Die kommende Pastorenkrise?

Die kommende Pastorenkrise?

Die Ausbildung des pastoralen und theologischen Nachwuchses war in der litauischen Sowjetrepublik nur sehr eingeschränkt möglich. Die Kommunisten ließen einzig das Priesterseminar in Kaunas weiterbestehen, kontrollierten aber recht streng den Zugang. Wer bereit war, mit Staat und KGB zu kooperieren – und Spitzeldienste zu leisten – bekam eher den Zuschlag als die Gewissenhaften.

Nach und nach sollte die Kirchen ausgetrocknet werden, und tatsächlich ging die Strategie ein Stück weit auf. Ende der 80er Jahre war der Altersschnitt der katholischen Priester auf über 60 Jahre angestiegen – zu wenig jüngerer Nachwuchs. Die evangelischen Christen verfügten über gar keine Ausbildungsstätte im Land; ihre Perspektiven waren damals noch schlechter. Mitte der 80er hatte z.B. die reformierte Kirche keinen eigenen Pfarrer mehr (die lutherische lieh dann einen aus).

Mit Unabhängigkeit und Freiheit änderte sich die Lage natürlich grundsätzlich. Priesterseminare in Telšiai, Vilkaviškis und später auch in Vilnius wurden eröffnet. Junger Männer strömten nur so heran. Im Anhang von Dvidešimt penkeri religinės laisvės metai 1988–2013 (25 Jahre Religionsfreiheit 1988–2013) des Literaturwissenschaftlers und katholischen Journalisten Paulius Subačius befindet sich ein Foto der Kleriker und Dozenten des Seminars in Kaunas vom Sommer 1990: Hunderte Männer posieren dort für die Kamera!

Zwischen 1991 und 1995 erreichte die Zahl der Seminaristen mit insg. etwa 300 ihren Höhepunkt. Die Priesterschaft verjüngte sich in den letzten Jahrzehnten deutlich. Allerdings stieg die Gesamtzahl nur mäßig an: Vor 30 Jahren, gegen Ende der Sowjetzeit, taten immerhin noch fast 700 katholische Priester ihren Dienst in der litauischen Kirche; nun sind es um die 900, und die Tendenz ist wieder sinkend.

Da nicht alle in Pfarreien Dienst tun, kommen so rund 4000 Gläubige in Gemeinden auf einen Priester. Für ein katholisch geprägtes Land ist dies ein schlechter Wert. In der ebenfalls postkommunistischen Slowakei betreut ein Priester weniger als 1400 Gemeindemitglieder (2700 Priester auf 3,4 Mio Katholiken).

Grund dafür ist, dass die Zahl der Seminaristen seit 20 Jahren stark, nach 2005 sogar dramatisch sinkt: von 300 ging es auf etwa 40 runter. In Vilnius studieren zurzeit etwa 15 junge Männer, in Telšiai und Kaunas jeweils um die zwölf. Das Gruppenbild in Kaunas von 2015 (s.o.) zeigt im Vergleich zu fünfundzwanzig Jahren zuvor ein arg zusammengeschrumpftes Häuflein; die Bischöfe wurden zusammen mit Seminaristen  und Dozenten abgelichtet, um das elende Bild wenigstens etwas üppiger zu gestalten.

Die römisch-katholische Kirche hat also ernste Probleme mit dem Priesternachwuchs. Schon jetzt hat ein gutes Viertel der Landgemeinden keinen eigenen Priester. Mittelfristig wird wohl ein weiteres Priesterseminar geschlossen werden. Man kann aber gewiss sein, dass die Bischofskonferenz an Strategien arbeitet, um den Priestermangel aufzufangen.

Bei den evangelischen Kirchen verlief die Entwicklung ähnlich. In den 90er Jahren übernahmen viele junge Männer (und einige wenige Frauen) pastorale Ämter. Die Zunahme in Zahlen ist bei ihnen noch größer gewesen, da vor dreißig Jahren insgesamt nur wenig Evangelische überhaupt vollzeitig in Gemeinden tätig waren und auch manche Kirche noch gar nicht bestanden.

