Johannes der Grausame?

Johannes der Grausame?

„Diktator von Genf“

Johannes Calvin (1509–1564) glaubte fest an die Wahrheit. „Keine Religion ist die rechte, die nicht mit der Wahrheit im Bunde steht“ (Inst. I,4,3); die Schrift besitzt „Gewalt der Wahrheit“ (I,8,1); er schätzte das „Licht der Wahrheit“, wo immer es uns entgegentritt (II,2,15); alle Wahrheit hat ihren Grund in Gott (I,2,1), der „die ewige und untrügliche Wahrheit“ ist (II,8,23). Und wieso kam es zu Trennung der Konfessionen? Calvin nennt dafür „eine einzige Ursache“: die damalige katholische Kirche konnte „das reine Bekenntnis der Wahrheit“ in ihren Reihen „in keiner Weise ertragen“, und deshalb wurden die Evangelischen „hinausgeworfen“ (IV,2,7).

Calvin war außerdem ein bedeutender Lehrer der Wahrheit, einer der wichtigsten überhaupt. Er besaß herausragende intellektuelle Fähigkeiten, argumentiere immer logisch klar, war einer der großen Humanisten seiner Zeit, der die gesamte klassische Literatur hervorragend kannte. Seine Schriften sind bis heute gut lesbar, weil er eben nicht ein reiner Mann der Wissenschaften war, sondern zuerst ein Pastor mit konkreter Verantwortung für Menschen.

Nun wird Calvin aber gerade heute vorgeworfen, dass er es mit der Wahrheit übertrieben habe: ein Fanatiker der Wahrheit sei er gewesen, von einer Diktatur der Wahrheit ist die Rede; seine ewige Rechthaberei wird harsch kritisiert. Und sogleich kommt in diesem Zusammenhang der Prozess gegen Michael Servetus (Miguel Serveto) auf den Tisch. Der Spanier hatte schon 1531 in De Trinitatis eroribus die Trinität geleugnet und wurde ausgerechnet bei seiner Reise durch Calvins Genf verhaftet und im Oktober 1553 wegen Ketzerei hingerichtet. Da sieht man, so das gängige Argument, wohin diese verbissene Wahrheitsliebe führen kann.

Für den lutherischen Kirchengeschichtler R.H. Bainton (1894–1984) war Calvin daher auch nur ein Ketzerjäger und der „Diktator von Genf“; im Servetus-Prozess sah er den „Höhepunkt von protestantischer Intoleranz“. Calvin sei ein Feind der Toleranz, so der liberale Lord Acton vor gut einhundert Jahren in seiner History of Freedom; dem Calvinismus sei die Verfolgung sogar inhärent (was aus der Feder eines Katholiken etwas seltsam klingt).

Der bekannte österreichische Schriftsteller Stefan Zweig zementierte dann dieses Bild des Tyrannen, der Servetus „opferte“, in seinem Castellio gegen Calvin (1936). Dort zeichnete er klare Parallelen zu Adolf Hitler („Machtergreifung Calvins“). Im 20. Jhdt. bezichtigte außerdem Oskar Pfister in Das Christentum und die Angst (1944) Calvin der „Diabolisierung Gottes“. Erich Fromm rechnete in Die Furcht vor der Freiheit (1945) Calvin und Luther zu den größten Hassern der Geschichte. Ernst Pfisterers ausgewogene Studie Calvins Wirken in Genf (1957) konnte da wenig ausrichten.

„Vernichtung von zahlreichen Menschen“

Calvin der „Mörder“, ja sogar der Massenmörder? An diesen Stimmen mangelt es nun auch in Litauen nicht. Philosophieprofessor Andrius Bielskis (Jg. 1973) aus Vilnius schrieb vor ein paar Jahren: „Genf zu Zeiten Calvins war ein zutiefst repressive und totalitäre Gesellschaft, auch wenn religiöse und politische Herrschaft formell getrennt waren. Calvin trug nicht nur direkt dazu bei, er inspirierte auch die Vernichtung von zahlreichen Menschen, vor allem der Wiedertäufer […].“ (Nešventas sakramentas) Dann kommt der Postevangelikale natürlich auch auf Servetus zu sprechen, der auf Beschluss des Stadtrats hingerichtet wurde; in diesem Rat hätte damals Calvin die erste Geige gespielt.

