaum jemand zu denken. Der Wohlfahrts- oder Sozialstaat ist natürlich sakrosankt, jegliche radikale Reform in Richtung seines Rückbaus und Freiheit führt angeblich in die neoliberale Ausbeutungshölle. Die gute alte Gerechtigkeit wurde mit dem Vorsatz „soziale“ zum säkularen und frommen Dogma erklärt, so aber verhunzt.

Sozialstaaten leben davon, dass weite Teile des erwirtschafteten Eigentums umverteilt werden und Privateigentum nur noch sehr begrenzt geschützt ist. (Der Eigentumsschutz ist auch in der Bundesrepublik so weit ausgehöhlt, dass der Staat im Grunde fast alles so intensiv besteuern kann, wie er will – erst die sog. Erdrosselung des Steuerzahlers bildet die Grenze.) Geht es in den Debatten um Flucht, Armut und Migration um Eigentum, dann ist so gut wie immer dasjenige gemeint, von dem die Reichen abzugeben haben – wer viel Eigentum hat, ist zum Teilen verpflichtet. Natürlich ist der letzte Satz wahr, doch diese Pflicht ist eine persönliche, der sich jeder Einzelne stellen muss. Dieser Grundsatz kann nicht als Grundlage einer staatlichen Zwangsbesteuerung gelten.

Das Privateigentum hat in Wohlfahrtsstaaten einen widersprüchlichen Status. Es muss etwas geben, das umverteilt werden kann; nur Besitzenden kann man etwas wegnehmen. Es wird aber dennoch nicht als eine der Lösungen der sozialen und wirtschaftlichen Probleme angesehen, sondern weiter problematisiert. Unter Punkt 4 der „Zehn Überzeugungen“ der EKD heißt es: „Menschen, die in Wohlstand leben, der auf ungerechten Strukturen basiert, leben auf Kosten anderer. Einkommen und Vermögen sind weltweit höchst ungleich verteilt und nur einige Wenige besitzen den größten Teil des Wohlstands dieser Welt. Deutschland trägt als reiches und einflussreiches Land zu Fluchtursachen bei…“

Hier wird einmal wieder dem reichen Norden ein pauschales schlechtes Gewissen eingeredet. Letztlich wird ausgesagt, dass das viele Eigentum häufig auf ungerechte Weise erworben wurde, ab und an wird dann auch noch die Rede  von „kolonialen und postkolonialen Ausbeutungsprozessen“ eingestreut. Christian Felber aus Österreich schreibt in Gemeinwohl-Ökonomie sogar: „Die Absolutstellung des Eigentumsrechts ist heute zur größten Gefahr für die Demokratie geworden.“ Er fordert zahlreiche und vielfältige Begrenzungen des Eigentums, natürlich alles im Namen der Demokratie.

In Felbers Kapitel über Eigentum wird deutlich, dass er von der marxistischen Arbeitswertlehre, die nachweislich falsch ist, nicht lassen will; er spricht daher von „struktureller Sklaverei“ in unserer Arbeitswelt. Neben der Arbeitsteilung sah Marx das Privateigentum als das wichtigste Urübel der Menschheit an. Seine antichristliche Ausrichtung wird nicht zuletzt daran erkennbar. Denn Eigentumsrechte werden in der Bibel klar geschützt, man denke nur an die Geschichte von Nabots Weinberg (1 Kön 21; s. auch Num 16,15 und 1 Sam 12,3). Der Erfolg des Westens gründete später u.a. auf dem Schutz von Eigentumsrechten. Im 20. Jahrhundert nannte Friedroch August von Hayek Recht, Freiheit und Eigentum ganz richtig „die untrennbare Dreieinigkeit“.

