Entscheidungen am Rhein

Entscheidungen am Rhein

„In Sachen Gottes Ehre und unser Seelenheil und Seligkeit belangend…“

„Wogegen protestieren die Protestanten eigentlich?“ Mit recht kritischem Unterton fragte ein Besucher der Buchmesse in Vilnius Ende Februar die Teilnehmer der Gesprächsrunde zu den Katechismen und der Reformation (hier mehr). Nach etwa 40 Minuten im „LRT Forum“ war in der Sendung noch Raum für Publikumsfragen an die vier Evangelischen neben Moderatorin Rūta Vanagaitė.

Den Protestanten klebt der Protest an, und nicht selten  wird das als Nörgelei aufgefasst – gerade im katholisch geprägten Litauen. Schnell wird daraus der Gedanke, die Reformation sei in ihrem Wesen eine Anti-Bewegung gewesen, also gespeist von ablehnendem Protest gegen etwas. Hat nicht Luther den Ablass bald verworfen und das Papsttum scharf kritisiert? Und definieren sich die Evangelischen nicht in Abgrenzung von den Katholischen?

Auf der Buchmesse erläuterten Historiker Deimantas Karvelis und Holger kurz die politischen Zusammenhänge, die den Anhängern der Reform der Kirche den Namen Protestanten einbrachten. Sie unterstrichen den positiven Charakter der Reformationsbewegung, deren Anhänger für Kirche, Glauben und Evangelium stritten.

Heute vor 488 Jahren, am 19. April 1529, legten Vertreter der evangelischen Stände im Hl. Römischen Reiches beim Zweiten Reichstag in Speyer ihre „protestatio“ vor. Der Wikipedia-Eintrag gibt einen guten Überblick. Und hier eine eine gute Zusammenfassung mit dem in theologischer Hinsicht wichtigen Zitat aus der Protestschrift:

„Auf dem ersten Reichstag zu Speyer 1526 wurde den Ständen im Reich zugestanden bis zu einer Klärung auf einem zukünftigen Konzil den evangelischen Glauben in ihren Gebieten zu dulden. Auf dem zweiten Reichstag zu Speyer 1529 sollte dieses Zugeständnis zurückgenommen werden. Sechs evangelische Fürsten und Vertreter von 14 freien Städten protestierten dagegen und nahmen selbstbewusst für sich das Recht in Anspruch sich in Glaubensdingen gegen die Mehrheitsentscheidung zu wenden. In ihrer ‘Protestatio’ schreiben sie dazu: ‘In Sachen Gottes Ehre und unser Seelenheil und Seligkeit belangend muss ein jeglicher für sich selber vor Gott stehen und Rechenschaft geben.’ Auf dem zweiten Speyerer Reichstag 1529 bekannten sich zum ersten Mal politisch führende Männer öffentlich gegenüber der katholischen Reichstagsmehrheit zu ihrem evangelischen Glauben. Die politischen Verantwortungsträger nahmen damit das reformatorische Anliegen auf und stellten klar, dass in Glaubensfragen jedem Menschen und nicht nur kirchlichen Amtsträgern Urteilskraft zukommt – ein bedeutsamer Schritt auf dem langen Weg der Gewissens- und Religionsfreiheit.“

Von den „Lutherern“ zu den „Evangelischen“

Wie auch anfangs „lutherisch“ (oder meist lat. lutherani – die „Lutherer“) war in der Folge auch „Protestanten“ zuerst als Begriff von den römisch-katholischen Gegnern geprägt worden. Die so Genannten wehrten sich recht lange gegen einen allgemeinen Sammelbegriff, denn sie verstanden sich selbst nicht als neue oder abgespaltene, sondern als wiederhergestellte, erneuerte Kirche Jesu Christi. Auch die Reformanhänger sahen und sehen sich als Teil der einen, allgemeinen, weltweiten Kirche an, in diesem Sinne als Katholiken („katholisch“ stammt vom gr. Adjektiv katholicos, was „ganz“, „allumfassend“ bedeutet, Adverb katholou – „völlig“, „vollständig“). Während der Reformation ging der Streit um das wahre Verständnis der Katholizität, d.h. zum Beispiel, ob das Papstamt zwingend erforderlich ist. (Hier mehr.)

Das eigene Selbstverständnis der Protestanten trifft ursprünglich „reformiert“ – vom lat. reformare: erneuern, verbessern, neu gestalten – wohl am besten, wobei dies Adjektiv bald zur Bezeichnung des zwinglianisch-calvinistischen Zweiges der Reformationskirchen wurde.

