Weisheit und Gehorsam

Weisheit und Gehorsam

Lehren aus Salomos Gebet für Machthabende im Staat, aber nicht nur für sie

David war ein großer König Israels, erfolgreich auf dem Schlachtfeld und Gott sein Leben lang treu. Doch in der Familie lief vieles nicht rund. So war er manchmal ein Zauderer, ließ die Nachfolgefrage lange offen. Schließlich setzte sich Salomo, auch Dank seiner Mutter Bathseba, im Ringen um den Thron durch. Der Versuch des älteren Halbbruders Adonijas – vom Vater lasch erzogen und „nie“ getadelt (1 Kön 1,6) – ihn dennoch zu stürzen, scheiterte. Nach Kampf und Intrigen um den Königstitel konnte Salomo seine Herrschaft festigen. Diese brachte dem Land vierzig Jahre Frieden und nie gesehenen Wohlstand.

Salomo gelangte nicht nur durch Machtpolitik zur Herrschaft. Gott wollte ihn auf dem Thron und lenkte die Ereignisse. In 2 Sam 12,24–25 heißt es über den gerade geborenen Salomo, dass der Prophet Nathan ihn einen „Geliebten des Herrn“ nannte („Jedidja“). Und diese Beziehung war keine einseitige: „Salomo aber hatte den HERRN lieb und wandelte nach den Satzungen seines Vaters David“ (1 Kön 3,3). Da es noch keinen Tempel gab, opferte auch der König „auf den Höhen“ wie z.B. in Gibeon, ein paar Kilometer nördlich von Jerusalem. Dort erschien ihm Gott selbst im Traum – mit einem so wohl nie wieder in der Bibel zu findenden Angebot. In 1 Kön 3,5f  heißt es:

„Und der HERR erschien Salomo zu Gibeon im Traum des Nachts und Gott sprach: Bitte, was ich dir geben soll! 6 Salomo sprach: Du hast an meinem Vater David, deinem Knecht, große Barmherzigkeit getan, wie er denn vor dir gewandelt ist in Wahrheit und Gerechtigkeit und mit aufrichtigem Herzen vor dir, und hast ihm auch die große Barmherzigkeit erwiesen und ihm einen Sohn gegeben, der auf seinem Thron sitzen sollte, wie es denn jetzt ist. 7 Nun, HERR, mein Gott, du hast deinen Knecht zum König gemacht an meines Vaters David statt. Ich aber bin noch jung, weiß weder aus noch ein. 8 Und dein Knecht steht mitten in deinem Volk, das du erwählt hast, einem Volk, so groß, dass es wegen seiner Menge niemand zählen noch berechnen kann. 9 So wollest du deinem Knecht ein gehorsames Herz geben, damit er dein Volk richten könne und verstehen, was gut und böse ist. Denn wer vermag dies dein mächtiges Volk zu richten? 10 Das gefiel dem Herrn gut, dass Salomo darum bat. 11 Und Gott sprach zu ihm: Weil du darum bittest und bittest weder um langes Leben noch um Reichtum noch um deiner Feinde Tod, sondern um Verstand, zu hören und recht zu richten, 12 siehe, so tue ich nach deinen Worten. Siehe, ich gebe dir ein weises und verständiges Herz, sodass deinesgleichen vor dir nicht gewesen ist und nach dir nicht aufkommen wird. 13 Und dazu gebe ich dir, worum du nicht gebeten hast, nämlich Reichtum und Ehre, sodass deinesgleichen keiner unter den Königen ist zu deinen Zeiten. 14 Und wenn du in meinen Wegen wandeln wirst, dass du hältst meine Satzungen und Gebote, wie dein Vater David gewandelt ist, so werde ich dir ein langes Leben geben.“

Überfordert!

