Das vergessene Kreuz

Das vergessene Kreuz

Vor zwölf Jahren erschien die Volxbibel, eine Übertragung des Bibeltextes in die Jugendsprache. Den Autor Martin Dreyer, Mitgründer der „Jesus Freaks“, machte der umstrittene Bestseller bundesweit bekannt. Nun erschien aus seiner Feder Der vergessene Jesus – ein Buch, in dem viel Wut steckt über eine Kirche, die stirbt, es aber nicht so richtig merkt; die den Glauben als unattraktiv, langweilig und weltfremd darstellt. Dreyer will hier gegensteuern, etwas aufbrechen und Seiten von Jesus zeigen, die in der Kirche wenig präsent sind: „Jesus ist heute immer noch so aktuell, wie er es vor Tausenden von Jahren war. Wir müssen ihn bloß neu zu uns sprechen lassen. Direkt, ohne das religiöse Drumherum. Vorher müssen wir nur sein vergilbtes Bild aus dem Rahmen nehmen und gegen ein aktuelleres eintauschen.“

Dreyer hält an allem Übernatürlichen im Leben Jesu fest, will aber dessen menschliche Seite betonen, konkret den Jesus, der das Leben, die Freude, ja den Rausch und den Spaß bejahte. „Jesus liebt es, zu feiern, er liebt die Musik und den Tanz.“ Kapitel 2 ist „Jesus liebt Partys“ überschrieben. Dreyer bedauert die „Spaßfeindlichkeit“ der Kirchen, wo doch das erste Wunder Jesu bei der Hochzeit zu Kana ausgerechnet die Schaffung von Wein war (Joh 2), so dass „Jesus eine Party gerettet hat“.

Mit Jesus zu leben macht Spaß. Daher versteht er nicht, „warum uns die Feierlaune im Christentum verloren gegangen ist“. Dreyer hört „zu viel Moll-Akkorde im Christentum“, sieht einen „Hauch von Depression“ über den Kirchen. „Wir hadern mit unseren Fehlern und Sünden. Und wir leiden. Leiden mit dem leidenden Christus. Und mancher Christ kommt aus dem Leiden gar nicht mehr heraus.“

Der vergessene Jesus von Martin DreyerWarum kam der Sohn Gottes auf die Erde? Was war seine Mission? Wozu die ganze ‘Veranstaltung’? Vielsagend sind die Erläuterungen der einzelnen Aussagen des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, mit denen Dreyer am Ende des Buches sein persönliches Credo skizziert. Seine Ausführungen zu „gekreuzigt, gestorben und begraben“ sind die kürzesten. Dreyer schildert, was damals dort passiert ist – zur Bedeutung von Jesu Tod und Kreuz dort kein einziges Wort. Unter „Vergebung der Sünden“ ist von einem „Graben zwischen uns und Gott“ die Rede, „darum musste Jesus kommen“. Und irgendwie, „auf für uns heute nicht vorstellbare Weise hat Gott dieses Problem mit der Kreuzigung gelöst, unerklärlich, geheimnisvoll“. Auf 250 Seiten ein verschwommener Satz zur Mitte des Christentums. (Um genau zu sein: Der „Kreuzestod Jesu“ kommt noch einmal auf S. 214 vor; im ersten Kapitel gehört „der Gekreuzigte“ zu den Bildern, die eher verfälschend sind.)

Christus sein Herz geben, ihn in sich tragen und eine lebendige Beziehung zum ihm haben, Rettung und Frieden mit Gott – all das kommt vor. Der „Jesus-Fan“ Dreyer bleibt verbal ganz im frommen Fahrwasser, aber er beantwortet nicht die oben gestellten Fragen. Jesus kam nicht, damit wir lernen, wie man richtig Party macht. Er kam in allererster Linie, „dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45); er kam, um zu leiden, und zwar für uns: der Gute Hirte kam, um für seine Schafe zu sterben (Joh 10,11).

Das ausgetauschte Bild von Jesus kommt bei Dreyer (fast) ganz ohne die Botschaft vom Kreuz aus. Soll das der neuartige, attraktive Jesus sein, der „Mega-Hoffnung“ gibt? Das nicht mehr „einseitige und falsche“ Bild von Jesus? Fällt er hier nicht auf der anderen Seite vom Pferd?

Natürlich ist seine Kritik an einem nur miesepetrigen Christentum in Teilen berechtigt. Das Kommen Gottes in diese Welt und in einen menschlichen Körper zeigt ja, dass die geschaffenen Dinge an sich gut sind. Kunst und Kultur, Lebensfreude und irdische Genüssen stehen keineswegs im Widerspruch zum Glauben. Heiligung bedeutet im Grunde Lebensbejahung. Denn kann es etwas Positiveres geben, als Jesus – der Quelle des Lebens – immer ähnlicher zu werden?

Die Reformatoren erkannten dies durchaus. Luther schätzte bekanntlich Essen und Trinken, Musik und Sexualität, Familie und Geselligkeit. Aber auch Calvin war ganz und gar kein Asket! (Seine Darstellung als lebensfeindlicher Tugendterrorist ist weitgehend Propaganda.) Nahrungsmittel, so der Genfer Reformator, sind „auch für unser Ergötzen und unsere Freude“ gemacht, Kleider für „anmutiges Aussehen“. Er erwähnt den Wein, der „des Menschen Herz erfreut“, die Schönheit und den „süßen Duft“ der Blumen, die Farben, „die eine anmutiger ist als die andere“ (Inst. III,10,2). – Das angeblich vergilbte Bild muss gar nicht ausgetauscht werden, wir kennen es nur kaum.