Weitgehend synonym mit Protestanten ist der Begriff „evangelisch“, der in manchen Ländern die bevorzugte Selbstbezeichnung der Anhänger der Reformationskirchen ist, denn so wird das positive Grundanliegen der Reformation gut verdeutlicht: die Wiederentdeckung, Reinigung und Verbreitung des biblischen Evangeliums, der Guten Nachricht von Jesus Christus.

Luther bevorzugte dieses Adjektiv, lehnte jedoch „evangelisch“ als Parteinamen der Protestanten ab. „Evangelisch“ war in manchen Gegenden dennoch schon früh beliebt (die évangéliques in Frankreich, die bald Hugenotten genannt wurden), tauchte jedoch erst um 1600 häufiger auf (ab 1653 Corpus Evangelicorum als Vertretung aller Protestanten auf den Reichstagen). Das Adjektiv setzte sich erst im 19. Jahrhundert als Name der Protestanten in manchen Ländern durch, vor allem in Deutschland. Die Bezeichnung „evangelisch-lutherisch“, „evangelisch-reformiert“ wurde dann auch in Litauen übernommen.

Luthers wichtigster Tag

Die Reformation war im Kern eine geistliche Bewegung, denn Fragen des Heils und des Glaubens gaben den Anstoß. Dennoch lässt sich ihre Geschichte natürlich nicht von politischen Zusammenhängen lösen. Im Falle Luthers ist dies offensichtlich. Bekanntlich hätte sein Leben gewiss auf dem Scheiterhaufen in Rom geendet, wäre er nicht von seinem Landesfürsten geschützt worden.

Denn man mache sich nichts vor: Um 1520 kam es keineswegs zwangsläufig zur Reformation und ihrer Etablierung in einigen Ländern. Der Aufbruch hätte auch ohne große Mühen gestoppt werden können, schließlich hat noch um 1500 niemand in Westeuropa im Traum damit gerechnet, dass sich der halbe Kontinent von Rom trennen könnte. In der ersten Jahren nach Luthers Thesenanschlag hing das Schicksal der Bewegung an einem seidenen Faden. Nur eine recht komplexe politische, machtpolitische Konstellation machte möglich, dass der – in den Augen Roms – freche Aufruhr des Mönches aus dem provinziellen Wittenberg sich überhaupt behaupten und irgendeinen Erfolg haben konnte.

Luther, Theologieprofessor in der sächsischen Kleinstadt, genoss den Schutz des Landesherrn: Friedrich III, der Weise genannt. Dieser hatte die wichtige Kurwürde inne. Zusammen mit anderen weltlichen und geistlichen Fürsten wählte er den deutschen König und römischen Kaiser. Nach dem Tod von Kaiser Maximilian I im Januar 1519 stand nun wieder eine Wahl an – und die Kurfürsten erlangten herausragende Bedeutung.

Der junge Karl aus dem Geschlecht der Habsburger machte das Rennen, auch dank gewaltiger Summen von Schmiergeldern, die die Fugger vorstreckten. Der französische König Franz ging leer aus. Entscheidenden Einfluss bei dem Machtpoker hatte auch Friedrich, der kurz sogar selbst als Kandidat für den Kaiserthron ins Spiel gebracht worden war. Karl wurde im Sommer 1519 in Frankfurt gewählt und im Herbst 1520 in Aachen zum deutschen König gekrönt; auch den Kaisertitel durfte er schon führen.

Karl und der fast vierzig Jahre ältere Friedrich wurden auch noch Verwandte. Am 3. Februar 1521 wurden Karls Schwester und Friedrichs Neffe vermählt – zumindest auf dem Papier. Die Vermählten zogen nie zusammen, und einige Jahre später wurde der Ehevertrag annulliert. Doch in den für die Evangelischen und Luther entscheidenden Jahren hatte der sächsische Fürst recht gute Karten beim Kaiser.

Die waren bekanntlich auch nötig. Die Leipziger Disputation im Sommer 1519 brachte die Wurzel des Konfliktes zwischen Wittenbergern und Vertretern Roms zu Tage. Luther und Karlstadt stellten die oberste Autorität des Papstes in Frage. 1520 erschienen mehrere der Hauptschriften Luthers, Rom reagierte mit der Bannandrohungsbulle Exsurge Domine. Schließlich wurde Luther Anfang Januar 1521 exkommuniziert.