Salomo war wohl etwa Anfang 20 (vielleicht aber auch noch deutlich jünger), als er den Thron seines Vaters bestieg. Salomo nennt sich selbst „noch jung“ (V. 7), hält sich also für nicht reif genug für das hohe Amt. Ähnlich drückte sich auch ein Prophet wie Jeremia aus: „Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.“ (Jer 1,6) Er sieht die Schwere der Regierungsaufgabe und fühlt sich dieser Verantwortung nicht gewachsen.

Das junge Alter bringt vor allem einen Mangel an Erfahrung mit sich, weshalb der König gleich fortfährt: ich „weiß weder aus noch ein“ (Luther); „ich weiß nicht aus- noch einzugehen“ (Elberfelder). Was meint Salomo mit dieser Formulierung? Höchstwahrscheinlich spielt der junge König an das Ein- und Ausgehen eines Hirten in den Stall seiner Herde an. Dies macht Num 27,17 deutlich. Dort vergleicht Mose seinen Nachfolger Josua mit einem Hirten, „der vor ihnen her in den Kampf zieht und vor ihnen her wieder in das Lager einzieht, der sie zum Krieg hinausführt und sie zurückführt; die Gemeinde des Herrn soll nicht sein wie Schafe, die keinen Hirten haben“. Dieses Bild des Hirten wird im AT recht oft gebraucht. Die Leiter des Volks sollen es „weiden“ (2 Sam 7,7); „Schafe ohne Hirte“, ein verlassenes, schutz- und orientierungsloses Volk, ist ein mehrfach gebrauchtes Bild des Unheils und des Gerichts Gottes (s. z.B. 1 Kön 22,17; Jes 13,14). Der verheißene Messias wird dagegen seine Herde recht weiden (Jes 40,11). Jesus ist daher dann auch „der gute Hirte“; bei ihm die geretteten Schafe sicher „ein- und ausgehen“ (Joh 10,9–11).

Die Einheitsübersetzung und andere modernere Übersetzungen formulieren gut, Salomo wisse nicht, wie er sich „als König verhalten“ soll. Alle umschreiben die Unerfahrenheit Salomos. Wenn wir aber das Bild des Hirten beachten, dann sagt der König noch mehr: Ich kann als Hirte noch nicht einmal die Herde in den Stall und wieder herausbringen! Was bin ich für ein Hirte, wenn ich nicht einmal das kann?! Mein Vater hat Löwen und Bären erlegt (1 Sam 17,34–36), und ich als Hirte des Volkes? – Salomo fühlte, dass ihm absolut grundlegende Kenntnisse fehlten.

Nicht ein noch aus wissen wie Salomo – dies Gefühl werden gerade Leiter in den Spitzen europäischer Staaten kaum noch los. Den Euro retten, den Zusammenbruch von Griechenland verhindern, Wohlstand sichern, eine Rezession vermeiden und und und. Dirk Kurbjuweit im „Spiegel“ (23/2012): „Mensch sollen das lösen“, aber kaum noch einer versteht all die Zusammenhänge – „eine übermenschliche Aufgabe“.

Womöglich hatte Salomo einfach nur Angst vor Chaos in der großen Herde. In V. 8  nennt er sein großes, ja unzählbares Volk – wie soll man über dies herrschen? Ihm fehlt der Überblick, er ist verwirrt, von der Herausforderung schlicht überfordert. Vielleicht schätzt er seine Fähigkeit auch zu gering ein. Schließlich wird er eine gute Ausbildung genossen haben; er hatte das Vorbild seines Vaters. Dieser nannte ihn 1 Kön 2,9 sogar schon „weise“.

Salomo hatte noch nicht die „sehr große Weisheit“ (1 Kön 5,9), die ihm Gott dann später schenkte. Doch schon hier finden wir bei ihm den Anfang der Weisheit: die eigenen Grenzen kennen, seinen Mangel ausdrücken. Diese Haltung wird auch darin erkennbar, dass sich Salomo drei Mal als „Knecht“ Gottes bezeichnet (einmal nennt er seinen Vater so). Er drückt damit echte Demut aus. Mit einem Wort: Ich brauche Hilfe von dir, Gott!

