Der Mythos vom blinden Glauben

Der Mythos vom blinden Glauben

„Blindes Vertrauen bei Abwesenheit von Belegen“

„Der gute Gott ist doch ein Terrorist: die ganze Menschheit, sechseinhalb Milliarden Lebewesen, sind seine Geiseln; seine Forderungen sind unklar, ständig ändern sie sich, sie hängen von Sprache, Region und Traditionen ab, aber die Idee ist überall die gleiche: Er verlangt Glauben, blinden, bedingungslosen Glauben, dass er der Allmächtige ist, dass er alles kann, auch ein Leben nach dem Tod geben“. So liest man im Roman Murmanti siena des bekannten litauischen Schriftstellers Sigitas Parulskis. Einmal wieder kann man hören, Gott verlange „blinden, bedingungslosen Glauben“. Ähnlich äußern sich natürlich auch so manche Wissenschaftler wie einst der berühmte Carl Sagan (1934–1996), in dessen letztem Buch Billions and Billions (dt. Gott und der tropfende Wasserhahn) zu lesen ist:

„Die Religion fordert uns zum fraglosen Glauben auf, sogar dann, wenn es keine eindeutigen Beweise gibt […]. Die Wissenschaft dagegen fordert uns auf, nichts auf Treu und Glauben hinzunehmen, nicht unserem Hang zur Selbsttäuschung nachzugeben und angebliche Beweise abzulehnen. Der Wissenschaft gilt tiefe Skepsis als höchste Tugend.“

Richard Dawkins, ein weiterer bekannter Popularisier von Wissenschaft und einer der führenden „Neuen Atheisten“, definierte Glaube schon in seinem ersten Buch The Selfish Gene vor einigen Jahrzehnten als „blindes Vertrauen bei Abwesenheit von Belegen, ja gegen alle Belege“. Auch in seinem letzten großen Bestseller The God Delusion (2006; dt. Der Gotteswahn) meint der Oxforder Biologe, dass der Glaube „stärker als alles andere das rationale Denken unterdrückt“. Religiöser Glaube führe zu der Gewohnheit „nicht zu fragen und nicht zu zweifeln“, dies sei ja schließlich das Wesen des Glaubens. Oft kritisiert Dawkins religiöse Erziehung: „Das Christentum wie auch der Islam lehren Kinder, dass bedingungsloser Glaube eine Tugend ist.“ Daher öffne selbst eine gemäßigte religiöse Erziehung die Tür zum Extremismus. Religion sei an sich gefährlich, da ihr blind gläubige und daher zum Fanatismus und zu Gewalt neigenden Menschen angehören: „Der blind glaubende Mensch […] ist eine weitere Waffengattung, der in die Waffengeschichte neben Bogen, Kampfross, Panzer und Streumunition eingegangen ist.“

„In Wirklichkeit gibt es keine Krankheiten“

Es stimmt natürlich: Man fände nicht wenige Christen, die andere dazu auffordern, blind zu glauben – frage nicht, glaube nur. Doch tatsächlich fordern heute ein solches blindes Vertrauen gar nicht so sehr irgendwelche Christen. In diesen Tagen werden die Buchhandlungen [in Litauen] geradezu zugeschüttet mit Büchern aus dem Bereich New Thought: Joe Vitales (The Attractor Factor) oder Ruediger Schaches (Das Geheimnis des Herzmagneten) und natürlich Rhonda Brynes Bestseller The Secret–Das Geheimnis seien hier nur genannt. Alle hämmern ihre oftmals völlig abstrusen Thesen dem Leser in den Kopf. Zweifel daran dürfen einfach nicht aufkommen.

New Thought ist ein religiöses und pseudowissenschaftliches Lehrsystem, das in den USA im 19. Jahrhundert entstand. Zu seinen prägenden Figuren gehörten Phineas Parkhurst Quimby (1802–1866), Ralph Waldo Emerson (1803–1882) und Mary Baker-Eddy (1821–1910). Auch der in Litauen so populäre Joseph Murphy (1898–1981, The Power of Your Unconscious Mind) ist hier zu nennen, denn das Positive Denken ist das wohl bekannteste Kind des New Thought.

