Die namenlose Missionarin

Die namenlose Missionarin

Das Alte Testament steht heute oft im Feuer der Kritik. Atheisten wie natürlich Richard Dawkins an der Spitze sparen nicht mit scharfen Worten. „Der Gott des Alten Testaments“, so der Biologe aus Oxford in Der Gotteswahn, „ist die unangenehmste Gestalt in der gesamten Literatur…“. Ich erspare mir hier die Fortsetzung dieses provokativen Zitats. Stimmen dieser Art gibt es in unseren Tagen genug, selbst wenn sie nicht immer so rabiat klingen. Auch der deutsche Psychiater Franz Buggle, ein weiterer Atheist, meint in Denn sie wissen nicht, was sie glauben, die Bibel sei ein „zutiefst gewalttätiges, inhumanes Buch“.

Christen lassen sich durch Vorwürfe dieser Art nur zu oft einschüchtern. Man schämt sich für das Blut, das da im Alten Testament nicht wenig fließt. Und man fragt sich selbst: Warum ist die Bibel an vielen Stellen geradezu anstößig brutal? An Gewaltdarstellungen mangelt es ja nicht. Liest man z.B. Richter, so findet sich auf den ersten Blick praktisch nichts Erbauliches, nur seltsame Geschichten, blutige Szenen, Lüge, Intrige und Mord.

In die Defensive geraten verweisen wir schnell auf das friedliche Neue Testament. Damit nehmen wir jedoch der biblischen Botschaft etwas von ihrem Reichtum. Wir sollten ruhig eines zugeben, sogar betonen: Es stimmt, das Alte Testament ist voll dieser blutigen Geschichten. Aber das ist ja gerade seine Stärke! Die Bibel zeigt uns nämlich von Anfang an, wie die Welt wirklich ist. Und nach dem Sündenfall gehören zur dieser Wirklichkeit Krankheit und Tod, Bosheit und Hass, Leid und Grausamkeit.

Das Alte Testament ist ein (in Teilen) zutiefst gewalttätiges Buch, weil unsere Welt nach dem Sündenfall eine zutiefst gefallene Welt ist. Natürlich gibt sie uns auch Hoffnung auf ein besseres Leben und auf Rettung. Das ist ihr Hauptziel. Sie enthält die Lösung für das Problem der Gewalt. Doch wir finden in ihr eben nicht nur lauter nette Sprüche fürs Poesiealbum. Der große Nutzen gerade des Alten Testaments ist, dass wir dort sehen, wie das Leben von gläubigen Menschen in der wahren Welt wirklich aussieht – mit allen Höhen und Tiefen, mit allem Glanz und allem Dreck.

Das beginnt ja schon in 1. Mose 4 bei Kain und Abel. Gleich zu Anfang ein Mord – unter Brüdern, in der Familie. Nüchterner geht es nicht. Der Gläubige wird erschlagen. Der erste Märtyrer gleich auf den ersten Seiten der Bibel. Die Botschaft ist klar: Wer glaubt und Gott richtig anbetet, bezahlt es womöglich sogar mit dem Leben.

Das Alte Testament zeigt uns, in was für einer Welt Gläubige Gott nachfolgen und wie dies gehen kann. Es zeigt uns, wie ein Leben im Glauben wirklich abläuft und wie tief selbst Glaubenshelden fallen können. König David gibt einen Mord in Auftrag, um den Mann einer schönen Frau zu beseitigen – damit er sie bekommt (2 Sam 11). Geht‘s schlimmer?

Die Bibel ist überhaupt kein sentimentales Buch, kein Buch in Rosarot, und sie stammt offensichtlich nicht aus der Feder des Dalai Lama, der über alles seine fade Soße des „lasst uns alle netter zueinander sein“ gießt. Gewalt auf Erden ist eben nicht einfach durch Meditation und Mitgefühl zu beseitigen. Der Prophet Nathan stellt in 2 Sam 12 David hart zur Rede – und er hat für den König nicht Nettigkeiten parat.

