„Große Apostelin der Barmherzigkeit“

„Große Apostelin der Barmherzigkeit“

„Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit“

In der römisch-katholischen Kirche ist in diesem Kirchenjahr die Barmherzigkeit Gottes das große Oberthema. Im vergangenen April rief Papst Franziskus für den Zeitraum vom 8. Dezember 2015 bis 20. November 2016 ein „Heiliges Jahr der Barmherzigkeit“ aus. An das Jubeljahr Israels im Alten Testament anknüpfend hatte Papst Bonifatius VIII im Jahr 1300 die Tradition des Jubiläums wieder aufgegriffen. Bis heute wurde insgesamt 26 Mal ein ordentliches Heiliges Jahr gefeiert, das seit Jahrhunderten alle 25 Jahre begangen wird. Das letzte war das große Jubiläum im Jahr 2000. Daneben gibt es Außerordentliche Jubiläumsjahre wie zuletzt 2009 (Paulusjahr).

Das Wesentliche des Heiligen Jahres ist der Jubiläumsablass.  Ablass ist nach katholischem Verständnis der Nachlass zeitlicher Strafen vor Gott für Sünden, deren Schuld schon getilgt ist. Der reformierte Theologe Thomas Schirrmacher: „Der Streit um den Ablass führt in das Herz des Unterschieds zwischen evangelischem und katholischem Glauben.“ (Der Ablass) Er sieht das Kernproblem der Ablasspraxis darin, dass der Kreuzestod Christi geschmälert wird, da die zeitliche Strafe von Menschen abgearbeitet werden muss. Zum Erwerb des Jubiläumsablasses machte der Papst in diesem Schreiben vom 1. September nähere Ausführungen. Die „Welt“ gab zu Beginn des Jahres einen guten Überblick: „Was Sie als Sünder jetzt wissen müssen“.

In der Verkündigungsbulle zum außerordentlichen Jubiläum der Barmherzigkeit Misericordiae vultus („Antlitz der Barmherzigkeit“) bezeichnet Franziskus Maria als „Mutter der Barmherzigkeit“ und ruft zum Beten des „Salve Regina“, eines Gesangs aus dem Hohen Mittelalter, auf, der so beginnt: „Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit, unser Leben, unsre Wonne und unsere Hoffnung, sei gegrüßt! Zu dir rufen wir verbannte Kinder Evas; zu dir seufzen wir trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen. Wohlan denn, unsre Fürsprecherin, deine barmherzigen Augen wende uns zu…“

Odyssee eines Bildes

Als Fürbitterin und „große Apostelin der Barmherzigkeit“ ruft der Papst auch Maria Faustyna Kowalska an: „Sie, die berufen war, in die Tiefe der göttlichen Barmherzigkeit einzutreten, sei uns Fürsprecherin und erwirke uns die Gnade, stets in der Vergebung Gottes und in dem unverbrüchlichen Vertrauen auf seine Liebe zu leben und zu wandeln.“

Die 1905 geborene Polin, bürgerlich Helena Kowalska, trat am 1. August 1925 in Warschau in die Kongregation der Schwestern der Muttergottes von der Barmherzigkeit ein. Am 22. Februar 1931 will sie in Płock, nordwestlich von Warschau, ein erste Vision Jesu erhalten haben. 1933 wurde Kowalska in das Ordenskloster in Vilnius versetzt, das damals zu Polen gehörte. Bald nach ihrem Ordenseintritt erkrankte sie an Tuberkulose; mehrere Spitalaufenthalte brachten keine Heilung. Am 5. Oktober 1938 verstarb Kowalska in einem Krakauer Kloster. Im Jahr 2000 wurde die Nonne heiliggesprochen.

Barmherziger_Jesus

Kowalskas Visionen fanden Niederschlag in ihren Tagebüchern, die sie auf Anraten ihres Beichtvaters Michał Sopoćko anfertigte (2008 wurde er seliggesprochen). Sie sind heute in fast jeder litauischen Buchhandlung erhältlich. Berühmtheit erlangte Kowalska aber dadurch, dass sie von Jesus den Auftrag erhielt, eine der Visionen zu malen bzw. malen zu lassen. Nach den Eindrücken der Mystikerin fertigte der Künstler Eugeniusz Kazimirowski 1934 das „Jesusbild von der Göttlichen Barmherzigkeit“ (lit. „Gailestingojo Jėzaus paveikslas“) an. Neben diesem Bild gibt es noch andere Darstellungen der Vision wie von Adolf Hyła.