Ein völlig anderes Bild zeigt sich beim Nachbarn im Westen, in Ägypten. Die ägyptischen Pharaonen wie Echnaton („Glanz des [Gottes] Aton“) einige Jahrhunderte vor Salomo zuvor sahen sich als Gottessöhne und Mittler des Heils. Sie gaben sich eindrucksvolle Titel wie „Zerschmetterer“ oder „Balken der Erde“. Echnatons Vater Amenophis III nannte sich „die glänzende Sonnenscheibe der Länder“ und rühmte sich: „Ich schuf Größe ohne Ende“. Doch die Größe hatte – welch bittere Ironie – bald ein Ende: die 18. Dynastie starb mit Echnatons Sohn Tutanchamun aus.

Von den Pharaonen ist kaum etwas zu lernen, höchstens Hybris, fatale Selbstüberschätzung. Von echter Weisheit keine Spur. Ist es Zufall, wenn es in 1 Kön 5,10 provokant heißt, dass Salomos Weisheit „größer war als die Weisheit von allen, die im Osten wohnen, und als die Weisheit der Ägypter“?

Dem Modell der Pharaonen folgen heute die allermeisten populären Lebensberater. In zahlreichen Büchern wird uns eingetrichtert, dass wir Halbgötter mit göttlichem Potential in uns sind, so dass es natürlich jeder zum Millionär schaffen kann. Jeder kann sich selbst alle Wünsche erfüllen – wenn man nur die richtigen Techniken anwendet (und auf die richtigen Gurus hört).

Das andere Modell ist das des Salomos. Am Anfang echter Weisheit steht nicht die Erkenntnis der eigenen Göttlichkeit und des eigenen machtvollen Potentials, sondern das Wissen um das Knechtsein und das Gefühl der Überforderung. Wenn wir uns also in unseren Lebensbereichen wie Familie, Arbeit, Kirche und der Politik auf Grenzen stoßen und nicht recht weiter wissen; wenn wir unter der Last der zu schweren Aufgaben leiden, dann sind wir auf einem guten Weg. Wenn wir uns als überforderte Knechte sehen, dann sind wir bereit uns demütig an Gott im Gebet zu wenden, an den Richtigen zu glauben und auf Ihn zu hören, damit wir richtig denken können und schließlich weise entscheiden und handeln.

Hören und Gehorchen

Nach dem Rückblick auf seinen Vater und die Schilderung der eigenen Situation nennt Salomo in V. 9 seinen konkreten Wunsch. Er bittet darum, dass Gott ihm ein „hörendes Herz“ (Einheitsübersetzung, Elberfelder) geben möge. Luther und andere übersetzen „gehorsames Herz“ (andere sprechen vom „verständigen“ oder „weisen“ Herzen, was aber mehr Interpretation im Hinblick auf V. 12 und 2 Chr 1,10 ist).

Tatsächlich hängen Hören und Gehorchen untrennbar zusammen. Gehorsam beginnt mit dem Hören. Zuhören, Hinhören bezeichnet mehr das sich Öffnen und Aufnehmen, also eher die passive Seite des Vorgangs; Gehorchen meint mehr die aktive Seite: das Tun und Handeln. In vielen Sprachen spiegelt sich dieser enge Zusammenhang wider. Im Gr. akouo – hören, und hyp-akouo – gehorchen. Ähnlich im Deutschen: hören und ge-horchen. Das engl. obedience – Gehorsam, stammt vom lat. oboedire – zuhören.

Hören auf wen? Hier im Text wird dies nicht direkt beantwortet, aber der Kontext des ganzen Gebets und auch der der gesamten biblischen Botschaft macht deutlich: auf Gott selbst hören. So beginnt ja auch das Hauptbekenntnis der Israeliten: „Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein!“ (Dt 6,4) In Ps 95,7: „Wenn ihr doch heute auf seine Stimme hören wolltet“.