Das Alte Testament zeigt uns, wie das Familienleben von Gläubigen wirklich aussieht. Gleich in 1. Mose ist das Bild der persönlichen Verhältnisse in den Sippen von Abraham, Isaak und Jakob ja mitunter erschreckend. Lauter gestörte Beziehungen. Lüge, Betrug, Hass und ein Erziehungsfehler nach dem anderen. Gerade ihre Unvollkommenheit hat uns immer noch viel zu sagen.

Vor der Wiederkunft Christi ist das Leben auf Erden oft genug hart und ungerecht; es ist nie vollkommen, denn die Vollkommenheit kommt erst noch. Und auch das Leben von Christen ist häufig begleitet von Leid, Versuchungen, Enttäuschungen, Rückschlägen, Verzweiflung, Mutlosigkeit. Können wir am Glauben festhalten? Und wie können wir in so einer Welt vom Glauben Zeugnis ablegen? Geht das überhaupt?

Einige wenige Verse aus dem Zweiten Buch der Könige über ein Geschehen Mitte des neunten Jahrhunderts vor Christus:

„Naaman, der Heerführer des syrischen Königs, war an Aussatz erkrankt. Er war ein tapferer Soldat, und der König hielt große Stücke auf ihn, weil der Herr durch ihn den Syrern zum Sieg verholfen hatte. In seinem Haus befand sich ein junges Mädchen, das syrische Krieger bei einem ihrer Streifzüge aus Israel geraubt hatten. Sie war Dienerin seiner Frau geworden. Einmal sagte sie zu ihrer Herrin: ‘Wenn mein Herr doch zu dem Propheten gehen könnte, der in Samaria lebt! Der würde ihn von seiner Krankheit heilen.’“ (2 Kön 5,1–3)

Der Offizier des Königs hatte Aussatz, möglicherweise das ansteckende Lepra, vielleicht aber auch nur eine andere ernste Hautkrankheit – in jedem Fall ein schweres Leiden. Der Tipp der Hausdienerin hat Folgen: Naamans König schreibt einen Brief an seinen Kollegen in Israel. Schließlich reist der Soldat nach Israel zu Elischa (oder Elisa). Auf dessen Geheiß taucht er siebenmal im Jordan unter und wird tatsächlich geheilt.

Man lese jedoch nicht zu schnell über die ersten Verse hinweg, um zum Happyend zu kommen. Das junge Mädchen ist geraubt worden. Vielleicht kommen einem die Schulmädchen aus Nigeria in den Sinn, die vor zwei Jahren von Boko Haram-Terroristen entführt wurden und die fast alle bis heute nicht wieder aufgetaucht sind. Heute erschrecken uns solche Nachrichten, Jahrtausende lang war Menschenraub bei Kriegen gang und gäbe. Das namenlose Mädchen hatte es wohl recht gut getroffen, war also nicht eine Sexsklavin wie die geraubten Frauen in den Fängen des IS. Aber dennoch: Sah so etwa Gottes wunderbarer Plan für ihr Leben aus? In Feindesland, als Sklavin, fern der eigenen Familie, die sie nie wiedersehen wird?

Wo war Gott, als die syrischen Banden über ihr Heimatdorf herfielen? Wo ist Gott, wenn heute Fassbomben vom syrischen Himmel fallen? Wir meinen Gottes Führung zu erkennen, wenn alles glatt läuft und sein Segen offensichtlich ist. Dabei ist „Gott führt“ eine Glaubensaussage: Wir sehen nichts oder kaum etwas von seiner Führung, glauben aber dennoch daran. Wir vertrauen gegen den Augenschein darauf, dass Gott alles zum Guten führen kann, weil er alles lenkt.

Gott hat den unschuldigen Joseph ins Gefängnis nach Ägypten geführt, und zwar durch das böse Handeln seiner Brüder und der Frau des Potiphar. Viele Jahre hat Joseph von Gottes wunderbarer Leitung nicht viel gesehen, im Gegenteil. Und dennoch hat ihn Gott nach Ägypten geführt, in das Verlies, durch das Verlies und aus dem Verlies heraus. Nicht ganz unähnlich hat Gott auch dies Mädchen nach Syrien geführt – durch die räuberischen Banden. Denn Gott lenkt die Geschicke aller Menschen, wie auch unser Text direkt bekräftigt („weil der Herr durch ihn den Syrern zum Sieg [gegen die Assyrer] verholfen hatte“ – Gott hatte auch im Krieg von Heiden gegen Heiden seine Hand im Spiel).

