Das falsche Bild

Das falsche Bild

Die SMD-Herbstkonferenz im vergangenen Jubiläumsjahr der Reformation stand unter dem Motto „Kernig. Grund-Worte der Reformation“. Hauptredner auf der „Heko“ 2017 war der bekannte Theologe und Autor Hans-Joachim Eckstein. Sein Vortrag „Die Schrift allein – warum die Bibel unverzichtbar ist“ findet man abgedruckt in „smd-transparent“ (04/2017) (zur Tonaufnahme, die ausführlicher ist und an einzelnen Stellen im Detail abweicht, geht es hier).

Eckstein war bis 2016 Professor an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Er beginnt sein Referat mit einer kurzen Einführung in die Hermeneutik. Dabei unterscheidet er zwischen „biblisch 1“ (Was kommt in der Bibel vor?), „biblisch 2“ (Was meint diese Aussage im Zusammenhang?) und „biblisch 3“ (Wie wende ich dies heute an?).

Anschließend geht Eckstein zu einem zweiten Teil über. „Die Bibel ist nach unserem Bekenntnis Wort Gottes. Ist sie Wort Gottes oder bezeugt sie Wort Gottes? Ist sie Wort Gottes oder Menschenwort?“ Gegen Ende wird er darauf zurückkommen.

Eckstein sieht im Neuen Testament „an vielen Stellen – in besonderer Klarheit und Ausführlichkeit bei Paulus – eine klare Hermeneutik.“ Es fasziniert ihn, „von der Frage: ‘Wie verstehe ich die Bibel?’, fortzuschreiten zu der Frage: ‘Wie will die Bibel verstanden werden?’ Gibt es ein Verständnis vom Wort Gottes im Wort Gottes, sodass ich aus der Bibel heraus selbst eine Hermeneutik entfalten kann?“

Was sagt das Wort Gottes über das Wort Gottes? Wie sieht die Bibel sich selbst? Sehr gute und wichtige Fragen, mit denen Eckstein die Latte für den Inhalt seines Vortrags aber auch recht hoch legt, schließlich will er eine Antwort präsentieren.

„Widersprüche im neutestamentlichen, apostolischen Zeugnis“

Eckstein unterscheidet nun mehrere Ebenen. „Wort Gottes im engsten und eigentlichsten [im Vortrag selbst fügte er außerdem hinzu: „im vollkommensten“] Sinn ist weder eine Schrift, noch ein Buch, sondern Jesus Christus selbst, in ihm, dem Sohn, hat sich der Vater selbst und letztverbindlich mitgeteilt.“

Den Jüngern und Aposteln hat sich dieser Jesus, das Wort in Person, „persönlich geoffenbart und ihnen das Evangelium weitergegeben.“ Er hat ihnen sein Evangelium gegeben, und das ist uns im Zeugnis der Apostel überliefert – eine zweite und dritte Ebene. Eckstein skizziert also eine „Abstufung der Überlieferungstradition“: Jesus, sein Evangelium, das Zeugnis der Apostel und die „Verkündigung der Apostelschüler“ wie auch des Lukas „auf der vierten Stufe“. Im aufgezeichneten Vortrag ist in diesem Zusammenhang auch von einer „Hierarchie“ der Stufen oder Ebenen die Rede.

Eckstein will all dies „durch das anschauliche Bild eines römischen Brunnens verdeutlichen“: „Ganz oben – noch oberhalb der ersten Schale – sprudelt das Wasser unmittelbar aus der Quelle bzw. der Zuleitung. Dies entspricht dem Wort Gottes in Person, das Jesus Christus als der eigentliche Ursprung und Inhalt des Evangeliums ist. Die allererste Schale entspricht dann dem Evangelium als dem Wort Gottes, das der Auferstandene seinen Aposteln bei seinen Erscheinungen gegeben hat… Die zweite Schale, in die sich das Wasser von oben unmittelbar ergießt, ist uns mit dem Zeugnis der Apostel gegeben und gewissenhaft überliefert. Schon mit dem Neuen Testament haben wir – bildlich gesprochen als dritte Schale – die nächste Stufe der Verkündigung und Überlieferung der Apostelschüler wie z. B. auch Timotheus.“