Den Gläubigen im Neuen Testament gilt das gleiche. Gott sagt in Mt 17,5: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!“ (s. auch Dt 18,9) Jesu vergleicht sich mit einem Hirten, die Nachfolger mit Schafen, die seine Stimme hören (Joh 10,3). Ganz in diesem Geist heißt es auch in der ersten These der Barmer theologischen Erklärung (1934): „Jesu Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“

Umgekehrt ist das Nichthörenwollen ein Ausdruck des Fernseins von Gott: „Dies böse Volk, das meine Worte nicht hören will, sondern nach seinem verstockten Herzen wandelt und andern Göttern folgt, um ihnen zu dienen und sie anzubeten…“ (Jer 13,10; s. Jes 66,4; Jer 6,10; 7,24; 22,21). Jesus in Joh 8,47: „Wer von Gott ist, der hört Gottes Worte; ihr hört darum nicht, weil ihr nicht von Gott seid.“ (s. auch Mt 13,15). Aber auch Christen ringen noch mit diesem Problem: „…aber es ist schwer, weil ihr so harthörig geworden seid“ (Hbr 5,11).

Der Weise ist also zuallererst ein Hörender, der daraus lernen will (Spr 1,5). Er erkennt, dass Weisungen nötig sind – vor allem Gottes. Der lutherische Pfarrer Frank Buchman (1878–1961), Gründer der „Oxford-Gruppenbewegung“, fasste zusammen: „Wenn der Mensch horcht, redet Gott… Es geht nicht darum, dass wir Gott Ideen geben. Es geht darum, dass er uns Weisung gibt… Die Welt braucht am meisten eine Unterweisung in der Kunst, auf Gott zu horchen.“  (Remaking the World)

Wo sollen wir auf Gott hören? Sollen wir auf das hören, was unser Herz uns sagt? Oder was wir in unserem tiefsten Inneren hören? Spricht Gott in den untersten Seelenschichten zu uns? An dieser Stelle können wir nicht näher analysieren, wie Gott z.B. durch das Gewissen oder den Hl. Geist im Menschen redet. Der Akzent hier und in weiten Teilen der Bibel ist, dass wir etwas von außen aufnehmen. Wir sollen heute hauptsächlich auf das geschriebene und erläuterte Wort der Bibel hören, denn sie ist „das wahre Wort Gottes“, wie es gleich zu Beginn des Zweiten helvetischen Bekenntnisses heißt. Dort weiter: „Denn Gott selbst hat zu den Vätern, Propheten und Aposteln gesprochen und spricht auch jetzt noch zu uns durch die heiligen Schriften“.

Eine Frage gilt es hier noch zu klären: Warum bittet Salomo eigentlich um Gehorsam, um eine hörende Haltung? Warum tut er nicht einfach, was Gott von ihm will? Weil unser Herz dies von Natur aus nicht will. Salomo hat erkannt, dass er als sündiger Mensch die Neigung hat, alles allein und nach eigenem Gutdünken zu entscheiden. Wir müssen daher um den Gehorsam bitten; um ein aufnahmebereites Herz oder offenes inneres Ohr, damit wir wie David von Gott sagen können: „Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet.“ (Jes 50, 4–5)

Der Gehorsam ist uns natürlich auch geboten. V. 14 macht ja deutlich, dass Salomo selbst auf dem Weg Gottes gehen und dessen Gebote konkret halten soll. Gott macht dies nicht an seiner Statt. Damit gilt für den Gehorsam das gleiche wie für den Glauben: er ist Gebot und Geschenk zugleich. Auch der Glaube ist ja Gebot an uns: wir sollen glauben (z.B. Joh 14,1), und er ist gleichzeitig eine Gabe Gottes (Eph 2,8; 6,23; 2 Pt 1,1), denn wir können von uns aus nicht glauben.