Ohne Friedrichs Schutz wäre das ‘Problem Luther’ durch Rom nun wohl bald aus der Welt geschafft worden. Dem Kirchenbann folgte wie automatisch die Reichsacht auf staatlicher Ebene. Seit Sommer 1519 galt aber die Ordnung im Reich, dass die Acht erst nach gerichtlicher Vorladung und Anhörung ausgesprochen werden darf. Friedrich machte sich seit Herbst 1520 dafür stark, dass Luther zum Reichstag in Worms, der in der Stadt am Rhein ab Januar tagen sollte, vorgeladen wird. Die Vertreter Roms wie der Nuntius Aleander setzten natürlich alles in Bewegung, dass es nicht dazu kommt. Dem Ketzer auch noch eine große Bühne verleihen?!

Da der gerade gewählte Kaiser auf die Fürsten im Reich Rücksicht nehmen musste und, wie gesagt, Friedrich gute Karten hatte, endete das diplomatische Tauziehen schließlich mit der Vorladung Luthers durch Karl, ausgestellt am 6. März 1521. Dem Mönch und Professor wurde freies Geleit garantiert. Diese Zusagen hatte Jan Hus aus Prag hundert Jahre zuvor auch erhalten. Er reiste zum Konzil nach Konstanz, wurde dort 1415 dennoch als Ketzer verbrannt. Luther reiste nach Worms mit diesem drohenden Bild vor Augen.

Luther blieb jedoch bei allen Verhören und Disputen, angefangen bei Cajetan in Augsburg 1518, immer in seiner deutschen Heimat. Im fernen Rom wäre es ihm schlecht ergangen. Und in Deutschland war Luther inzwischen zu einer Bekanntheit geworden, ja zu einer Art erstem Popstar.

Dies ist keineswegs übertrieben formuliert. Denn seit den Zeiten von Hus hatte der Buchdruck mit beweglichen Lettern, erfunden von Gutenberg um 1450, eine Medienrevolution ausgelöst. Auf der einen Seite war das Ablassunwesen Tetzels nur durch das Druckwesen möglich, denn der Druck von Ablassbriefen machte den Handel damit viel einfacher. Die Reaktion Luthers, angefangen bei den Thesen, wurde aber genauso durch den Druck schnell in ganz Deutschland bekannt. Hinzu kam, dass Luther die Gabe besaß, einfach und kompakt für das einfache Volk zu schreiben. Seine Thesen in lateinischer Sprache waren ja ursprünglich für ein akademisches Publikum geschrieben. Aber im Frühjahr 1518 machte Luther einen Bestseller daraus: den Sermon von Ablaß und Gnaden, 1500 Wörter kurz.

Schon 1518 war Luther der meistverlegte lebende Autor in Europa, und bis zum Frühjahr 1521 hatte die Gesamtauflage seiner Schriften eine halbe Million erreicht. Für damalige Verhältnisse Rekord. Hinzu kamen die Illustrationen von Lucas Cranach, die auch das Bildnis Luthers im ganzen Land bekannt machten. So wurden auch in Worms Portraits Luthers verkauft, und Nuntius Aleander beklagte sich, dass diese so eine Nachfrage haben, dass selbst er keines mehr bekommen konnte.

Luther traf am 17. April in Worms ein, fünfundzwanzig Kilometer nördlich von Speyer gelegen. Hunderte Menschen, vielleicht sogar mehr als eintausend (bei etwa 7000 Einwohner in der Stadt) säumten die Straße und jubelten dem immerhin von der Kirche schon Gebannten zu. Roms Ansehen war in vielen Orten Deutschlands tief gesunken.

„Ich bin hindurch!“

Am folgenden Tag wurde Luther in den Saal der Bischofsresidenz geführt; im Gebäudekomplex hatte auch der Kaiser mit seinem Anhang Quartier bezogen. Luther hatte auf eine Debatte über seine Lehre gehofft, aber dazu kam es nicht. Johannes von der Ecken vom Erzbistum Trier hatte nur zwei Fragen an ihn: Ob er die auf einem Tisch ausgebreiteten Schriften als die seinen anerkennt, und zweitens: Verwirft er seine darin aufgestellten falschen Lehren?