Nun, im Spätsommer des Jahres, erschien in litauischer Sprache der Roman Q, der die Leser in die Auseinandersetzungen der Reformationszeit führt. Im Mittelpunkt stehen Thomas Müntzer und andere Vertreter des radikalen Flügels der Reformation. Auch das Täuferreich im Münster der Jahre 1533/35 wird im Buch behandelt. Hinter dem Pseudonym „Luther Blissett“ stehen mehrere Italiener als Verfasser des Werkes, die offensichtlich viel Sympathie für Müntzer und andere damalige Revolutionäre haben.

Das Vorwort zur litauischen Ausgabe verfasste niemand anderes als Dainora Pociūtė-Abukevičienė, eine der wenigen Reformationsexperten Litauens, Philologin, Historikerin, Leiterin eines Lehrstuhls und Vorsitzende des Senats der Vilniuser Universität sowie Autorin von Maištininkų katedros über italienische Reformer im 16. Jhdt. und ihren Einfluss auf Litauen.

Pociūtė schreibt nun im Vorwort, das vielfach in Internetportalen wiedergegeben wurde (wie auch schon an einigen Stellen in Maištininkų katedros), dass Servetus „auf Calvins Beschluss hin“ hingerichtet worden sei; Teil dieses Beschlusses war die Verbrennung durch langsam brennendes grünes Holz, damit das qualvolle Sterben noch in die Länge gezogen wird. Dem Leser wird so vermittelt, dass der Reformator einen Hang zur Grausamkeit hatte, ja ein Sadist war. Aber war dies wirklich so?

Geduldeter Fremder ohne Bürgerrecht

Man kann es drehen und wenden wie man will  – Calvin war an dem Prozess beteiligt, hat Servetus Tod auch gutgeheißen. Von Mord und Sadismus kann jedoch keine Rede sein. Aber alles der Reihe nach.

Calvin und Servetus hatten beide in Paris studiert und waren fast gleichen Alters. Ab 1530 hielt sich der Spanier in evangelischen Städten wie Basel und Straßburg auf, musste aber die Orte verlassen, weil er mit seinen häretischen Ansichten überall Anstoß erregte. 1540 trat er als Leibarzt in den Dienst des Bischofs von Vienne (südlich von Lyon), wo Servetus unter falschem Namen lebte. Ab 1545 trat er wieder in Briefkontakt mit Calvin. Dieser warnte ihn nach Genf zu kommen. Wenn Calvin wirklich so blutrünstig war, warum lieferte er ihn damals nicht schon der Inquisition in Frankreich aus? Oder stellte ihm in Genf eine Falle? Calvin wusste schließlich, dass Michel de Villeneuve niemand anderes als Servetus war.

Die Männer schickten sich gegenseitig ihre Schriften zu. Calvin sandte seine Institutio nach Frankreich, Servetus versah diese mit bissigen und bösen Randbemerkungen und schickte sie zurück. Calvin erhielt vom Spanier dessen Christianismi restitutio (Wiederherstellung des Christentums), das dann 1553 anonym herauskam; darin werden die Irrlehren erneut wiederholt. Der Titel des Buchs macht deutlich, dass Servetus damit eine Anti-Institutio vorlegen wollte. Festzuhalten ist, dass Calvin mit Servetus redete und ihn versuchte von seiner Position zu überzeugen – damals alles andere als selbstverständlich.

Der Stein kam ins Rollen, als sich ein Bekannter Calvins in Genf, Guillaume de Trie, in einem Brief an einen verwandten Franzosen gleichsam verplapperte. Schnell fiel der Verdacht auf den Spanier; Villeneuve/Servetus wurde angezeigt, und nun kam tatsächlich Calvin ins Spiel. Er sollte bestätigen, dass Villeneuve der Autor von Christianismi restitutio  war. Guillaume de Trie musste Calvin dazu drängen, und dieser tat wie von ihm verlangt. Insofern haben litauische Lexika wie die VLE und auch schon die sowjetische TLE in Artikeln zu Servetus recht, wenn es dort heißt, dass Servetus „von Calvin angezeigt“ worden war. Calvin wehrte sich aber bis zum Ende seines Lebens gegen den Vorwurf, er hätte Servetus „wie einen Mann den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen“.

Servetus konnte jedoch nach ein paar Tagen aus dem Gefängnis fliehen. Warum ging er nun ausgerechnet nach Genf? Wolfgang Musculus aus Bern vermutete, das Servetus die Spannungen zwischen Calvin und der Opposition gegen diesen im Rat der Stadt ausnutzen wollte. Wahrscheinlich hatte der Spanier tatsächlich gehofft, den Rat auf seine Seite zu können, um dann Calvin der Häresie anzuklagen. Hinzu kam sicher auch das apokalyptische Denken Servetus, der das nahe Weltende kommen sah und daher womöglich bewusst auf eine Konfrontation mit seinem (in Servetus Augen) großen intellektuellen Kontrahenten hinsteuerte.