Atheisten finden dafür nur Spott. Gott benutzt und lenkt auch das Böse – das ist für sie lächerlich. Sie machen daraus einen bösen Gott. Ein Gott, der zuläßt, dass seine treuen Kinder verschleppt, versklavt und verkauft werden? Sieht so Gottes Antwort auf das Böse aus? Ja, genau so sieht sie aus. Gott ließ zu, dass sein Sohn unschuldig verurteilt wird, dass er gefangengenommen, gefoltert und getötet wird. Er benutzte und lenkte das Böse in den Taten des Judas, Pilatus und der jüdischen Führer – für seine Zwecke, für das Heil der Menschen. Gott benutzt und lenkt das Böse – dies ist Teil der guten Nachricht. Würde Gott den Bösen, den Satan, und die Bösen nicht kontrollieren, gäbe es kein Evangelium.

Es ist überall in der Bibel dasselbe: Gott führt sein Volk, seine Kinder, seine Diener, die Propheten und Könige und alle Gläubigen in schwierige Situationen hinein, damit der Glaube geprüft wird und sich bewährt und wächst. Jeder, der in der Jüngerschaft, in der Nachfolge Jesu, auch nur etwas Erfahrung angesammelt hat, wird dies bestätigen.

Das junge Mädchen in der Geschichte war nun wahrlich in einer schwierigen Situation. Aber ihre Worte, die sie an ihre Herrin richtet, zeigen eines: Sie hat am Glauben festgehalten. Zum Glauben kommen ist eine Sache, im Glauben bleiben eine andere. „Selig sind, die das Wort hören und bewahren“, sagte Jesus (Lk 11,28). Wir sollen im Glauben gar nicht die Welt retten oder heilen oder transformieren, wir sollen keine Bäume ausreißen, sondern – so nüchtern das auch klingt – im Glauben bleiben.

Diese Aufforderung zieht sich dann auch durch die Briefe des Neuen Testaments. Im Hebräerbrief heißt es, wir sollen das Vertrauen (3,6), das Bekenntnis (4,14) und die Hoffnung (6,11) festhalten; wir sind aufgerufen an den Überlieferungen (1 Kor 11,2), am Evangelium (1 Kor 15,1–2), am Wort des Lebens (Phl 2,16) und an der Demut (1 Pt 5,5) festzuhalten. Schließlich Paulus: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe das Ziel des Laufes erreicht, ich habe am Glauben festgehalten.“ (2 Tim 4,7)

Das Ziel jeder missionarischen Arbeit kann daher auch nicht sein, dass sich Menschen kurz für Jesus begeistern. Es geht darum, dass Menschen zum Glauben finden, einer Gemeinde anschließen und im Glauben wachsen, aber vor allem im Rennen ausharren, so altmodisch das auch klingen mag.

Wie sah der Glaube des jungen Mädchens aus? Sie glaubte sicher nicht, dass Elischa über Zauberkräfte verfügt. Sie wusste: Gott kann durch ihn heilen, und zwar auf übernatürliche Weise, d.h. durch direktes Eingreifen.

„Gott kann“, so ihre Überzeugung. Aber wie sah denn Gottes Eingreifen in ihrem Leben aus? Christen tauschen sich heute gerne über ihre Gotteserfahrung aus. Was hätte das junge Mädchen da zu bieten gehabt? Verschleppt und versklavt und von Gott vergessen. Vielleicht hat sie so wie David in Psalm 13 gebetet: „Herr! Hast du mich für immer vergessen? Wie lange noch willst du dich denn noch verbergen? Wie lange sollen mich die Sorgen quälen, der Kummer Tag für Tag an meinem Herzen nagen?“ (V. 2–3) Oder in Psalm 22: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Warum hörst du nicht, wie ich schreie, warum bist du so fern?“ (V. 2)

Das sind die Ausrufe eines Gläubigen in der Bibel, Sätze aus den Psalmen, dem Gebetsbuch der Kirche. Sie drücken die Erfahrung der Abwesenheit Gottes aus. Es ist natürlich nicht falsch, seinen Glauben auch mit Gotteserfahrungen zu begründen. Aber der Knackpunkt ist doch: Wie gehen wir mit der Erfahrung der Abwesenheit Gottes um? Lassen wir dann den Glauben fahren? Halten wir dann nicht mehr am Glauben fest?