Luther hatte mit diesen Fragen rechnen müssen, erbat trotzdem Bedenkzeit. Bis heute ist nicht klar, warum. Ein diplomatisches Manöver des Umfelds von Friedrich? (Er und Luther trafen sich übrigens nie persönlich; der Bote zwischen beiden war immer Georg Spalatin; beim Reichstag muss Friedrich seinen Schützling aber gesehen haben.) Oder war er einfach nur eingeschüchtert und geängstigt? Schließlich war die Spitze des Reiches in dem gar nicht so großen Saal versammelt, über zweihundert Fürsten, Herzöge und Adelige, darunter der junge Kaiser selbst.

Die Bedenkzeit wurde gewährt, und so trat Luther am kommenden späten Nachmittag oder frühen Abend wieder vor die erlesene Schar. Es war der 18. April, nur ein Tag vor der Protestatio acht Jahre später etwas weiter südlich in Speyer. Für Luther sicher der wichtigste Tag in seinem Leben, denn dem Thesenanschlag (oder genauer: dem Thesenversand) hatte er nie große Bedeutung beigemessen.

Luther sprach zuerst auf Deutsch, erst dann Latein. Der Kaiser und so manche andere aus seinem Gefolge sprachen kein Deutsch (seine Muttersprache war Französisch, inzwischen hatte Karl als spanischer König auch die Sprache dieses Landes gelernt). Die Wahl der Landessprache war wohl auch ein politisches Signal an die deutschen Stände, zumindest nicht von Nachteil.

Luther bekannte sich zu seinen Schriften, die er aber in drei Gruppen aufteilte. „Die erste Gruppe umfaßt die Schriften, in denen ich über den rechten Glauben und rechtes Leben so schlicht und evangelisch gehandelt habe, daß sogar meine Gegner zugeben müssen, sie seien nützlich, ungefährlich und durchaus lesenswert für einen Christen.“ Die zweite Gruppe der Schriften „greift das Papsttum und die Taten seiner Anhänger an“. Die Erfahrungen der Menschen und die „allgemeine Unzufriedenheit“, so Luther, „kann es bezeugen, daß päpstliche Gesetze und Menschenlehren die Gewissen der Gläubigen aufs jämmerlichste verstrickt, beschwert und gequält haben, daß aber die unglaubliche Tyrannei auch Hab und Gut verschlungen hat und fort und fort auf empörende Weise weiter verschlingt, ganz besonders in unserer hochberühmten deutschen Nation.“ Auch diese Schriften will Luther nicht widerrufen, denn sonst würde er „die Tyrannei damit geradezu kräftigen und stützen, ich würde dieser Gottlosigkeit für ihr Zerstörungswerk nicht mehr ein kleines Fenster, sondern Tür und Tor auftun…“

Die dritte Gruppe richte sich gegen „Einzelpersonen“, „die den Versuch machten, die römische Tyrannei zu schützen und das Christentum, wie ich es lehre, zu erschüttern.“ Er räumte ein, dass er in diesen Bücher sprachlich hier und da zu streng im Ausdruck gewesen sein mag. Daher wolle er sich „nicht zu einem Heiligen“ mache; schließlich trete er „hier nicht für meinen Lebenswandel ein, sondern für die Lehre Christi“. Aber auch vom Inhalt dieser Bücher könne er sich nicht distanzieren. Denn der Widerruf „würde wieder die Folge haben, daß sich die gottlose Tyrannei auf mich berufen könnte und das Volk so grausamer beherrschen und mißhandeln würde denn je zuvor.“

Luther betonte: „Ich bin ein Mensch und nicht Gott“, er könne sich geirrt haben und zitierte daher Jesus an den Hohenpriester Hannas: „Habe ich übel geredet, so beweise, daß es böse ist“ (Joh 18,23). Er wollte, dass ihm seine Irrtümer nachgewiesen werden: „Darum bitte ich um der göttlichen Barmherzigkeit willen, Eure allergnädigste Majestät, durchlauchtigste fürstliche Gnaden oder wer es sonst vermag, er sei höchsten oder niedersten Standes, möchte mir Beweise vorlegen, mich des Irrtums überführen und mich durch das Zeugnis der prophetischen oder evangelischen Schriften überwinden. Ich werde völlig bereit sein, jeden Irrtum, den man mir nachweisen wird, zu widerrufen, ja, werde der erste sein, der meine Schriften ins Feuer wirft.“

Zu weit ruderte der Reformator aber nicht zurück. Den Vorwurf der Unruhestiftung relativierte er: „Für mich ist es ein denkbar erfreulicher Anblick, zu sehen, wie um Gottes Wort Unruhe und Zwietracht entsteht. Denn das ist der Lauf, Weg und Erfolg, den Gottes Wort zu nehmen pflegt, wie Christus spricht: ‘Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert; denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater usw.’ [Mt 10,34]“