Timotheus? Wo im NT haben wir seine „Verkündigung und Überlieferung“? Schließlich sind die Timotheusbriefe an ihn, nicht von ihm. Hätte er hier nicht Lukas nennen müssen? Eckstein nennt Timotheus wohl deshalb, weil es ihm um Folgendes geht: „Nach 2. Timotheus 2,2 soll er das von Paulus empfangene Evangelium selbst wiederum anderen weitergeben, die ihrerseits in der Lage sind, andere zu lehren. Damit kommen bereits weitere Schalen über die Zeit des Neuen Testaments hinaus in den Blick, in denen das Evangelium empfangen, treu bewahrt und gewissenhaft weitergegeben wird.“

Auf der Heko selbst, also in der Audio-Datei des aufgezeichneten Vortrags, betont Eckstein wieder: „Die Schalen in ihrer Abstufung bilden eine klare Hierarchie“. Und er fragt: „Was meine ich nun mit dieser Hierarchisierung, dieser Anordnung?“

Ihm geht es vor allem um die „Unterscheidung zwischen der zweiten Schale – d. h. der Ebene des unmittelbar von Christus gegebenen Evangeliums – und der dritten Schale – d. h. des Zeugnisses der Apostel“. Eckstein weist im Hinblick auf Gal 2,11ff. darauf hin, dass Apostel wie Petrus und Paulus mitunter „konträre Entscheidungen treffen und im Blick auf die ‘Wahrheit des Evangeliums’ das Gegenteil verkündigen.“ Was tun, so in der Audio-Datei, „wenn ich Widersprüche habe innerhalb der neutestamentlichen, apostolischen Zeugnisse?“ Paulus und Petrus „waren in der Grundlage unterschiedlicher Meinung“, behauptet Eckstein.

Er gibt dann die Wortes des Paulus in Gal 1,9 so wieder: „Ich muss mich auch und gerade als Apostel streng an die Wahrheit des Evangeliums halten; und wenn ich abweichend von dem Evangelium verkündige, das mir Jesus als Auferstandener gegeben hat, dann wollte ich verflucht sein.“ Damit sagt der Apostel: „Nicht er ist die Quelle, das ist Jesus Christus; und nicht er ist Maßstab, sondern auch er ist an der vorgegebenen Wahrheit des Evangeliums zu messen und davon abhängig. Die besondere Autorität als Apostel liegt ausschließlich darin, dass er das Evangelium, das Christus ihm anvertraut hat, nach bestem Wissen und Gewissen so weitergibt, wie Christus es ihm vorgegeben hat.“

Was Eckstein in diesem letzten Zitat bekräftigt, ist natürlich richtig. Aber damit ist noch gar nichts Genaueres über die apostolischen Schriften des Neuen Testaments gesagt. Mehr noch: Ecksteins Darstellung anhand von Gal 1–2 muss ins Stutzen bringen.

Gewiss ist richtig, dass die Apostel „als Apostel“ auch Irrtümer begingen und mitunter „konträre Entscheidungen“ trafen. Sie waren schließlich fehlbare und sündige Menschen. Insofern ist klar, dass auch sie dem Maßstab und der „vorgegebenen Wahrheit des Evangeliums“ unterstanden. Eckstein springt nun jedoch von dieser Ebene der Personen auf die der Bibel, vom Streit der Apostel zu Widersprüchen „der neutestamentlichen, apostolischen Zeugnisse“. Doch damit begeht er einen schwerwiegenden Kategorienfehler. Petrus und Paulus waren tatsächlich zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer sehr wichtigen Frage „unterschiedlicher Meinung“. Aber ihre neutestamentlichen Schriften widersprechen sich doch nicht! Das wäre erst der Fall, wenn wir auch einen 3. Petrusbrief o.ä. hätten, in dem Petrus seine Sicht der Vorgänge gegen Paulus als richtig darstellt. Dann – und erst dann – läge ein Widerspruch zwischen dem biblischen Zeugnis des Paulus und dem biblischen Zeugnis des Petrus vor.

Eckstein schmuggelt also gleichsam in den Streit der Apostel einen Widerspruch zwischen biblischen Schriften der Apostel hinein. Seltsam auch, dass er damit seiner eigenen Skizze vom Anfang des Vortrags von „biblisch 1–3“ nicht gerecht wird. Die harte Auseinandersetzung, die Paulus in Gal 2 erwähnt, ist „biblisch 1“ – die Bibel berichtet davon, sie kommt in ihr vor. Auf der Ebene von „biblisch 2“ liegt aber gar kein Widerspruch vor, denn im NT selbst lehren Petrus und Paulus in den dortigen Schriften eben nicht Dinge, die konträr sind.