Im August 1553 wurde Servetus in Genf erkannt und verhaftet. In den folgenden Monaten des Prozesses nahm Calvin als theologischer Experte teil, aber er spielte gewiss nicht die erste Geige. Das Todesurteil fällte der Rat der Stadt, der damals mehrheitlich eben nicht auf Calvins Seite stand. Der Hauptankläger Claude Rigot stammte aus der Partei der scharfen Gegner Calvins und sorgte allein schon deswegen für größte Unabhängigkeit von dem Franzosen.

Zu beachten ist vor allem, dass Calvin damals noch nicht einmal Bürger der Stadt war und mit dem Rat der Stadt sich in einem über Jahre hinziehenden Konflikt befand (erst 1555 wendete sich hier das Blatt zu seinen Gunsten). Calvin war nur Mitglied im Konsistorium, der kirchlichen Behörde. Er hatte dort nie den Vorsitz; und als höchste Sanktion konnte das Konsistorium lediglich den Ausschluss vom Abendmahl verhängen. Bis einige Jahre vor seinem Tod war Calvin ein geduldeter Fremder ohne Bürgerrecht – wie sollte so jemand eine totalitäre Herrschaft ausüben? Und von einer Dominanz des Stadtrats durch Calvin von außen her über viele Jahre hinweg kann keine Rede sein, im Gegenteil.

Der bekannte anglikanische Theologe Alister McGrath: „Wenn es einen Bereich des zivilen Lebens gab, den der Rat der Stadt [Genf] entschlossen unter seiner vollkommenen Kontrolle halten wollte, dann war dies die Justizverwaltung […]. Um 1530 hatte die Stadtverwaltung völlige Kontrolle über das Justizwesen erlangt. Das Recht, in allen wichtigen Fragen selbständig Urteile zu fällen, wurde als öffentliche Demonstration der Unabhängigkeit der Stadt [vom Bischof in Savoyen] betrachtet. Irgendeiner fremden Macht oder auch einem Fremden direkten Einfluss auf die Genfer Justiz zu geben, hätte die hart erkämpfte Souveränität der Stadt untergraben. Die Herren der Stadt waren in keiner Weise bereit, einem Fremden [wie Calvin] Einfluß über einen zentralen Bereich der zivilen Administration Genfs zu geben.“ (Life of John Calvin) Der Brite fasst allgemein zusammen: „Das Bild von Calvin als dem ‘Diktator Genfs’ hat mit dem historisch bekannten Fakten nichts gemein.“

Auch Calvin-Biograph W.J. Bouwsma (1923–2004) hebt hervor, dass Servetus verhaftet wurde, „als die Spannungen in Genf [zwischen Calvin und dem Rat] auf ihren Höhepunkt waren; alle Seiten mussten ihren Eifer für den rechten Glauben unter Beweis stellen. Aber es war der Rat der Stadt, der auf der Verbrennung Servetus bestand.“ (John Calvin: A Sixteenth Century Portrait) Yale-Professor Bruce Gordon: „Obwohl Servetus [theologischer] Konflikt sicherlich mit Calvin bestand, war die Rolle des Franzosen in dem Prozess begrenzt.“ Servetus Schicksal sei keine „Bestätigung von [Calvins] tyrannischem, intolerantem Charakter.“ Gordon, der den Schwächen und Fehlern Calvins in seiner Biografie genug Raum widmet, betont, dass Calvin die Irrlehre des Spaniers durchaus wie damals üblich als Kapitalverbrechen ansah, doch er wollte, dass „Servetus widerruft und nicht stirbt” (Calvin).

Der britische Kirchengeschichtler Basil Hall (1915–1994) fragte in „The Calvin Legend“: „Wenn Calvin diktatorische Kontrolle über die Angelegenheiten in Genf hatte, warum zeigen dann die Aufzeichnungen der Stadt,  dass er offensichtlich der Diener des Rates war, der bei vielen Gelegenheiten die Wünsche Calvins bezüglich des kirchlichen Lebens vom Tisch wischte und immer der Herr in Genf blieb?“

Calvin identifizierte Servetus als Häretiker. Aber dem Rat der Stadt genügte dies im Prozess keineswegs. Man holte Expertisen aus anderen reformierten Städten ein. So gut wie alle stimmten einer Hinrichtung Servetus zu, auch Bullinger in Zürich (die Züricher ermahnten die Genfer sogar zu einem strengen Vorgehen!). Bernard Cottret weist außerdem gleich auf den ersten Seiten von Kap. 10 seiner Calvin-Biografie über den Kampf gegen die Häretiker darauf hin, dass selbst Thomas Morus, in den Augen Roms ein Heiliger, die Verbrennung von Häretikern guthieß.