Die lutherische Kirche vervielfachte die Zahl ihrer Pfarrer innerhalb von zwanzig Jahren auf nun zwei Dutzend (für gut 50 Gemeinden). Auch Pfingstler, Baptisten, Freie Christen, Methodisten und Reformierte haben ihren Grundbedarf an Pastoren weitgehend gedeckt. Doch schaut man einmal zwanzig, dreißig Jahre nach vorne, verdüstert sich das Bild.

In den evangelischen Gemeinden sind die allermeisten Pastoren und Pfarrer in ihren vierziger und fünfziger Jahren, nur der eine und andere ist jünger bzw. älter. Hier und heute befindet sich die Mehrzahl der Geistlichen also im besten Alter – erfahren, körperlich aber noch rüstig. In einer Generation werden sie jedoch in ihrer großen Mehrheit das Rentenalter erreichen bzw. erreicht haben. Ab etwa 2040 wird eine Masse von evangelischen Pastoren den aktiven Dienst verlassen. Und wer rückt nach?

Die römisch-katholische Kirche ringt mit den Problem des mangelnden Nachwuchses. Die Evangelischen, so scheint es, haben das Problem noch nicht einmal auf dem Radar. Dabei geht es bei ihnen, einer Gruppe von einem Prozent der Bevölkerung, um die pure Existenz. In den evangelischen Gemeinden gibt es nur äußerst wenige Pastoren unter vierzig Jahren (man kann sie wohl an ein, zwei Händen abzählen), und man muss sich leider fragen: Wo gibt es überhaupt junge Männer (die Mehrheit der Kirchen ordiniert faktisch nur Männer), die sich auf einen vollzeitlichen Dienst vorbereiten oder ihn anstreben? Wo sind sie??

In unserer reformierten Kirche ist Vaidotas, Ende zwanzig, seit Januar für gut zwei Jahre zum Studium am „Puritan Reformed Theological Seminary“ in Grand Rapids (USA). Anschließend will er in einer Gemeinde in Litauen tätig werden. Ein echter Hoffnungsschimmer. Möglicherweise gibt es noch den einen oder anderen jungen Menschen in den übrigen evangelischen Kirchen, der den vollzeitlichen Gemeindedienst anstrebt. Doch angesichts des zukünftigen Bedarfs sind dies viel zu wenig.

Gründe für diese Entwicklung gibt es gewiss einige. Allgemein ist der Wohlstand im letzten Vierteljahrhundert deutlich gestiegen, doch der ‘kirchliche Raum’ hinkt hinterher. Die finanzielle Ausstattung der christlichen Kirchen, Gemeinden und Werke ist in Litauen im Schnitt immer noch weit unter dem Niveau, das man in Westeuropa kennt. Teilweise fehlt es an allen Ecken und Enden am Geld, denn eine Spendenkultur muss schließlich auch erst heranwachsen. Die Verdienstmöglichkeiten im vollzeitlichen Gemeindedienst sind mitunter bescheiden, sehr bescheiden. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, doch wer sich und seine Familie normal versorgen will, der überlegt sich schon drei Mal, ob er eine pastorale Laufbahn einschlagen will. Alternativen gibt es in der Wirtschaft nun genug.

Hinzu kommt auch im theologischen Bereich die Emigration ins Ausland. Eine theologische Karriere ist in Litauen kaum zu machen; man darf sich in den Gemeinden aufreiben. Viel attraktiver ist da die Anstellung an einer theologischen Hochschule im Westen. So ist Lina Toth, Tochter des Baptistenpastors und früheren Bundesleiters Albertas Latužis, seit vielen Jahren nicht mehr in Litauen. Nun mit Doktortitel in Theologie unterrichtet sie im schottischen Glasgow an einer baptistischen Schule. Ab und an kommt sie zwar auch nach Litauen und leitet das theologische Ausbildungsprogramm des Baptistenbundes (in dem sie auch ordiniert wurde). Doch die große Distanz tut ihr Übriges.

Anders als die katholischen Kollegen dürfen evangelische Pastoren Frau und Familie haben. Das macht den Dienst in protestantischen Kirchen zwar attraktiver, bringt aber mitunter andere, neue Probleme mit sich. Die Zahl der aktiven Pastoren wurde in den letzten Jahrzehnten durch schwere Ehekrisen und Scheidungen dezimiert. Hier ließen sich leider gleich mehrere Beispiele nennen wie das des Leiters der Vineyard-Bewegung in Litauen (und ehemalige LKSB-Vorstandsleiter) oder des Hauptpastors der „Wort des Glaubens“-Gemeinden. Giedrius Saulytis wurde vor einigen Jahren wegen Ehebruchs aller seiner Ämter enthoben. Der Doktor der Theologie war auch Dekan des EBI in Vilnius und hatte große Ambitionen, stellte sich jedoch selbst ein Bein.