„Menschliche Weisheit“ und „göttliche Weisheit“

In Ecksteins Bild wird nicht deutlich, worin der grundlegende Unterschied zwischen den obersten drei Schalen, der biblischen Offenbarung, und weiteren Schalen liegen könnte. Er selbst betont an keiner Stelle, dass es zwischen dem Zeugnis der oberen Ebenen und weiteren unten liegenden irgendeinen Bruch gäbe, im Gegenteil. Zu den tieferliegenden Schalen, also im Blick auf das nachbiblische Zeugnis, sagt er ja auch, dass dort „das Evangelium empfangen, treu bewahrt und gewissenhaft weitergegeben“ wird. Die Apostel taten dies, nach den Aposteln wird dies getan – wo ist der Unterschied?

Er ermutige Theologiestudierende gerne, „sich einzuschalten in die Diskussion der Zeugen des Wortes Gottes; nicht locker zu lassen, sondern zu sagen: ‘Jetzt will ich es aber genau wissen! Was ist das Evangelium? Was ist die eine Wahrheit des Evangeliums in der Vielstimmigkeit dieses Zeugnisses?’“

Was soll dies heißen? Klinken wir uns in Diskussionen der neutestamentlichen, apostolischen Zeugen ein? Der Zeugen Christi, der das Wort Gottes im engsten Sinn ist, und seines Evangeliums? Sollen wir also diskutieren, ob Paulus oder Petrus oder Lukas nun recht hat? Müsste man nicht sagen, dass wir uns in die Diskussion über das neutestamentliche Zeugnis – über unsere Interpretationen ihres Zeugnisses –einklinken?

Wenn Eckstein dann auch noch sagt, dass die Menschen bei Apostelschülern wie  Timotheus ebenfalls „die ganze Vergebung und das ewige Leben“ bekamen, dann ist dies sicher richtig. Und es gilt bis heute für alle Verkündigung, die das Wort Gottes treu weitergibt, wie auch Eckstein gegen Ende bekräftigt.  Aber auch damit stellt er implizit die neutestamentlichen Schriften und die außerbiblische Verkündigung des Timotheus auf eine Ebene. Besteht nicht ein kategorialer Unterschied zwischen Inspiration und Illumination, zwischen dem Wirken des Geistes bei der Entstehung der biblischen Schriften und seinem Wirken durch diese Schriften bei der Verkündigung?

Ecksteins Bild vom Brunnen ist daher irreführend, weil in keiner Weise deutlich gemacht werden kann, wie sich biblisches Zeugnis von anderem Zeugnis grundlegend unterscheidet. Man hätte auf der Heko nach dem Vortrag mal den Test machen sollen: Wo ist in dem Bild die Grenze zwischen Bibel und nicht-mehr-Bibel? Viele wären da wohl ins Schlingern gekommen. Im Niederländischen Bekenntnis (1562) z.B. wird dagegen betont, dass „menschliche Weisheit“ wie in der Schriftauslegung auf keinen Fall mit „göttlicher Weisheit“ – die Schrift selbst – vermischt werden“ darf  (7). Bei Eckstein sehe ich diese Vermischung im Ergebnis gegeben.

Wahrscheinlich würde Eckstein sagen, dass sich die biblischen Schriften bewährt haben, was natürlich stimmt. Aber ist das alles? Auch z.B. die altkirchlichen Bekenntnisse haben sich ja in vielfacher Hinsicht bewährt. Warum hat die Bibel als Einheit einen so besonderen Status? Gewiss, Eckstein bekräftigt die Besonderheit Jesu, des Evangeliums, der Apostel, doch am Rand zerfasert alles…

„Die Schalen bilden eine klare Hierarchie“

Gegen Ecksteins Skizze der Überlieferungstradition als solcher ist im Grunde nichts einzuwenden. Natürlich können hier Unterscheidungen getroffen werden. Dies gilt dann ja auch für die Anwendung der biblischen Texte. Hier muss ebenfalls differenziert werden – nicht alles liegt auf einer Ebene und sagt dem heutigen Leser in völlig gleicher Weise etwas.

Mit dieser „klaren Differenzierung“ verbindet Eckstein jedoch direkt eine „Hierarchisierung“, die durch das Bild vom Brunnen nur bekräftigt wird („oben“ und „unten“). Nun mag man durchaus zustimmen, wenn er Jesus Christus in Person als Wort Gottes „im engsten und eigentlichsten“ Sinn oder „in letzter Verbindlichkeit“ bezeichnet. Dabei bleibt er allerdings nicht stehen, sondern behauptet, dass die Abstufung des Brunnens nach unten „immer weniger Autorität, immer mehr Angewiesensein auf Kritik“ mit sich bringt.