Diese Väter im Glauben hielten aber genauso daran fest, dass wir wie Paulus „den gekreuzigten Christus“ (1 Kor 1,23) predigen – dieser muss „vor die Augen gemalt“ werden (Gal 3,1). Denn das Christentum ist „Wort vom Kreuz“ (1 Kor 1,18). Der Apostel will nur den Gekreuzigten kennen (1 Kor 2,2), sich nur „des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus“ rühmen (Gal 6,14).

Zum Leben durch Sterben – das gilt auch für das christliche Leben. Glaubenswachstum geschieht „in allen Verfolgungen und Nöten“ (2 Thes 1,4). Gerade Calvin erinnert uns daran, dass Prüfungen und Leid zum Leben als Christ gehören. Denn er selbst musste um seines Glaubens willen aus der Heimat fliehen. Kapitel III,7 in der Institutio überschrieb er „Die Hauptsumme des christlichen Lebens; hier ist von der Selbstverleugnung zu reden“, vom Absterben des alten Menschen. Auch das gehört zur Heiligung.

Diese Traditionslinie reicht von Luther („allein das Kreuz ist unsere Theologie“) bis zu Dietrich Bonhoeffer: „Wer in die Nachfolge eintritt, gibt sich in den Tod Jesu, er setzt sein Leben ins Sterben.“ (Nachfolge) Und John Stott (1921–2011) beendete sein allerletztes Buch The Radical Disciple nicht zufällig mit einem Kapitel über dieses Prinzip in Kirche, Mission, Heiligung: „Death“, Tod. „Leiden mit dem leidenden Christus“ – daraus kommen wir tatsächlich nicht heraus. Denn es gilt: „Wenn wir mit ihm sterben, werden wir auch mit ihm leben“ (2 Tim 2,11).

Dreyers Buch liest sich streckenweise erfrischend. Seine Kritik am harmlosen und weichgespülten Gott ist wohl angebracht, und vielen muss man tatsächlich sagen, dass Jesus „nicht der erste Friedensaktivist“ und gewiss nicht tolerant im heutigen Sinne war. Aber der überraschende, provozierende Jesus, der gegen den Strich bürstet und alle unsere Vorstellungen auf den Kopf stellt – ist das nicht gerade derjenige, der in seinem ganzen Leben auf den Tod am Kreuz zusteuerte, dessen ganzes Leben sich „bereits im Schatten des Kreuzes“ vollzog, so Karl Barth (Dogmatik im Grundriß)? Ist der Party-Jesus heute wirklich verstörend? Ist es nicht der Jesus, der am Kreuz geopfert wurde, sich geopfert hat? „Sühneopfer“, alles Blutige und was immer nach Vergeltung riecht ist doch heute auf dem Flohmarkt der Religion gelandet.

Doch womöglich würde Dreyer entgegnen, dass er gar nicht den ganzen Jesus zeigen wollte; dass es ihm nur um Ergänzung ging. Tatsächlich nennt er das alte Bild mal „unvollständig“, aber an anderer Stelle heißt es, dies müsse „zerstört werden“. Wie nun? Ist sein neues Bild nicht genauso einseitig wie das vergilbte? Was haben wir davon, den „irdischen Jesus kennenzulernen“, wenn der „heilige“ zur Seite geschoben wird? Das „Opferlamm…, das für meine Schuld starb“ ist in der Einleitung Teil des alten Gottesbildes; wir bräuchten ein Bild Jesu, das „weiter und größer“ ist. Ist dann auch das Opferlamm zu eng oder gar „religiös verfälscht“ oder „falsch“?

Dreyer fragt sich, ob „diese andere Seite [Jesu] vielleicht sogar die entscheidene“ ist. Nein, ist sie nicht. Das heilige Opferlamm ist entscheidend. Genau deshalb dominiert geradezu das Bild des Lammes im Neuen Testament, nicht das des Partylöwen, Potenzbolzen und Posers.

Dreyers Christologie bleibt zwar im orthodoxen Rahmen, aber sie ist gleichsam entkernt. Sein Jesus kann vielleicht „verstören, herausfordern“, doch von Herzen „verändern“ wohl eher nicht. Der Gekreuzigte ist Gottes Kraft (1 Kor 1,24). So wundert es auch nicht, dass er den Leser auffordert, wir sollten „unser Herz in Schuss halten“ und es „wieder weich machen“. Jeder Mensch, „ob gläubig oder nicht“, könne „für die Beschaffenheit seines Herzens eine Menge tun.“ Die schon langsam in Vergessenheit geratende Gute Nachricht ist aber doch, dass wir unser verfinstertes, verstocktes und verhärtetes Herz, unsere unverständige, böse und abtrünnige innere Kommandozentrale selbst nicht reparieren können. Gott ist es, der ein reines Herz schafft (Ps 51,12), der ein neues Herz gibt und das alte wegnimmt (Hes 36,26).

„Vielleicht ist der Zeitpunkt ja auch für Dich gekommen, einmal bei Jesus anzuklopfen“, so Dreyer am Schluss. Er ermutigt dazu, denn dieser „wird seine Tür bestimmt öffnen“. Sicher wird er das tun, der neu entdeckte Jesus à la Dreyer neigt vielleicht mal zur Aggression, ist aber ein netter Kerl, der trotz durchzechter Nacht sich bestimmt dennoch vom Sofa aufmacht und auf jedes Klopfen reagiert. Der alte Jesus des „religiösen Drumherum“, der Jesus von Luther und Calvin, war von anderem Kaliber. Der kommt gleich mit der Tür in unser Haus, da liegen wir noch auf dem Sofa, räumt den Saustall aus und richtet sich häuslich ein. Das ist der Jesus „mit Ecken und Kanten“, den die Bibel uns zeigt, „man muss nur genau lesen“.