Erfahrungen bestätigen den Glauben. Aber unser Glaube ruht letztlich nicht auf den Erfahrungen, die wir machen. Denn sie sind höchst unterschiedlich und schwanken. Der Glaube ruht auf den Zusagen Gottes in seinem Wort. Wer den Worten Gottes von Herzen glaubt, der hat, was sie versprechen – so Luther immer wieder. Im Glauben klammern wir uns letztlich an Gott selbst, denn er schwankt nicht. „Darum verlasst euch auf den Herrn immerdar; denn Gott der Herr ist ein Fels ewiglich.“ (Jes 26,4)

Natürlich schenkt Gott auch Freude und Segen und Heilsgewissheit. Aber man mache sich nichts vor: im Leben der jungen Frau in der Fremde, in Damaskus, wird es viele Tränen und Verzweiflung gegeben haben. Und dennoch glaubte sie und gab Zeugnis von dem Gott, der wunderbar eingreifen kann – obwohl er es in ihrem Leben so spektakulär nicht getan hat. Das ist vorbildlicher Glaube!

In der gesamten Geschichte in 2 Könige 5 sind die eigentlichen Helden die Namenlosen. Naaman ist es zu dumm, im Jordan unterzutauchen; er will eine anständige Heilung, und zwar durch den Propheten persönlich. Seine Diener müssen ihn davon abhalten, verärgert zurückzureisen; sie reden ihm gut zu. Ohne diese einsichtigen Diener und ohne das unbekannte Mädchen wäre nichts in dieser Geschichte passiert. In den entscheidenden Situationen handelten sie richtig. Gott nutzte ihr Reden und Tun. Naaman wird nicht nur geheilt; er bekennt, „dass es nur in Israel einen Gott gibt, der helfen kann, sonst nirgends auf der Welt“ (V. 15). Er opfert nun nur noch diesem Gott (V. 17).

Das junge Mädchen ist ein Beispiel für missionarisches Handeln, das uns Hoffnung gibt. Gott hat sie in die Fremde geführt, um dort den wahren Gott zu bezeugen. Er hat sie in eine bestimmte Situation hineingeführt, damit sie an diesem Ort am Glauben festhält und zum richtigen Zeitpunkt ihren Mund aufmacht. Was daraus werden sollte, konnte und brauchte sie nicht zu wissen. Das war und ist in Gottes Hand.

Gott legt jedem von uns Aufgaben für die Füße. Wir sollen uns und unsere Familie durch Arbeit versorgen. Und wir sollen für Gott, das Evangelium und den Glauben Zeugen sein – wo immer wir auch sind. Die junge Frau in Syrien war eine Missionarin ohne besondere Berufung, aber in ihrem Beruf. Sie gab Zeugnis in ihrem Job. So ist auch heute jeder Christ zum missionarischen Zeugnis berufen – allermeist an seiner Arbeitsstelle, im Alltag und in der Familie, im Hörsaal, Kreißsaal und Plenarsaal, im Sportverein, im Schützenverein und im Gesangsverein.

Die Backstube und die Apotheke, die Feuerwehr und das Krankenhaus, die Kreisverwaltung und das Architektenbüro, die Kasse im „Penny“ und der Pizza-Service bilden oft die missionarische Front Nr. 1. Hier will Gott uns haben, hierhin führt er uns. Damit die Menschen um uns herum nicht perfekte Menschen sehen, denen alles klappt und die immer glücklich sind; sondern damit sie sehen, wie Christen in dieser gefallenen Welt leben. Menschen, die auch in Schwierigkeiten am Glauben festhalten und trotz Leid und Verzweiflung den allmächtigen und gnädigen Gott bezeugen, sind die besten Missionare. Wie das unbekannte Mädchen aus Israel.

(Bild o.: Anna Ancher [1859–1935], Magd in der Küche)