Wir stimmen heute diesem Vorgehen natürlich nicht mehr zu. Und auch damals gab es bald vereinzelte Gegenstimmen. Calvin verteidigte seine Position im Nachhinein jedoch und nannte Servetus auch in der letzten Ausgabe der Institutio von 1559 ein „gefährliches Ungeheuer“ (II,14,5). Andere wie Sebastiano Castellio widersprachen der Hinrichtung von Häretikern und beriefen sich dabei auch auf die Werke der Reformatoren selbst. Diese Debatte, die nicht zuletzt durch den Servetus-Prozess unter den Reformierten in Gang kam, war gut und notwendig; sie hätte in der Schweiz offener geführt werden sollen (auf Castellios De haereticis, an sint persequendi, 1154, reagierte T. Beza mit De haereticis a civili magistratu puniendis, es folgte Castellios Gegenschrift Contra libellum Calvini, die aber erst 1612 in den Niederlanden veröffentlicht werden konnte). Aber warum wird ausgerechnet Calvin unter allen Führern der Reformation besonders herausgegriffen und geschmäht? Warum wird ausgerechnet er an den heutigen Maßstäben von Toleranz gemessen?

Die Verurteilung erfolgte aufgrund von Reichsrecht, das die Todesstrafe eindeutig forderte. Servetus wäre ‘überall’ in Europa auch hingerichtet worden und war ja schon zuvor durch die katholische Inquisition verurteilt worden. Andere reformierte Städte forderten, wie gesagt, ebenfalls die Hinrichtung. Selbst der keines Fanatismus verdächtige Melanchton begrüßte (wie viele andere) die Hinrichtung ausdrücklich. Und Calvin-Biograph T.H.L. Parker weist auf folgendes hin: Die katholische Seite hatte nur darauf gewartet, dass die Reformierten ihrer Ketzerei auch noch dadurch beweisen, dass sie einen offensichtlichen Häretiker beherbergen und tolerieren. Diesen politischen Fehler wollte die Stadt Genf keinesfalls begehen.

Die damalige politische Lage wird in der Bewertung der Ereignisse leider viel zu wenig berücksichtigt. Calvin und der Stadtführung wird häufig vorgeworfen, dass man geradezu mit Vorliebe Hinrichtungen durchgeführt habe. Und tatsächlich gab es in den 40er und 50er Jahren einige Dutzend davon – nicht wenig für solch ein kleines Territorium. Hier gibt es Legendarisches (A. Huxley über die Hinrichtung eines aufrührerischen Kindes), die Hexenprozesse dagegen sind gut belegt. Zu beachten ist hier, dass die Situation in der Stadt damals äußerst angespannt war, hatte die Bevölkerung durch zahlreiche Flüchtlinge, vor allem aus Frankreich, innerhalb einer Generation um etwa 150% zugenommen. Heute gibt es in Deutschland Spannungen, wenn in einem Jahr gerade einmal etwas mehr als 1% die Grenzen überschreiten. Damals explodierte die Bevölkerung Genfs, und die Stadt befand sich immer noch weitgehend in feindlicher Umgebung. In jeder Hinsicht war die Lage und Stimmung in der Stadt unruhig – und dennoch stimmten die Flüchtlinge mit den Füßen ab und kamen in diese angeblich totalitäre Diktatur…

Wer einmal quält, dem glaubt man nicht

Die Genfer hätten Servetus damals besser nicht hingerichtet. Aus heutiger Perspektive haben sie einen Fehler begangen. In der Biographie Calvins bleibt diese dunkle Stelle, aber McGrath rückt alles in den richtigen Kontext: „Servetus war die einzige Person, die für ihre religiösen Überzeugungen in Genf während des Aufenthaltes Calvins zu Tode gebracht wurde – und das in einer Zeit, als Hinrichtungen dieser Art anderswo an der Tagesordnung waren.“

Calvin darf nicht einseitig angeklagt werden, und die frühen Toleranzbefürworter dürfen nicht zu Engeln gemacht werden. Völlige Glaubens- und Meinungsfreiheit vertrat damals so gut wie niemand! Alle zogen irgendwelche Linien. Die Toleranz hatte noch lange enge Grenzen. Selbst Castellios Duldung war deutlich begrenzt. Irrlehrer sollten toleriert werden, aber auch er wollte Gotteslästerer durch staatliche Organe bestraft sehen. Für Atheismus hatte zu der Zeit niemand Verständnis; alle verlangten seine Unterdrückung.