Salomos Gebet ist wirklich außergewöhnlich, und das bis heute. Denn ein Herrscher dieser Tage würde wohl beten: Gott, nenn mir die sieben Schritte zum erfolgreichen Regieren. Nicht so Salomo. Er bittet nicht: Gib mir die Werkzeuge; sag mir möglichst genau, wie ich’s machen soll. Salomo bat hier nicht um konkrete Rezepte, Lösungen, einen fertigen Plan, sondern um die Grundlage von allem – die richtig innere Einstellung.

Verstehen und Unterscheiden

In vielen Übersetzungen heißt es in V. 9, dass Salomo um ein „verstehendes Herz“ bittet. Das ist eine nicht schlechte Deutung im Hinblick auf die zweite Vershälfte, und in V. 12. sagt Gott ja dann tatsächlich, dass er ihm ein „verständiges“ oder „weises“ geben wird. Salomo begreift, dass er Verstand und Einsicht braucht, um Gut und Böse zu unterscheiden und so gut zu richten und zu regieren.

Hören/Gehorsam und Verstand bilden hier also keinerlei Gegensatz. Gehorsam ist in der Bibel kein blindes Nachfolgen, sondern immer mit Einsicht verbunden. Menschen sollen die Gebote verstehen und begreifen, wie sie sie konkret zu befolgen und umzusetzen sind.

Natürlich können wir vieles nicht begreifen, weil wir nicht Gott sind (Job 37,5; 42,3). Unser Verständnis hat immer Grenzen. Aber was verstanden werden kann, soll auch durchdacht und begriffen werden. Verständnis ist daher ein durchgehend wichtiges biblisches Thema, vor allem im Buch der Sprüche. Konkret sollen z.B. Gottes Gesetz und seine Gebote verstanden werden (Ps 119,18.27.125). Auch im NT wird dieses Ziel vorgegeben: „Seid nicht Kinder, wenn es ums Verstehen geht; sondern seid Kinder, wenn es um Böses geht; im Verstehen aber seid vollkommen.“ (1 Kor 14,20) Oder in Eph 5,17: „Darum seid nicht unverständig, sondern versteht was der Wille des Herrn ist.“

Gehorsam ist die Grundlage, aber eben ‘nur’ das Fundament und die Voraussetzung. Dem Wort Gottes soll nicht blind gehorcht, sondern sein Sinn soll wirklich begriffen werden. Daher folgte z.B. in Neh 8 der Vorlesung des Gesetzes vor dem Volk dessen Erläuterung, „so dass man verstand, was gelesen worden war“ (V. 8). Diesem Vorbild folgend wurden schon in den Synagogen zu Jesu Zeiten und werden in den Kirchen bis heute Bibeltexte nicht nur verlesen, sondern ausgelegt, damit ihre Bedeutung für heute auch wirklich erfasst wird.

Weil das Verstehen das Ideal ist, ist das Gegenteil auch so schlimm. Die Propheten des AT klagen oft über das Nichtverstehen der Menschen: „Ochsen und Esel kennen ihren Besitzer und den Futtertrog ihres Herrn, nicht aber mein Volk Israel – mein Volk begreift nichts“ (Jes 1,3; s. auch Dt 32,28; Jer 5,21; Hos 4,6). Ähnliches streng drückt sich auch Jesus aus (s. z.B. Mt 16,9; Mk 9,32; Joh 8,43; 10,6).

Weil der Mensch von Natur aus so schwer von Begriff ist, gilt für den Verstand ähnliches wie für den Gehorsam und den Glauben: er ist auch eine Gabe Gottes. Gott gibt „den Verständigen ihren Verstand“ (Dan 2,21). „Der Herr aber wird dir in allen Dingen Verstand geben“, schreibt Paulus in 2 Tim 2,7. Der Gläubige bittet Gott: „unterweise mich, so lebe ich“ (Ps 119,144). In der Begegnung mit zwei Jüngern auf dem Weg nach Emmaus muss Jesus ihnen den Verstand öffnen, die Einsicht schenken, „so dass sie die Schrift verstanden“ (Lk 24, 45).