Ein weiterer früher Kopf des New Thought war Wallace D. Wattles (1860–1911).  Er wurde durch eine Buchreihe berühmt: The Sciene of Being Well / … Being Great / … Getting Rich (alle 1910). Letzteres inspirierte Rhonda Byrne zu ihrem Film und gleichnamigen Buch The Secret. 2009 wurde das Buch auch in Litauen neuaufgelegt als Naujasis mokslas apie turtą (dt. Ausgabe Die neue Wissenschaft des Reichwerdens). In Buchhandlungen ist es nun oft in Regalen der Rubrik „Wirtschaft, Management“ (Ekonomika, vadyba) zu finden – obwohl es mit Wirtschaftswissenschaften nun wirklich nichts zu tun hat…

Auch Wattles verkündet auf jeder Seite die seltsamen Wahrheiten des New Thought: „In Wirklichkeit gibt es keine Krankheiten – wir sehen sie nur; tatsächlich gibt es einzig Gesundheit.“ All das wird mit dem Schein der Wissenschaft und Unfehlbarkeit versehen: „in dieser exakten Wissenschaft ist für Fehler kein Raum.“ Seine Lehren seien sogar der Schlüssel zur Lösung der Weltprobleme: „Der einzige Weg, die Welt von der Armut zu befreien: Wir müssen so viel Menschen wie möglich ermutigen, sich an die Lehren dieses Buch zu halten.“

Aber damit nicht genug. Wattles fordert den Leser auf: „Lesen Sie dieses Buch jeden Tag, haben Sie es immer bei sich. Lernen Sie es auswendig und verschwenden Sie keine Zeit für andere Systeme und Theorien, ansonsten beginnen Sie zu wanken, fühlen sich verunsichert und machen Fehler.“ An anderer Stelle: „Lesen Sie möglichst nur die Werke der im Vorwort genannten Autoren. Denken Sie die meiste Zeit über ihre Wünsche nach, regen Sie noch mehr Dankbarkeit in sich an und lesen Sie immer wieder dieses Buch.“ Wattles will, dass man Kritik an seinen Lehren ganz von sich fern hält, sich vor ihr immunisiert; er ruft zur gedanklichen Inzucht auf:

„Sie müssen allen anderen Weltanschauungen außer dieser monistischen Sicht des Universums entsagen. Sie müssen sich so lange auf diese berufen, bis diese Gedanken sich so in Ihrem Verstand einnisten, dass sie zur Gewohnheit werden. Lesen Sie diese Worte mehrmals und versuchen Sie, jedes Wort zu verstehen und sich zu merken; denken Sie an diese Worte, bis Sie sie fest glauben. Wenn auch nur der geringste Zweifel aufkommt, vertreiben Sie ihn. Achten Sie nicht auf das, was diese Idee widerlegen könnte; besuchen Sie keine Kirchen oder Vorträge, wo das Gegenteil gelehrt wird. Lesen Sie keine Zeitschriften oder Bücher, die anderes behaupten. Geraten Sie innerlich durcheinander, werden die Bemühungen [reich zu werden] vergeblich sein. Fragen Sie nicht, warum dies die Wahrheit ist – vertrauen Sie nur. Wenn Sie bedingungslos an diese wissenschaftlichen Wahrheiten zu glauben beginnen, werden Sie lernen reich zu werden.“

„… ob sich’s so verhielte“

Nicht fragen, nicht zweifeln, sondern blind glauben. Dummerweise klingt das irgendwie christlich. Und tatsächlich lieben ja gerade Byrne, Murphy und andere die christlichen Begriffe wie Glaube, Wunder, Gebet usw. Und sie betrachten offensichtlich ihre Bücher wie Wattles seine Wissenschaft des Reichwerdens als heilige Schriften. Diese sind es natürlich nicht, sondern nur ein wilder Mix von teilweise banalen, oft zynischen, manchmal lügnerischen oder auch absurden Sätzen.