Der Weg zur Toleranz verlief eben holprig. Die Durchsetzung dauerte mitunter Jahrhunderte; alles ging schrittweise. Die englische „Toleranzakte“ von 1689 war ein deutlicher Schritt nach vorne, aber geduldet wurden nur die protestantischen Nonkonformisten neben der Kirche von England; Katholiken galt die Tolerierung noch nicht – und den Atheisten schon gar nicht.

Wo gab es damals die größten Fortschritte? In der Utrechter Union von 1579 erlangten die niederländischen Provinzen weitgehende Religionsfreiheit; wohl erstmals in der europäischen Geschichte wurde persönliche Gewissensfreiheit in einem offiziellen, rechtlich bindenden Dokument, verankert – nur fünfzehn Jahre nach Calvins Tod und ausgerechnet in den reformierten, calvinistischen Niederlanden. Wenn denn Calvin der große Gegenpol zur Toleranz sein soll, warum wurde die Toleranz dann ausgerechnet bei den Calvinisten geboren? In den calvinistischen Niederlanden veröffentliche John Locke dann seinen Letter Concerning Toleration (1689), und diese Linie führt weiter nach Amerika. Der angesehene deutsche Historiker Heinrich August Winkler: „Ohne Luther kein Calvin und ohne die calvinistischen Nonkonformisten nicht das, was man die westliche Demokratie nennt.“ („Der Spiegel“, 39/2009)

Viele heutige Autoren juckt all dies jedoch nicht. Der Blogger Benjamin L. Corey schreibt hier: „Wenn Calvin so etwas Grundsätzliches nicht verstand wie die Tatsache, dass ein Nachfolger Jesu andere Menschen wohl nicht töten und quälen sollte, dann habe ich keinerlei Vertrauen, dass er auch nur ein wenig die komplexeren theologischen Dinge begriffen hat.“ Wegen des falschen Umgangs mit Servetus ist für ihn der ganze Calvisnismus diskreditiert und unglaubwürdig. Mit solch großem moralischen Gestus auf Calvin eindreschen passt immer. Dummerweise reduziert sich das Argument auf die Aussage: Nur wer in der Vergangenheit die wesentlichen Dinge genau so gesehen hat wie wir heute, auf den sind wir bereit zu hören. Dann sollte aber nicht nur Calvin aus der Liste der historischen Autoritäten gestrichen werden; die Liste der Übeltäter wäre dann sehr, sehr lang. Wie will man auf Augustinus hören, der doch die Formel „compellere intrare“ prägte – zwingt sie [in die Kirche] einzutreten? Und noch einmal: so gut wie alle großen Theologen, von der frühen Kirche bis in die Neuzeit, hatten in vielen Fragen wie eben auch der Religions- und Gewissensfreiheit und der Toleranz eine andere Ansicht als wir heute. Sollen wir sie deshalb pauschal abschreiben?

C.S. Lewis sah dies anders als Corey. Im Aufsatz „On Reading Old Books“ betonte er (übrigens kein Calvinist), dass wir aktuelle Bücher, Texte und Lehren „an der großen Gesamtheit des christlichen Denkens aller Jahrhunderte“ messen müssen. Wir brauchen einen „Grundstock an elementarem, zentralen Christentum, das die Kontroversen des Augenblicks in die rechte Perspektive rückt. Diesen Grundstock gewinnt man nur aus alten Büchern“. Sie korrigieren uns, weisen auf blinde Flecken unserer Zeit hin. Der große Apologet des Glaubens weiter:

„Jedes Zeitalter betrachtet die Welt durch seine eigene Brille. Es hat für bestimmte Wahrheiten einen besonders guten Blick und ist für bestimmte Irrtümer besonders anfällig. Wir alle brauchen daher Bücher, welche die charakteristischen Irrtümer unserer eigenen Zeit korrigieren. Und das heißt alte Bücher […]. Wir dürfen nie aufhören, den klaren, frischen Wind der Jahrhunderte durch unsere Köpfe wehen zu lassen; und das geschieht nur, wenn wir alte Bücher lesen. Nicht, dass in der Vergangenheit alles besser gewesen wäre, gewiss nicht. Die Leute waren damals nicht gescheiter als heute; sie machten genauso viele Fehler wie wir. Aber nicht dieselben Fehler.“

Calvin beging seine Fehler. Es wäre interessant zu sehen, wie in ein paar Jahrhunderten (oder auch schon Jahrzehnten) über unsere heutige Zeit und das Handeln der Christen in ihr geurteilt werden wird.