Und wieder muss man fragen: Was ist damit gemeint? Hat Jesus mehr Autorität als die Bibel? (Ein Gedanke, den ja viele wie Siegfried Zimmer für äußerst wichtig halten.) Stehen die Worte Jesu in der Autorität über denen des Paulus? Da aber Jesuworte auch von menschlichen Autoren überliefert wurden, unterstehen sicher auch sie der Kritik. Ist Lukas noch mehr auf Kritik als die Apostel angewiesen? Wird hier nicht der Bibelkritik Tür und Tor geöffnet? Will die Bibel wirklich so verstanden werden? Geht aus ihr selbst tatsächlich solch eine Hierarchisierung hervor?

Ich kann nicht erkennen, wie Eckstein die nötige Kritik von menschlicher Bibelauslegung, Theologie im Allgemeinen und auch der Bekenntnisse unterscheiden will von Bibelkritik in der Sache. Dies liegt wohl daran, dass er die schriftliche Offenbarung und den Kanon des NTs kaum angemessen in sein Modell integrieren kann.

Allein die Schrift

Man bedenke außerdem, dass der Vortrag dem protestantischen sola scriptura gewidmet ist. Damit war in der Reformation gemeint, dass die Bibel als solche, in ihrer Gesamtheit, höchste Autorität hat – und zwar sie allein, nicht gemeinsam mit der „Hl. Tradition“ Roms. In ihr ist vielfältige Rede Gottes zu finden, die die heutigen Leser im Zeitalter der Kirche auf unterschiedliche Weise anspricht und bindet. Dennoch ist festzuhalten, dass Gott immer mit voller Autorität spricht und auch jedes Bibelwort volle Autorität in dem Sinne besitzt, dass es keinerlei Unwahrheit, Falschheit, Lüge usw. enthält.

Viele Worte des ATs gelten Christen nicht mehr direkt, aber dennoch sprechen sie immer noch mit voller Autorität zu uns. Einzig in dem Sinne sind sie mehr auf Kritik angewiesen, dass man bei ihnen genauer hinsehen und unterscheiden muss, was denn in welcher Weise heute noch gilt. Letztlich gilt dies aber auch für die Jesusworte und alle vermeintlich leicht verständlichen Verse.

Ich befürchte, dass Eckstein mit seinem Vortrag dem urprotestantisches Prinzip der  Klarheit der Schrift entgegenarbeitet. Natürlich muss man sorgfältig feststellen, was einzelne biblische Texte meinen. Wenn aber die feinen Abstufungen der Autorität so wichtig sind, dann muss man dies wohl den Experten überlassen. Der Laie geht vom „die Bibel sagt“ und der eindeutigen Autorität jedes Bibelwortes aus. Dem macht Eckstein mit seinen Hierarchisierungen einen Strich durch die Rechnungen. Wo genau sind wir hier in der Überlieferungstradition? Die Frage ist ja sinnvoll, aber bei Eckstein hängt davon ja das Maß des „Angewiesenseins auf Kritik“ ab. Diese Zusammenhänge können dann eben nur die studierten Theologen so recht durchblicken.

Noch einmal: Wenn Gott spricht, dann mit voller Autorität. Damit ist nicht gesagt, dass alles in der Bibel in gleicher Weise gilt. Dass irgendein biblischer Text als solcher weniger Autorität hätte oder mehr auf Kritik angewiesen sei, muss unbedingt von der Pflicht zur genauen Untersuchung unterschieden werden. Meinte Eckstein Letzteres – mehr Anstrengung, die Aussagen zu verstehen –, dann hätte er dies auch so sagen sollen. Doch wer von  Widersprüchen redet, dem geht es offensichtlich um ‘echte’ oder harte Kritik, um Aufdeckung von Fehlers usw., also um die historisch-kritische Methode.

Warum die Schrift allein? Eckstein gelingt es nicht, dies klar zu machen. Die Bibel ist bei ihm ja gerade nicht der eine Brunnen in seiner Gesamtheit, denn der römisch hat ja nach unten hin weitere Schalen, die nicht mehr das biblische Zeugnis darstellen. Sein Bild betont den Strom der einen Quelle. Christen erkennen darin das „lebendige Wasser“ (Joh 4,10). Wir haben heute auf vielfältige Weise Zugang dazu. Ich glaube nur nicht, dass die Darstellung mit Abstufungen eines Brunnens dabei hilft. Warum nicht beim Bild des klassischen Schachtbrunnens bleiben?