Anfangs wurde das Bild Kazimirowskis im Kloster der Bernhardinerschwestern an der Michaelskirche aufbewahrt, deren Rektor Sopoćko war. In ihrem Tagebuch vermerkt Kowalska Jesu Auftrag: Sie solle ihrem Beichtvater übermitteln, dass der Ort des Gemäldes in der Kirche sei und nicht im Korridor des Klosters. Am Weißen Sonntag (Sonntag nach Ostern) des Jahres 1937 wurde das Bildnis in der Michaelskirche neben dem Hauptaltar aufgehängt.

Im Jahre 1948 ließ die sowjetische Besatzungsmacht die Kirche schließen und löste das Kloster auf (heute befindet sich darin das Museum des kirchlichen Erbes). Das Bildnis des Barmherzigen Jesus blieb aber bis zum Jahre 1951 in dem Gebäude, kam dann in die Heilig-Geist-Kirche in Vilnius zur Aufbewahrung. Ab 1956 befand sich das Bildnis in einem Ort in der Nähe von Grodno, heute Weißrussland. Im Herbst des Jahres 1986 wurde es heimlich nach Vilnius gebracht. Das Bild Kazimirowskis befindet sich seit 2005 wieder dauerhaft in Vilnius im „Heiligtum der Barmherzigkeit Gottes“ (s.u. Bild) mitten in der Altstadt.

Die Bewahrung des Bildes während der kommunistischen Zeit wird von katholischen Gläubigen als ein eindeutiges Wunder betrachtet. Und der Ort in der Dominikaner-Strasse ist für sie von großer und emotionaler Bedeutung. Ausländische Besucher sind innerlich bewegt, wenn sie sich dem Original des durch unzählige Reproduktionen verbreiteten Bildes nähern.

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„Durch dieses Bild werde ich viele Gnaden erteilen“

Auf dem mannshohen Bild weist Jesus mit linker Hand auf sein Herz, die Stelle des Einstichs bei der Kreuzigung. Von dort geht eine Art Lichtstrahl aus roter und weißer Farbe hervor. Hier steht Johannes 19,34 im Hintergrund. Johannes, selbst Augenzeuge, schildert, wie ein Soldat mit einem Spieß die Seite Jesu durchbohrt, wahrscheinlich um den Tod festzustellen. „Wasser und Blut“ treten daraufhin aus. Seit Chrysostomus sieht man in Wasser und Blut auch Symbole für die Sakramente Taufe und Abendmahl. (Mehr dazu und auch zu protestantischen Sicht des Verses hier.)

Joh 19,34 ist ein Schlüsselvers für den katholischen Herz-Jesu-Kult. Seine Wurzeln hat dieser erst im Hochmittelalter, später spielten dann die Visionen der heiliggesprochenen Margareta Maria Alacoque (1647–1690) eine entscheidende Rolle. Am 27. Dezember 1673 erschien ihr das göttliche Herz Jesu auf einem Flammenthron, nach allen Seiten Strahlen sendend wie die Sonne, die Wunde der Lanze sichtbar, von einer Dornenkrone umgeben, und auf dem Herzen stand das Kreuz. Jesus versicherte ihr, dass die lauen Christen begeistert, die begeisterten vollkommen werden, wenn sie das Herz Jesu verehren und sich ihm weihen.

Wie in den Visionen der Alacoque machte Jesus auch Kowalska neue Zusagen: „Ich verspreche, dass die Seele, die dieses Bild verehrt, nicht verloren geht. Ich verspreche auch, schon hier auf Erden, den Sieg über Feinde, besonders in der Stunde des Todes“; „Ich überreiche den Menschen ein Gefäß, mit dem sie zur Quelle der Barmherzigkeit kommen sollen, um Gnaden zu bekommen“;  „Durch dieses Bild werde ich viele Gnaden erteilen, deshalb soll jede Seele Zugang zu ihm haben.“ Jesus versprach angeblich, die Städte und Dörfer zu schützen, in denen das Bildnis verehrt wird, und die Menschen zu bewahren, die auf die Barmherzigkeit Gottes vertrauen.