Doch der entscheidende Unterschied liegt darin, dass die Bibel diese Sonderbehandlung von sich gar nicht verlangt. Sie ruft die Menschen auf, zu fragen, genau zu untersuchen, zu prüfen; nirgendwo fordert sie: lies nur mich; und sie erlaubt auch den Zweifel und die kritische, skeptische oder zweifelnde Frage wie in Ps 13,2: „Herr, wie lange willst du mich so vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir?“ Oder im Buch Hiob. Dieser hält sich für unschuldig und beschwert sich über die Ungerechtigkeit der Welt: „Warum bleiben die Gottlosen am Leben, werden alt und nehmen zu an Kraft?“ (Hi 21, 7). Offen konfrontiert er Gott mit kritischen Fragen: „Gefällt’s dir, daß du Gewalt tust und verwirfst mich, den deine Hände gemacht haben…“ (10, 3), und wie David: „Warum verbirgst du dein Antlitz und hältst mich für deinen Feind?“ (13, 24)

Die Bibel ruft nirgendwo zu blindem Vertrauen auf. Gott mutet den Menschen Schritte in eine ungewisse Zukunft zu, aber er fordert nicht zu Sprüngen in einen dunklen Abgrund auf. Er erlaubt, dass Menschen ihn testen, seine Aussagen überprüfen. Ja das Hinterfragen, Anfragen, kritische Fragen ist sogar ein Zeichen des Glaubens. Dem Ungläubigen dagegen sind Gott, seine Existenz, sein Charakter, seine Versprechen, ja sowieso egal. Daher ist es auch kein Zufall, dass sich weite Abschnitte im Alten Testament mit den Zweifeln an Gott beschäftigen. In rund der Hälfte der Psalmen geht es um das Gefühl der Abwesenheit Gottes. Zweifel dieser Art ist Ausdruck dessen, dass wir Gott, seine Taten und Worte wirklich ernst nehmen.

Ähnlich wird auch im Neuen Testament keineswegs aufgefordert, blind zu glauben. Von den Juden in Beröa wird berichtet, dass sie die Predigt der Apostel mit offenem Herzen aufnahmen („sie nahmen das Wort bereitwillig auf“), doch keineswegs unkritisch: sie „forschten täglich in der Schrift, ob sich’s so verhielte“ (Apg 17,11). Sie prüften die neue Lehre, sie nahmen sie alles andere als blind auf. Das Prüfen allgemein wird auch sonst in den Briefen des NT mehrfach betont (Röm 12,2; 1 Kor 11,28; 2 Kor 13,5; Gal 6,4; Eph 5,10; 1 Tim 3,10; 1 Thess 5,21; 1 Joh 4,1).

Die Einwohner von Beröa waren skeptisch – in einem ganz positiven Sinne. Denn gr. skeptomai, skeptesthai oder skopeo (nur letzteres im NT) bedeutet umherschauen, spähen, mit scharfer Aufmerksamkeit hinblicken. Skepsis heißt also zuerst: sich etwas genau anschauen, untersuchen. Ein Skeptiker fragt: Ist das wirklich so? Ist das wirklich wahr? Ein wahrer Skeptiker wird daher von dem Drang nach Wahrheit getrieben, setzt sich mit Leidenschaft für die Wahrheit ein. Ein Skeptiker, der von vornherein das Christentum und das Studium Bibel ablehnt, ist kein Skeptiker, sondern ein atheistischer Dogmatiker.

„Mißvergnügen an festen Behauptungen“

Martin Luther meinte jedoch in seinem Werk Vom unfreien Willen (1525): „Ferne seien von uns die Skeptiker“, und berühmt wurde sein Satz: „Der Heilige Geist ist kein Skeptiker und hat nicht Zweifelhaftes oder [bloße] Meinungen in unser Herz geschrieben, sondern feste Gewißheiten“.