Wie will die Bibel verstanden werden? Welche Hermeneutik entfaltet sie selbst? Eckstein nennt die Inspiration der biblischen Schriften mit keinem Wort, und natürlich ist schon gar nichts von ihrer Verbalinspiration, die bekanntlich an den theologischen Fakultäten der Universitäten in der Besenkammer gelandet ist, zu hören. Eckstein kann nicht deutlich machen, was an den Bibelworten an sich besonders sein soll. Er bekräftigt sicher die Wirksamkeit des Gotteswortes, aber genauer gesagt ist es das Menschenwort, das als Gottes Wort wirkt (so ganz am Schluss). Die Bibel bezeugt Gottes Wort (Jesus und sein Evangelium) und wirkt als Gottes Wort; dabei meidet er aber natürlich jegliche Formulierungen von der Art, dass das Bibelwort als solches Gottes Wort ist. Die Frage vom Beginn des zweiten Teils „Ist sie Wort Gottes oder bezeugt sie Wort Gottes?“ wird in keiner Weise klar beantwortet.

Besonders beunruhigend ist schließlich, dass Eckstein einen Aspekt völlig außen vor lässt, der im NT ja eine große Rolle spielt: die Sicht Jesu und der Apostel zum heutigen AT, der Bibel der damaligen Juden. Genau dies ist doch in ihrem Kern die neutestamentliche Hermeneutik! Der Befund ist bekanntlich eindeutig: Sie hielten Mose und die Propheten für Gottes Wort, setzten es mit Reden Gottes gleich. Mir ist völlig schleierhaft, wie Eckstein dies in sein Bild des römischen Brunnen integrieren will. Was ist mit Dreivierteln der Bibel? Gottes Wort? Was ist mit der Spannung von Evangelium und Gesetz in der gesamten Bibel? (Ecksteins oberste Schale ist ja nur das Evangelium!) Ist das in erster Linie anklagende und vor allem im AT zu findende Gesetz Gottes auch in vollem Sinn Wort Gottes? Und was machen wir mit der Weisheitsliteratur, die ja nun ganz anders als die obersten Schalen in keiner Weise übernatürlich, d.h. direkt von Gott gegeben wurde? Für mich ist faszinierend zu sehen, wie man eine klare biblische Hermeneutik so unklar darstellen kann.

Der pietistische Stolperstein

„Ist das Wort – gemäß dem Modell des römischen Brunnens – nun Wort Gottes oder ist es Menschenwort? Das Faszinierende ist: Dies erweist sich als ein falscher Gegensatz!“ Natürlich ist das ein falscher Gegensatz. Richtig ist, dass die Bibel ganz Menschenwort und ganz Gotteswort zugleich ist. Das sagt Eckstein nun aber nicht. Er fügt ‘nur’ dies hinzu: „Wort Gottes im eigentlichsten Sinne ist Jesus Christus in Person“, und das hat er schon mehrfach betont. Er bekräftigt also das Richtige, aber er bekräftigt nicht genug. (Interessant auch, dass er nicht auch „Ist sie Wort Gottes oder bezeugt sie Wort Gottes?“ als falschen Gegensatz bezeichnet.)

Eckstein gilt allgemein als evangelikal, und an seinem persönlichen Glauben von Jugend an steht sicher außer Frage. Problematisch erscheint mir jedoch, dass er dank seiner wenig anstößig erscheinenden Worte viel Raum für Bibelkritik schafft. So betont er gegen Ende des Vortrags: „Wenn dieser Christus deine Mitte ist, dann kann dich keine Hermeneutik oder Theologie mehr aus den Angeln heben“, denn mit Jesus habe man ja das „tragende Wort Gottes“. Das klingt ermutigend und christrozentrisch sowieso. Doch halt: Das schriftliche Wort ist also nicht „tragendes Wort Gottes“? Wie will es das in seiner Gesamtheit bei Eckstein auch sein, wenn man mit seinem Zeugnis „diskutiert“ (s.o.)…

Ich würde dieser seiner Aussage rundheraus und eindeutig widersprechen. Hermeneutik und Theologie können aus den Angeln heben. Leider kann man da sogar Gift drauf nehmen. Apropos Gifte – Eckstein nennt dann ja selbst „giftige Wasser“: Irrlehren, die nicht oben in die erste Schale geschüttet werden dürften. Mir ist nicht ganz klar, wie das mit dem Satz über das aus den Angeln heben in Einklang gebracht werden kann. Wir müssen uns also vor Verfälschungen des Evangeliums in Acht nehmen. Das ist richtig. Aber ist es auch alles? Eckstein scheint einen gewissen Kern der Theologie von der Kritik ausnehmen zu wollen (wohl die oberste Schale, das Evangelium), doch darunter könne sich die Bibelkritik austoben.