Anschließend wandte er sich an den „jungen, vortrefflichen Kaisers Karl, auf dem nächst Gott die meisten Hoffnungen ruhen“. Er warnte ihn, seine Herrschaft möge „nicht eine unselige, verhängnisvolle Wendung nehmen“, erinnerte an die Monarchen im Alten Testament, vom Pharaoh bis zu den Königen Babylons und natürlich auch denHerrschern in Israel „wie sie sich gerade dann am sichersten zugrunde richteten, wenn sie mit besonders klugen Plänen darauf ausgingen, Ruhe und Ordnung in ihren Reichen zu behaupten. Denn er, Gott, fängt die Schlauen in ihrer Schlauheit und kehret die Berge um, ehe sie es inne waren. Darum ist’s die Furcht Gottes, deren wir bedürfen.“ Geschickt ergänzte Luther: „Ich sage das nicht in der Meinung, so hohe Häupter hätten meine Belehrung oder Ermahnung nötig, sondern weil ich meinem lieben Deutschland den Dienst nicht versagen wollte, den ich ihm schuldig bin.“

Da Ecken im Namen der Versammlung am Vortag wie auch am 18. eine „einfache Antwort“ verlangt – widerruft Luther oder nicht? –, so lässt dieser den berühmten Schluss folgen: „Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es offenkundig ist, daß sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen.“ (In schriftlichen Versionen fand sich schon früh am Ende der Zusatz „ich stehe hier, ich kann nicht anders“. Ob Luther diese Worte tatsächlich gesagt hat, gilt als umstritten.)

Nach einem kurzen Wortgeplänkel wurde Luther aus dem Saal geführt. Er war erleichtert („Ich bin hindurch!“) und ließ sich in den folgenden Tagen nicht zu einer Revision seiner Weigerung bewegen. Am 26. April verließen die Wittenberger den Reichstag. Im Mai verhing der Kaiser die Reichsacht über Luther, der aber schon auf der Wartburg in Sicherheit war.

Bischof Hans Lilje (1899–1977) übertrieb nicht: Luthers Rede in Worms war „Symbol einer weltgeschichtlichen Wende ersten Ranges“ (Luther 1483/1983). Das individuelle Gewisse triumphierte, und so brachte in der Folge der Protestantismus ja auch die moderne Individualisierung voran. Betont werden muss heute aber, dass die reformatorische Entdeckung der Individualität eingebettet war in die Erkenntnis, dass, so Johannes Calvin, „Gott der einzige König der Seelen ist“ (Inst. IV,10,7) – nicht die Kirche, nicht der Staat. Luther hatte sein Gewissen ja nicht zu Gott gemacht; es „bleibt gefangen in Gottes Wort“. Diese Linie führt dann zum presbyterianischen Westminster-Bekenntnis von 1647, wo es heißt:

„Gott allein ist Herr des Gewissens und hat es von menschlichen Lehren und Geboten freigestellt, wenn sie bezüglich Glaube und Gottesverehrung irgendwie seinem Wort widersprechen oder es umgehen. Unter Berufung auf das Gewissen, solchen Lehren zu glauben und ihren Geboten zu gehorchen, bedeutet daher, die wahre Freiheit des Gewissens zu verraten. So führt die Forderung nach einem blinden Glauben und einem absoluten und bedingungslosen Gehorsam dazu, dass die Freiheit des Gewissens und der Vernunft zerstört wird. Wer unter dem Vorwand christlicher Freiheit irgendwelche Sünden begeht oder irgendeiner triebhaften Neigung nachgeht, zerstört den Sinn und Zweck der christlichen Freiheit; denn dieser besteht darin, dass wir, befreit aus den Händen unserer Feinde, dem Herrn ohne Furcht in Heiligkeit und Gerechtigkeit dienen sollen – alle Tage unseres Lebens.“ (XX,2)

Die britischen Presbyterianer konnten Mitte des 17. Jahrhunderts die Freiheit des Gewissens unter Gott hoch halten, weil Luther über 120 Jahre zuvor am Rhein mutig Stellung bezogen hatte. Denn wäre dieser damals eingeknickt, hätte die Reformation in Europa einen herben Rückschlag erlitten und wäre wahrscheinlich sogar gescheitert.