Der Reformator antwortete damit auf das Werk Vom freien Willen des Humanisten Erasmus. Dieser ging davon aus, dass vieles in der Bibel unklar ist. „Die Anweisungen zu einem sittlichen Leben“ seien uns genau bekannt, viel mehr jedoch nicht. Scharfe theologische Debatten mochte er deshalb nicht; Erasmus ließ alles gerne in der Schwebe, hatte allgemein „Mißvergnügen an festen Behauptungen“, wollte „nur untersuchen, nicht richten, nur prüfen, nicht entscheiden“. Von dieser Art von Skepsis hielt Luther – zu Recht – nicht viel. Ihm ging es darum, dass man – wie die Einwohner von Beröa – auch zu Entscheidungen kommt:

„Denn das ist nicht Christenart, sich nicht an festen Ansichten zu freuen, Man muß vielmehr an festen Meinungen seine Freude haben oder man wird kein Christ sein. Eine ‘feste Meinung’ (assertio) aber nenne ich (damit wir nicht mit Worten spielen): einer Lehre beständig anhängen, sie bekräftigen, bekennen, verteidigen und unerschüttert bei ihr ausharren […]. Weiter: ich spreche davon, daß man eine feste Meinung haben muß in jenen Dingen, die uns durch Gott in den heiligen Schriften überliefert sind.“

Erasmus hält sich zwar für einen ausgewogenen Skeptiker, doch auch er war nicht konsequent: In Fragen der Moral war für ihn alles ganz klar – gerade hier, bei den guten Werken und ihrer Rolle, fragte Luther viel skeptischer: Was sind eigentlich gute Werke? Und gegenüber der römischen Kirche schreckte Erasmus vor zu viel Skepsis zurück: Den „Entscheidungen der Kirche“ wolle er sich „in allen Stücken gerne unterordnen, einerlei ob ich ihre Anordnungen verstehe oder nicht“ – wo ist da die kritische Untersuchung? Ist das nicht blinde Unterwerfung? Luther war gegenüber Rom viel skeptischer.

Wir sehen schon, und das verkompliziert diese ganze Diskussion, dass „Skeptizismus“ eine andere Bedeutung gewonnen hat. Dessen Anhänger verwerfen die Möglichkeit, die Wahrheit zu erkennen. Bertrand Russell (1871–1970) schreibt in seiner Philosophiegeschichte: „Buchstäblich bedeutet der Skeptiker einen Zweifler, aber als Philosophie erhebt der Skeptizismus den Zweifel zum Rang eines Dogmas. Er leugnet, dass man je etwas mit Gewißheit wissen könne. Die Schwierigkeit zeigt sich freilich gleich, wenn man wissen möchte, woher der philosophische Skeptizismus seine Ansichten nimmt.“

Russell weist ganz richtig darauf hin, dass auch der Skeptizist an Wahrheiten glaubt. Auch der größte Skeptiker hält mit Gewißheit an bestimmten Überzeugungen fest. Schon Ludwig Wittgenstein (1889–1951) stellte richtig fest: „Wer an allem zweifeln wollte, der würde auch nicht bis zum Zweifel kommen. Das Spiel des Zweifels setzt selbst schon die Gewißheit voraus.“ (Über Gewißheit, 115) In einem Interview vor sechs Jahren meinte der katholische Philosoph Robert Spaemann:

„Der Skeptizismus der Philosophie sollte so radikal sein, dass er sich auch gegen sich selbst richtet. Wie Friedrich Hegel sagte: Wir müssen auch Zweifel an unseren Zweifeln haben. Auch unser Zweifel könnte ja unberechtigt sein! Denn auch ein Philosoph braucht Gewissheiten. Wenn jemand tatsächlich pausenlos an allem zweifeln würde, führte dies zur Selbstzerstörung.“

„Unhinterfragter Glauben an die universelle Gutheit des Atheismus“

Dringend nötig ist eine gesunde Skepsis, jedoch kein dogmatischer Skeptizismus. Wir müssen von dem großen Theologen Peter Abelard (1079–1142) lernen, der in seinem Werk Sic et Non schrieb: „Indem wir nämlich zweifeln, gelangen wir zur Untersuchung und durch diese erfassen wir die Wahrheit.“ Zweifeln, genau Hinsehen – um der Wahrheit willen. Das ist nötig, weil wir in einem Zeitalter der Leichtgläubigkeit leben, in dem die Menschen alles mögliche glauben, und sei es noch so verrückt, absurd und abwegig. Vermischen sich solche Thesen mit frommen Vokabular, lassen sich auch viele Christen davon anstecken.