Den Zuhörern und Lesern macht Eckstein indirekt die Zusage: Du kannst dich ruhig auf die historisch-kritische Methode der Bibelkritik einlassen; Hauptsache, du bist persönlich im Glauben stark und jesuszentriert. Und: Wenn du eben doch aus den Angeln gehoben wurdest, dann war Christus eben nicht deine Mitte.

Was hier auch mitschwingt: Jesus in der Mitte – da gibt es keine Steigerung mehr. Was brauchen wir mehr? Wage es also bloß nicht, dies noch mit der eigenen klaren Hermeneutik ergänzen zu wollen – die Bibel, in sich ganz Menschenwort und ganz Gotteswort; oder gar – Gott bewahre! – eine ausgefeilte Inspirationslehre oder noch schlimmer: die rationalistische Irrtumslosigkeit. Alles Konkurrenten der einen Quelle. Meist kommt dann bald die Fundamentalistenkeule: Nur irgendwelche angstgesteuerten Fundamentalisten brauchen bekanntlich ein wirklich tragendes Fundament in der Bibel. Da haben Eckstein und Co. eben schon ein anderes, höheres Niveau erreicht…

Sicher gibt es genug Theologiestudierende, die an den staatlichen Universitäten nicht aus den Angeln gehoben wurden und werden – Gott sei Dank. Schließlich wird dort auch viel Gutes getan. Gewiss ist von ihren Professoren und Dozenten viel zu lernen, und die Werke von Oswald Bayer, Jan Rohls, Rainer Riesner, Peter Stuhlmacher und wie sie alle heißen lese auch ich mit viel Gewinn.

Doch man lasse sich von persönlicher Frömmigkeit vieler Hochschulprofessoren nicht zu sehr beeindrucken. Das fromme Ohr konnte bekanntlich auch durch erzliberale Theologen wie Wilhelm Hermann oder später Rudolf Bultmann auf der Kanzel gewärmt werden. Es ist wohl der pietistische Stolperstein, dass man sich viel zu lange und viel zu sehr durch den Glauben an Jesus der Lehrenden an den Universitäten hat ruhigstellen lassen, und derweil verbreiteten sie munter eine destruktive Hermeneutik unter dem frommen Volk. Die pietistische Rede und die fromme Kultur von Professoren wie eben auch Eckstein hat aus dem Blick geraten lassen, inwieweit sie eine schlechte Theologie austreuen.

Das Ergebnis ist, dass man in frömmeren Kreisen, auch in der SMD, trotz der systematischen Zerstörung des Vertrauens in das biblische Fundament an den staatlichen Hochschulen über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg sich oft von Laien ‘Predigten’ anhören lassen muss, wie wertvoll doch ein Studium dort sei; oder dass universitär ausgebildete Pastoren eben doch irgendwie besser auf den Dienst vorbereitet sind; oder dass man ja gar nicht Theologie studiert habe, denn dies könne man nur an den richtigen Universitäten, nicht an irgendwelchen Bibelschulen oder Seminaren (so dem Autor dieser Zeilen geschehen).

Ein Theologieprofessor, der auch noch fromme Lieder und nette Bücher für jedermann schreibt – optimal. Die nötige Skepsis, Kritik und Wachsamkeit hat es da äußerst schwer zum Zuge zu kommen. Und so musste es kommen, wie es kam: Ausgerechnet im Jahr der Reformation trug Eckstein Verwirrung über das geschriebene Wort Gottes in die SMD hinein; obwohl das klassische „sola scriptura“ genannt wird, wurde Misstrauen in die Schrift als Schrift gesät. Dies muss man wohl als tragisch bezeichnen.

Die Moral von der Geschicht: Entsprechend dem sehr guten Motto der SMD „denken.glauben.erleben“ sollte man gerade bei Vorträgen von Universitätsprofessoren aus dem Fachbereich Theologie das eigene kritische Denken einschalten und alles, was man an gesunder Skepsis aufzubieten hat, in Stellung bringen. Sonst wird man am Ende noch fromm, aber subtil aus den Angeln gehoben.