Konkret geht es besonders um moralische Erkenntnis, denn Salomo hat ja das Ziel zu verstehen, „was gut und böse ist“. Durchblick in ethischen Fragen ist also ebenfalls ein Gebot (s. z.B. Ps 34,15; Am 5,15) und eine Gabe Gottes zugleich. Und es ist eine Gabe, die man einüben kann. Der Autor des Hebräerbriefes spricht von im Glauben Fortgeschrittenen, „die durch den Gebrauch geübte Sinne haben und Gutes und Böses unterscheiden können“ (Hbr 5,14).

Der König bittet um Verstand und Einsicht für seine konkrete Regierungsarbeit („damit er sein Volk richten könne“). Seine Politik will eine gottesfürchtige, weise und rationale sein. Gerade letzteres erscheint uns heute als selbstverständlich, doch in der Antike war dieses Ideal einer Herrschaft nach vernünftigen Grundsätzen etwas radikal Neues. In den Staaten des Nahen und Mittleren Osten, aber auch in Griechenland und Rom, waren Astrologie und Zauberei feste Bestandteile der Politik. Vor allen wichtigen Entscheidungen wurden die Sterne gefragt, der Vogelflug gedeutet oder wurde die Zukunft aus den Innereien von Tieren gelesen. Auch aus Getränken wurde die Zukunft gedeutet (s. Gen 44,5). In Hes 21,26 heißt es: „Denn der König von Babel steht an der Wegscheide, am Anfang der zwei Wege, und lässt das Orakel entscheiden: Er schüttelt die Pfeile, befragt die Götterbilder und hält Leberschau.“ Das AT verbietet all diese Praktiken streng und spart auch nicht mit Spott wie z.B. in Jes 47,13 über Babylon: „Du hast dir große Mühe gemacht mit deinen vielen Beratern; sollen sie doch auftreten und dich retten, sie, die den Himmel deuten und die Sterne betrachten, die dir an jedem Neumond verkünden, was kommt.“

Audrius Beinorius schreibt in einem englischen Beitrag auf seinem Blog audriusbeinorius.blogspot.com, dass in Indien „bei praktisch allen Anlässen“ nach Zeichen und Vorhersagen gesucht wurde. Die Astrologen hatten „gewaltige Macht und Einfluss am Hof und in allen Gesellschaftsschichten“. Der Leiter des Zentrums für Orientalistik an der Universität von Vilnius weiter:

„Die aktive Unterstützung der Astrologen durch die herrschenden Klassen in Indien hat ihre Parallelen auch in anderen Ländern. In hellenistischer Zeit unterhielten sowohl hohe Herrscher als auch rangniedrigere Adelige Hofastrologen. Diese Astrologen besaßen ein beträchtliches Maß an Macht; oft hing das ganze Leben dieser Adeligen, ja sogar manchmal das der Mitglieder der Herrscherfamilie, von den Interpretationen der astrologischen Berater des Herrschers ab. Auch z.B. in China standen Astrologen für mehr als zwei Jahrtausende im Staatsdienst…“

Er zitiert eine alte hinduistische Schrift: „Ein König, der den Kenner der Horoskope und Astronomie, der bewandert ist in allen Gliedern und Unterteilungen, nicht ehrt, wird zugrunde gehen. Wie die Nacht ohne Licht und wie der Himmel ohne Sonne, so ist ein König ohne Astrologen. Er ist wie ein Blinder, der auf der Straße geht… Daher soll ein König, der nach Sieg, Ruhm, Glück, Genuß und Gesundheit strebt, einen weisen und herausragenden Astrologen befragen.“

Das biblische Portrait des weisen Herrschers ist ein völlig anderes. Im Königsgesetz ab Dt 17,14 wird vor den Versuchungen der Macht und des Reichtums gewarnt, wird Gehorsam des Königs und Gleichheit aller vor dem Gesetz betont. Der Herrscher soll sein Leben lang das Gesetz Gottes studieren (V. 19), damit er dann in Gehorsam vernünftige Entscheidungen treffen kann – z.B. nicht zu hohe Steuern erheben (s. Spr 29,4 und 1 Kön 12). Recht und Gerechtigkeit (s. z.B. 2 Sam 8,15; Spr 14,34) sind die Orientierungspunkte, nicht willkürliche Einblicke der Hofastrologen.