Mit dem immer von sich überzeugten Saulytis muss man kein Mitleid haben. Mit Romualdas Babarskas, dem Übergangsrektor und Šiauliaier Dekan des EBI, jedoch schon. Der immer freundlich und bescheiden auftretende Mitvierziger lebt seit Februar getrennt von seiner Frau, die kürzlich die Scheidung eingereicht hat. Es ist zu befürchten, dass es ihm nicht gelingt, die Ehe zu retten. Angesichts der derzeitigen Herausforderungen an die Leitung des EBI (s.u.) sind solche privaten Probleme natürlich alles andere als hilfreich. Nach dem plötzlichen Krebstod von Jūratė, der Frau des damaligen EBI-Rektors Valdas Vaitkevičius und die gute Seele des Studienzentrums in Šiauliai, vor eineinhalb Jahren droht ein weiterer Schlag.

An der Ausbildungsfront sieht es allgemein nicht besser aus als bei den Katholiken. Der Lehrstuhl für evangelische Theologie an der Universität Klaipėda wurde vor einigen Jahren mangels Studierender dicht gemacht. Lutheraner, Reformierte und Methodisten hatten den Nachwuchs dorthin geschickt. An der LCC International University, ebenfalls in Klaipėda, kann weiterhin Theologie studiert werden, allerdings in englischer Sprache und nicht auf die Gemeindebedürfnisse zugeschnitten. Der Pfingstbund macht seine Hausaufgaben und unterhält seit vielen Jahren das Theologische College in Vilnius. Daneben gibt es eigentlich nur noch das Evangelische Bibelinstitut (EBI, Vilnius/Šiauliai).

Doch auch am EBI geht die Zahl der Studierenden eher zurück. Denn in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren schickten gerade die „Wort des Glaubens“-Gemeinden zahlreiche Pastoren, Pastorinnen und Mitarbeiter zum Studium ans EBI, da man noch in den 90er Jahren meinte, ohne theologische Ausbildung auskommen zu können. Dieser große Nachholprozess geht nun aber seinem Ende entgegen – viele Pastoren des Bundes haben ihr Studium schon abgeschlossen oder können das Ende absehen. Aber auch in diesem Gemeinden gilt: Wer rückt in zwanzig, dreißig Jahren nach?

Theologische Ausbildung ist in strategischer Hinsicht ein ungeheuer wichtiger Faktor im kirchlichen Leben. Das hatten sogar die Kommunisten erkannt und daher folgerichtig hier die Daumenschrauben am stärksten angezogen. Nun, nach Jahrzehnten in Freiheit, kann nicht mehr auf die böse Obrigkeit verwiesen werden. Es liegt in der Hand der Kirchen selbst, den Blick nach vorne zu richten und in die Zukunft zu investieren: mit Geld, Personal und kreativen Ideen. Andernfalls droht tatsächlich eine große Pastorenkrise.

Es gibt aber durchaus Hoffnung. Unterhalb der Pastorenebene ist der Lernwille, ja der Durst nach fundierter Theologie und die Sehnsucht nach Wachstum im Glauben erstaunlich groß. Ein Lösungsansatz wird in Zukunft wohl darin bestehen, Mitarbeiter in Gemeinden wie Diakone, Prediger, Katecheten usw. auszubilden, die den Dienst der Pfarrer und Pastoren ergänzen können. Hier liegt noch großes Potential, allerdings sind viele Kirchen, selbst die jüngeren, stark fixiert auf den einen ordinierten Geistlichen. Hier schlägt auch die katholische Prägung des Landes durch, da in der dominierenden Kirche Bischöfe und Priester im Mittelpunkt stehen. Vielleicht kann das Jahr der Reformation dazu beitragen, ein evangelisches Dienst-, Amts- und  Leitungsverständnis stärker ins Bewusstsein zu rücken.