Die Einführung und der Schutz von Eigentumsrechten ist auch das, was den Menschen in den ärmeren Ländern des Südens wirklich helfen und viele von Flucht und Migration abhalten würde. Diesen Ansatz propagiert seit Jahren der bekannte peruanische Ökonom Hernando de Soto (s. sein The Mystery of Capital, dt. Freiheit für das Kapital), und er widerspricht damit Felber & Co. radikal.

de Soto leitet den Think-Tank „Institute for Liberty and Democracy“ in Lima und berät nicht wenige Regierungen des Südens. Die „NZZ“ fasst hier seinen Ansatz zusammen: „Laut de Soto fehlen in Entwicklungsländern oft Eigentumsrechte, die es den Menschen ermöglichen würden, ihren Besitz als Sicherheiten für Kredite zu geben und so das Kapital ‘lebendig’ zu machen. Wenn dieses Potenzial durch wirksame Eigentumsrechte freigesetzt würde, könnten sich die Armen selbst eine wirtschaftliche Tätigkeit aufbauen. Dies wäre der Anfang eines Aufstiegs aus eigener Kraft.“ Ein „umfassendes System des Schutzes und der Anerkennung von Eigentumsrechten“ könne das Wachstum ankurbeln. de Soto streicht heraus, „dass China in den letzten zwei Jahrzehnten gerade deshalb reich geworden sei, weil man die Eigentumsrechte besser geschützt habe“. Eigentumsrechte „seien die Keimzelle des Rechtsstaats und der Marktwirtschaft. Wenn man den Menschen Eigentumsrechte gebe, dann verstünden sie intuitiv, was Gleichheit vor dem Gesetz bedeute und dass der Staat und andere ihnen den Besitz nicht einfach wegnehmen könnten. Erst auf dieser Basis sei Arbeitsteilung über den engsten Familienkreis hinweg möglich – die Quelle langfristigen Wohlstands.“

de Soto verfolgt einen „zutiefst kapitalistischen Ansatz“, was ihn in den Augen auch vieler Frommen natürlich disqualifiziert. Schließlich sehen viele im Kapitalismus gerade das Problem (der dt. Baptisenbund fand jüngst anlässlich des 100. Todestages von Walter Rauschenbusch lobende Worte für dessen Social Gospel und die Kritik am modernen Wirtschaftsystem). Da wundert es nicht, dass in den kirchlichen Verlautbarungen zum Thema Armut, Wirtschaft und Migration der letzten Jahrzehnte (wenn ich das recht überblicke) kaum etwas zum Thema Eigentum und so gut wie nichts zur Sicherung von Eigentumsrechten in den noch ärmeren Ländern zu finden ist. Auch Kardinal Marx verliert dazu in seinem Das Kapital kein Wort.

„Abschreckung und Abschottung“ sei nicht die Lösung; „dem europäischen und dem christlichen Geist entspricht es, sich selbstbewusst zu öffnen“; von „Idee und Erfolgsgeschichte“ Europas sei zu lernen („Zehn Überzeugungen“). Den Erfolg Europas machen aber auch vor allem auch Ideen aus wie Kontrolle und Begrenzung der staatlichen Macht, Rechtsstaatlichkeit, Eigentumsschutz, offene Märkte mit echter Konkurrenz. Zur Kernidee des Westens gehört die Freiheit, der Freiheit zu arbeiten und die Früchte der Arbeit zu tauschen und zu genießen.

Auch in Afrika selbst sehnen sich viele nach dieser Freiheit. Es wäre sinnvoll, wenn die EKD nicht nur „Sea-Watch“, sondern zur Abwechslung auch einmal „African Liberty“ oder andere Initiativen und Think-Tanks in Ghana, Senegal, Südafrika oder der Elfenbeinküste unterstützt. Dann hätte man wirklich einmal über den eigenen engen Horizont geschaut und die ach so gescholtenen Grenzen überwunden – und wirklich einen Beitrag für die oft angemahnte „Bekämpfung von Fluchtursachen“ getan. Tote im Mittelmeer können keinen gleichgültig lassen; warum sind so vielen die Lösungsansätze der Ökonomen des Südens gleichgültig?