Eine von der Vernunft geleitete Politik, in der Magie, Zauberei, Astrologie, Zeichenleserei und Okkultismus keinerlei Platz haben, hat ihre Wurzeln letztlich in der Bibel, und man kann nur dankbar sein, dass sich zuerst in Europa ein Ideal der Gottesfurcht, Wahrheit, Gerechtigkeit und Vernunft in der Politik durchgesetzt hatte. Denn die wegen der Verstrickung in Magie und Zauberei in weiten Teilen völlig irrationale Staatsführung konnte ihre (vor allem auch ökonomischen) Defizite nur durch eines kompensieren: durch eine gnadenlose Plünderungs- und Eroberungspolitik – dies war so in Assyrien, Babylon, und Rom, und genauso bei den Azteken, Majas und Inkas (die meist aber nur als die Opfer der Spanier idealisiert werden).

Weisheit und Handeln

Traditionell wird der ganze Abschnitt oft „Salomos Gebet um Weisheit“ überschrieben. Und in V. 12 fällt der Begriff dann ein erstes Mal. Gott sagt dort dem König: „ich gebe dir ein weises und verständiges Herz“. Nach dem parallelen Bericht in 2 Chr 1 bittet Salomo selbst schon um diese Weisheit: „So gib mir nun Weisheit und Erkenntnis…“ (V. 10).

Das Fundament dieser Weisheit ist das Hören, der Gehorsam oder in den Worten von Ps 111,10: „Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang“ (s. auch Spr 1,7). Darauf aufbauend meint Weisheit auch Verständnis, Einsicht, Kenntnisse. Auf einer dritten Stufe bedeutet Weisheit: wissen, was in einer bestimmten Situation zu tun ist. Darum geht es ja auch dem jungen König. Er will nicht im Elfenbeinturm philosophieren. Salomo hat seine konkrete Arbeit im Blick und will richtige, eben weise Entscheidungen treffen.

Hören und Verstehen sind Grundlagen, aber dabei darf es nicht bleiben: „Seid Täter des Worts und nicht Hörer allein“ (Jak 1,22; s. auch Mt 7,24). Im selben Brief: „Wer ist weise und klug unter euch? Der zeige mit seinem guten Wandel seine Werke in Sanftmut und Weisheit“ (Jak 3,13). Echte Weisheit zeigt sich erst im Handeln wie auch Dt 4,5–6 gut deutlich macht: „Hiermit lehre ich euch, wie es mir der Herr, mein Gott, aufgetragen hat, Gesetze und Rechtsvorschriften. Ihr sollt sie innerhalb des Landes halten, in das ihr hineinzieht, um es in Besitz zu nehmen. Ihr sollt auf sie achten und sollt sie halten. Denn darin besteht eure Weisheit und eure Bildung in den Augen der Völker. Wenn sie dieses Gesetzeswerk kennen lernen, müssen sie sagen: In der Tat, diese große Nation ist ein weises und gebildetes Volk.“

Alle drei Dinge sind also nötig. Die Haltung des Gehorsam/Hören kommt logisch zuerst. Denn wenn hier grobe Fehler gemacht werden, wird unser Denken falsch sein und wir kommen leicht zu dummen Entscheidungen. Aber dabei darf es nicht bleiben. Hinzukommen müssen Einsicht und Nachdenken: Was bedeuten die Gebote heute? Wie sind sie anzuwenden? Schließlich muss dann nach bestem Wissen und Gewissen konkret gehandelt werden. Gottes Willen kennen ist eine Sache, ihn tun eine andere.