Es gibt wohl kaum etwas, was die christliche Gemeinde mehr braucht, als die Fähigkeit der genauen Untersuchung, eben der gesunden Skepsis. Wir müssen lernen täuschende Selbstverständlichkeiten und falsche Gewissheiten in Frage zu stellen, anzuzweifeln. Doch der Begriff Skepsis wurde uns, wie so manche anderer auch, gestohlen und gegen uns gewandt. Denn „Skeptiker“ nennen sich heute gerne, gerade im englischsprachigen Raum, die Atheisten; all solche, die Religion und Christentum grundsätzlich negativ sehen.

In den USA ist Michael Shermer (der in seinen Studententagen für Jesus Werbung machte…) Kopf der „Skeptics Society“ und gibt das „Skeptic magazine“ heraus (s. www.skeptic.com). Dort gibt es viel nützliche Informationen, doch problematisch ist schon die Definition, die Shermer gibt: „Moderner Skeptizismus drückt sich in der wissenschaftlichen Methode aus, die das Sammeln von Daten beinhaltet, damit naturalistische Erklärungen für natürliche Phänomene formuliert werden können.“ Vernünftige Antworten müssen naturalistisch sein, d.h. Gott/Glaube/Religion haben in einer rationalen Erklärung nichts zu suchen. Von vornherein ist Gott damit ausgeschlossen; er wird nicht gesucht und darf nicht gefunden werden. Shermer gibt damit auch gleich zu verstehen: der wahre, konsequente Skeptiker ist Atheist.

Shermer sieht durchaus, dass viele radikale Skeptizisten davor zurückschrecken, gegenüber den eigenen Lieblingsideen skeptisch zu sein. Doch diese Kritik trifft auch ihn selbst. Ähnlich wie der kämpferische Atheist Sagan ist er selbst nicht skeptisch genug gegenüber seinen eigenen Grundannahmen, hier konkret der Glaube an den Naturalismus. Ähnlich hat der Oxforder Theologe Alister McGrath in seiner Kritik von Dawkins sehr gut darauf hingewiesen, dass dieser die dunkle Seite des Atheismus komplett ignoriert. Dawkins hat einen „brennenden, unhinterfragten Glauben an die universelle Gutheit des Atheismus, den er keinerlei kritischer Untersuchung aussetzen will.“ (The Dawkins Delusion?)

Shermer oder auch der Philosoph Philip Kitcher wollen nicht so weit wie Dawkins gehen (für diesen ist Religion ja pauschal Teufelszeug) und sehen durchaus Positives in Religion; man dürfe sie keinesfalls einfach abschaffen wollen. Und Shermer warnt vor der Vergötterung der Wissenschaft und vor Dogmatismus. Doch auch diesen seinen Maßstäben wird er selbst nicht gerecht. Wer Gott abgeschafft hat, ist dennoch gezwungen, an einen anderen Gott zu glauben. Und so wird eben das eigene skeptizistische Denken zum Erlöser der Welt. Shermer meint tatsächlich, „dass das Überleben der menschlichen Spezies und das Erreichen von mehr Glück für Individuen von der Fähigkeit zum wissenschaftlichen, rationalen und skeptischen Denken abhängt.“

 „Lügenhafte Zeichen und Wunder“

Die Skepsis ist nicht Gott. Sie wird zwar im NT nicht als christliche Tugend genannt, aber sie begegnet uns dennoch auf vielen Seiten der Bibel: Lehren unsere Leiter auch die Wahrheit? Verkündigen sie wirklich Gottes Wort? Entspricht mein Leben wirklich dem Evangelium – oder täusche ich mich selbst und andere? Wir sollen alles prüfen, nüchtern abwägen, uns nicht vorschnell täuschen lassen und nicht jeder neuen Lehre nachlaufen. Was ist dies sonst, wenn nicht eine gesunde Skepsis?

