Der lautlose Exodus

Der lautlose Exodus

Die letzte Volkszählung im Frühjahr 2011 bestätigte, dass die Einwohnerzahl Litauens sich der Schwelle von 3 Millionen genähert hat. Nun, sechs Jahre später, geht der Trend nach unten weiter: Derzeit leben 2,85 Millionen Menschen in der Republik von der Größe des Freistaats Bayern. Innerhalb eines Vierteljahrhunderts hat sich die stattliche Zahl von 3,7 Millionen am Ende der Sowjetzeit – Höchstwert in der litauischen Geschichte – um fast ein Viertel reduziert. Setzt sich der Trend fort, wird Litauen 2100 deutlich weniger als 2 Millionen Einwohner haben. („Eurostat“ schätzte vor einigen Jahren die Einwohnerzahl im Jahr 2080 auf 1,85 Millionen.)

Eine der Ursachen ist die zu niedrige Geburtenrate. Seit der Jahrtausendwende werden im Jahr etwa 30.000 Kinder geboren, wobei seit gut zehn Jahren eine leicht steigende Tendenz zu verzeichnen ist (im vergangenen Jahr 31.153 Geburten). 2002 war der Tiefpunkt mit gerade 1,23 Geburten pro Frau erreicht. Inzwischen gibt ein statistischer Wert von über 1,6 Geburten wieder Hoffnung, doch in der gesamten Nachkriegszeit lag die Geburtenrate deutlich höher: zwischen 2 und 2,5 Geburten pro Frau.

Ein großer Sockel von geburtenstarken Jahrgängen geht in den kommenden 30 bis 40 Jahren in den Ruhestand. Die hohen Zahlen von 1990 (60.000 Geburten) werden sicher einmalig bleiben und die Geschichte eingehen. Noch einige Tausend mehr Geburten müssten erreicht werden, damit die Zahl der Todesfälle (40.000 im Jahr) ausgeglichen werden kann.

Litauen ist also auf Zuwanderung angewiesen, um das Bevölkerungsniveau zu halten. Doch niemand strömt in die Mitte Europas. Selbst die zugewiesenen Flüchtlinge machen sich allermeist bald wieder aus dem Staub und ziehen weiter nach Schweden oder Deutschland. Und Zehntausende Litauer im arbeitsfähigen Alter verlassen jedes Jahr das Land. 2016 lag das Migrationssaldo bei minus 30.000 Einwohner. 2015 wanderten gut 22.000 mehr Menschen aus Litauen aus als hinzuzogen. Seit gut zehn Jahren hält dieser Trend an, da das Lohngefälle zwischen West- und Osteuropa sich nur langsam angleicht. Die Freizügigkeit in der EU macht es auch den Litauern möglich, im Westen ordentliches Geld zu verdienen.

Die Hauptziele der Emigration bleiben weiterhin die britischen Inseln: 46% der Auswanderer zog es 2016 ins Vereinigte Königreich, 8,4% nach Irland; es folgen Norwegen und Deutschland mit jeweils knapp 8%. Die britische Hauptstadt ist sicherlich die fünfte litauische Großstadt, da sich in Großraum Londons wohl einige Hunderttausend Litauern niedergelassen haben.

Schon im Jahr 2000 sang Marijonas Mikutavičius „in der Welt sind wir nur drei Millionen“. Der Hit „Drei Millionen“ des Journalisten und Entertainers wurde zur inoffiziellen Nationalhymne, ganz nach dem Motto: klein, aber stark. Damals rundete er nach unten, heute müssen die Emigrierten mitgezählt werden, um die schöne Zahl noch zu erreichen. Bei Sportturnieren kann man noch Stolz auf die Kraft eines kleinen Völkchens und gute Resultate sein. Die Stadtplaner dagegen müssen sich nun mit der Wirklichkeit herumschlagen und ihre Kommunen anpassen.

Denn innerhalb von 25 Jahren schrumpften die Städte und Städtchen Litauens teilweise drastisch. Unter den Großstädten konnte nur Vilnius, die Hauptstadt, seine Einwohnerzahl in etwa halten. Dort leben heute knapp 540.000 Einwohner, also in etwa so viele wie in Hannover (1989 noch knapp 600.000). Kaunas schrumpfte schon stärker: von 435.000 auf nun etwas unter 300.000; Klaipėda auf 155.000. Damit ist die Hafenstadt nun fast so groß wie einst die Nummer vier der litauischen Großstädte, Šiauliai.

Siauliai

Šiauliai hatte um 1920 nur etwa 21.000 Einwohner, 1959 schon 60.000 – eine Verdreifachung innerhalb von 40 Jahren. Wiederum 30 Jahre später lebten 145.000 in der Stadt, nicht zuletzt wegen zahlreicher Einrichtungen der Roten Armee. Das explosionsartige Wachstum vieler west- und zentraleuropäischer Städte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiederholte sich also in Osteuropa nach den Weltkriegen, besonders dann natürlich durch die staatliche Lenkung in der Sowjetunion. Bewohner von Einzelhöfen wurde in kleine Dörfer zusammengefasst, und Hunderttausenden vom Land wies man Arbeit in den Industriezentren zu, die in Litauen recht breit über das Land aus dem Boden gestampft wurden. So sind sehr viele der älteren Großstädter noch auf dem Land geboren, haben häufig agrarische Wurzeln.

Šiauliai rutscht nun mit etwa 100.000 Einwohnern an die Schwelle zur Großstadt heran. Panevėžys, einst 130.000 Einwohner, liegt mit 90.000 schon deutlich darunter. Mittelgroße Städte wie Alytus, Marijampolė, Kėdainiai, Utena, Jonava, Ukmergė und Mažeikiai verloren seit 1990 alle zwischen 20 und 30% ihrer Einwohner. Kleinere Orte, Städtchen von ein paar Tausend Bewohners wie Dusetos, Užventis, Vabalninkas, Obeliai, Varniai, Jieznas, Žagarė, Salantai oder Venta müssen sogar mit einem Rückgang von etwa 40% zurechtkommen. Mancher Ort hat durchaus touristisches Potential wie z.B. Tytuvėnai, das malerisch zwischen mehreren Seen liegt. Doch die Urlaubssaison ist im Norden Europas kurz, Arbeit gibt der Sektor nur wenigen. Tytuvėnai schrumpfte von etwa 3000 auf 2000 Einwohner. (Grafik o.: prozentualer Rückgang der Bev. in den litauischen Städten – fast alles im roten Bereich.)

In Lettland wie auch Estland laufen ähnliche Prozesse ab. Die demographischen Aussichten für die baltischen Staaten sind daher insgesamt nicht rosig. Ganz Litauen ist nun so groß wie Rom in Europa, Chicago in den USA oder Addis Abeba in Äthiopien. Und alle Einwohner Estlands hätten in München Platz.

Die Herausforderungen für die politisch Verantwortlichen werden in Zukunft gewaltig sein, und schon jetzt wird mit ernsten Problemen gerungen. Dazu gehört vor allem der Bildungssektor, da schon jetzt deutlich weniger Schulen gebraucht werden; viele auf dem Land müssten noch geschlossen werden. Ähnliches gilt für die Hochschulen. Zur Zeit wird eifrig darüber diskutiert, wie die Zahl von über 40 Universitäten, Fachhochschulen und Akademien vernünftig reduziert werden kann.