Das große Los

Kommen wir abschließend noch einmal zu Gottes ungewöhnlicher Einladung in V. 5: „Bitte, was ich dir geben soll!“ – Ein Einkaufsgutschein, in den wir selbst immer wieder die Summe eintragen können! Ein göttlicher Blankocheck! Eine Chance wie im Märchen! Doch Salomo zeigt seine Weisheit darin, dass er um Weisheit bittet. Er setzt die richtigen Prioritäten und wählt das Erstrangige. Leben und Gesundheit, Reichtum und Wohlstand, Ehre und Ansehen sind für ihn untergeordnet zu Hören, Gehorsam, Weisheit und Einsicht.

Um unsere Ambitionen und Prioritäten geht es dann ja auch in Jesu Bergpredigt, Mt 6,19f. In V. 30–33 heißt es dort: „Wenn aber Gott schon das Gras so prächtig kleidet, das heute auf dem Feld steht und morgen ins Feuer geworfen wird, wie viel mehr dann euch, ihr Kleingläubigen! Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? Denn um all das geht es den Heiden. Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.“

Hier wird das Trachten nach dem Reich Gottes eindeutig an erster Stelle gesetzt. Das direkte Sehnen und Greifen nach den materiellen Gütern wird als heidnisch verworfen – und es ist unnötig. Denn der Abschnitt macht ja ebenfalls deutlich, dass die zweitrangigen Dinge – hier die materielle Versorgung mit Essen, Trinken und Kleidung – nicht unwichtig und nicht zu verwerfen sind. Gott gibt auch diese! Und weil Gesundheit, Wohlstand, Ansehen an sich nicht von übel sind, gibt Gott sie auch dem Salomo.

Dietrich Bonhoeffer hat diese Zusammenhänge in einem Abschnitt seiner Ethik hervorragend analysiert. Die erstrangigen Dinge – die Rechtfertigung aus Glauben, das Reich Gottes, das ewige Leben etc. – nennt der deutsche Theologe „das Letzte“, und „das Vorletzte“ unser Leben als Menschen in den irdischen Ordnungen. Diese werden einmal nicht mehr sein, weshalb sie eben nur das Vor-letzte sind.

Ein falscher „Radikalismus“ verwirft das Vorletzte ganz (wie z.B. manche der Täufer im 16. Jhdt. den Staat als solchen verachteten). Eine „andere falsche Lösung ist der Kompromiß“. Dieser schiebt das Letzte ins Jenseits ab; allein die Dinge dieser Welt geben den Ton an; christliche Normen kommen nicht mehr in die Quere. Bonhoeffer weiter:

„Beide Lösungen sind in gleicher Weise extrem und enthalten in gleicher Weise wahres und falsches… Beides sind unerlaubte Verabsolutierungen an sich gleich richtiger und notwendiger Gedanken. Die radikale Lösung denkt vom Ende aller Dinge, von Gott dem Richter und Erlöser, her, die Kompromißlösung denkt vom Schöpfer und Erhalter her; die einen setzen das Ende absolut, die anderen das Bestehende. So gerät Schöpfung und Erlösung, Zeit und Ewigkeit in einen unauflösbaren Widerstreit, und so wird die Einheit Gottes selbst aufgelöst, der Glaube an Gott zerbricht.“

Bonhoeffer betont, dass „Letztes und Vorletztes eng miteinander verbunden sind“. Wer das Letzte wählt, dem wird auch das Vorletzte geschenkt. Wer auf die Ewigkeit ausgerichtet ist, der wird in dieser Welt verändernd und segnend wirken. Wer wie Salomo im Glauben und Gehorsam nach der Weisheit von Oben trachtet, der wird sich auch in die Tiefe unserer Probleme wagen, um dort zwischen gut und böse zu unterscheiden (s. 1 Kön 3,16f!). Salomo strebte nach einer gerechten irdischen Herrschaft im Licht des ewigen Gottes. Genauso ist auch das christliche Leben, so Bonhoeffer, „immer auch Leben im Vorletzten, das auf das Letzte wartet“.

(Bild o.: Das Urteil des Salomo, William Dyce [1806–1864])