Sie ist also auch für Christen ein ganz wichtiges Instrument – gerade für diese. Denn betrachten wir abschließend nur einmal die heutige Wunderinflation: Fast an jeder Ecke ist von Wundern die Rede. Und auch wenn dies oftmals nur im übertragenen Sinne gemeint ist, so behaupten doch auch viele wie z.B. Rhonda Byrne ganz ernsthaft: „Die Reise des Films [The Secret] war von zahlreichen Wundergeschichten begleitet“. Auch Wattles verheißt uns ja Wunder. Hier müssen Christen skeptisch fragen: Waren das wirklich Wunder? Was sind denn Wunder? Halten diese Wunderberichte wirklich einer kritischen Überprüfung stand?

Natürlich kennt auch die Bibel Wunderberichte. Die allermeisten Wunder im Neuen Testament sind dabei jedoch öffentlich, für jedermann zu sehen und vor allem zu überprüfen (so nennt z.B. Paulus in 1 Kor 15,5f genau die Zeugen der Auferstehung und fordert damit indirekt dazu auf, die Berichte zu überprüfen). Sie sind offensichtlich, d.h. z.B. bei Heilungswunders geht es um pathologische Schäden und ihre Heilung, die sofort und unmittelbar, nämlich auf Befehl erfolgt. Gott handelt hierbei nicht durch natürliche Mittel, sondern schöpferisch, d.h. durch Neuschaffung von Körpergewebe. All diese Punkte bilden eine hohe Schwelle für heutige Wunderheiler, die von ihnen meist nicht genommen wird. Wer in der gleichen ‘Liga’ wie Jesus und die Apostel spielen will, der unterliegt sehr strengen Auswahlkriterien!

Es sollte zu denken geben, dass Wunder besonders im Katholizismus und dessen sog. Volksfrömmigkeit eine sehr wichtige Rolle spielen (Heiligenkult, Marienverehrung, wundertätige Bilder, Reliquien, Orte, Quellen etc.) und auch bei verschiedenen Sekten sehr wichtig sind (man denke z.B an die Wunder in der Geschichte der Mormonen). Die Epoche der Reformation dagegen ist geradezu wunderarm. Von Luther, Melanchton, Bucer, Calvin, Cranmer sind keine Wunderberichte bekannt.

Gerade aber gegenüber Wunderberichten aus den Bereichen New Thought, der Esoterik, aus dem Katholizismus und den Sekten gilt es skeptisch zu sein. Wenn Christen daher Wunderberichte kritisch und sorgfältig prüfen, ist dies nur verantwortungsvoll. Diese gesunde Skepsis ist vor allem auch deshalb wichtig, weil der Antichrist der Endzeit nach 2 Thess 2,9 auch ein Wundertäter ist bzw. sich als solcher ausgibt („mit großer Kraft und lügenhaften Zeichen und Wundern“; s. auch Mt 24,24; Mk 13,22; Off 13,14; 16,14; 19,20).

Fragen Christen auch bei Wunderberichten von Geschwistern skeptisch nach, so hört man wahrscheinlich den Vorwurf „Glaubst du etwa nicht an Wunder?!“ Mit anderen Worten: Skepsis nicht erwünscht. Doch damit sind wir wieder schnell beim blinden Glauben. Glaube wird nicht dadurch größer, dass wir an alles mögliche und so viel wie möglich glauben, nach dem Motto: umso unwahrscheinlicher und verrückter desto besser. Blinder Glaube glaubt an alles und damit letztlich an gar nichts mehr. Hat man den blinden Glauben erst einmal ‘getauft’, dann finden auch bei Christen Schwätzer wie Wattles, Byrne und Co. offene Ohren.

Wahrer Wunderglaube glaubt nicht alles, was als Wunder ausgegeben wird und sieht keine Wunder an jeder Ecke. Er erkennt vielmehr Gottes Handeln auch dort, wo es weniger offen-sichtlich ist, sein Wirken in der ganzen Welt und im Alltäglichen. Glaube soll wachsen und zunehmen, aber dies qualitativ. Dies bedeutet, dass der Christ „alles [glaubt], was uns im Evangelium zugesagt wird“ (Heidelberger Katechismus, Fr. 22), nicht mehr und nicht weniger. Christlicher Glaube, rettender Glaube, vertraut den Zusagen Gottes in seinem Wort, und ihnen allein. Eine gesunde Skepsis hilft uns, ihn zu bewahren, zu pflegen und vor Blindheit zu schützen.