Jesus selbst legte außerdem fest, dass der erste Sonntag nach Ostern der Feier der Barmherzigkeit gewidmet sein soll. An diesem Tag seien die „göttlichen Schleusentore“ der Gnade ganz offen. Auch sonst schrieb der visionäre Jesus auf die Stunde genau vor, was Kowalska zu tun und zu lassen habe. Gnade und Barmherzigkeit  sind natürlich, laut Jesus in den Visionen, an den Empfang der gewandelten Hostie in der katholischen Messe geknüpft.

An dieser Stelle erheben Evangelische massiven Einspruch, denn solche Zusagen und Versprechen haben keinerlei biblische Grundlage und führen Christen in die Irre. Protestanten gehen wegen solcher fragwürdigen Aussagen davon aus, dass sicher nicht der Sohn Gottes, sitzend zur Rechten des Vaters, ihr alle die Sätze eingegeben hat.

Auch in der römischen Kirche war der Status der Visionen Kowalskas und der Kult des Bildnisses lange umstritten; es fehlte der offizielle Segen. (Bis heute kritisiert die erzkonservative Piusbruderschaft den Kult.) Im Jahre 1978 erklärte schließlich die Kongregation für Glaubenslehre, dass sie keinerlei Einwände gegen eine Verehrung des Barmherzigen Jesus auf die Weise hat, die durch die Visionen von Kowalska begründet sind. Kopien des Bildnisses verbreiteten sich weltweit immer stärker. Dazu trug auch besonders Papst Johannes Paul II mit der Enzyklika Dives in misericordia (Über das göttliche Erbarmen, 1980) bei, in der er die theologischen Grundlagen der Spiritualität der Barmherzigkeit Gottes bestätigte.

„Die Welt sehnt sich nach diesem Bild“

Faustyna Kowalska, das Bildnis und seine Geschichte stehen im Mittelpunkt des zweistündigen Dokumentarfilms „The Original Image of Divine Mercy – The untold story of an unknown masterpiece“ (lit. „Pirmasis Dievo gailestingumo paveikslas. Nežinomo šedevro negirdėta istorija“). Die Weltpremiere des Films fand am 21. Februar im Kino „Forum Cinemas Vingis“ in Vilnius statt. Genau 85 Jahre zuvor, in der Nacht vom 22. Februar 1931, war Jesus Faustyna ein erstes Mal erschienen, so Erzbischof Gintaras Grušas bei der Premiere.

Der Film entstand in recht kurzer Zeit, denn erst im Februar vergangenen Jahres begann das Produktionsteam um den Musiker und Filmemacher Daniel diSilva mit der Arbeit. Dass der Papst zwei Monate später das Heilige Jahr ausrufen werde, sei natürlich ein geradezu inspirierter Zufall. 2007 besuchte diSilva Vilnius ein erstes Mal und begegnete dem wundersamen Bild. Er wollte einen „event“ für das Jahr der Barmherzigkeit schaffen und vor allem das Orginal des Bildes in der katholischen Welt verbreiten. (Tatsächlich zeigt eine Google-Suche [divine mercy], dass diverse andere Darstellungen der Vision offensichtlich populärer als die von Kazimirowski sind.) diSilva legte vor einem Jahr auch eine Vertonung des Barmherzigkeitsrosenkranzes vor. „Die Welt sehnt sich nach diesem Bild“, so diSilva.

Mercy

Erzbischof Grušas und Filmemacher diSilva (links neben der Reproduktion des Bildes) und weiter Mitglieder des Fimteams

Im Film kommen einige Kardinäle zu Wort wie Christoph Schönborn aus Wien, der Pole  Stanisław Dziwisz und Audrys Juozas Bačkis, Amtsvorgänger von Grušas in Vilnius. Letzterer folgte dem Kardinal auch im Amt als Vorsitzender der litauischen Bischofskonferenz nach und förderte das Projekt nach Kräften. Außerdem sind die Bischöfe Kęstutis Kėvalas und Robert Barron zu sehen. Ein bekanntes Gesicht ist auch George Weigel, der katholische Publizist und Biograph von Johannes Paul II. Schließlich äußern sich der Musiker Harry Connick Jr. und auch ein  Komiker wie Jim Gaffigan zum Bild. – Eine modern aufbereitete Reklamekampagne (wie die Macher selbst sagen) für die katholische Kirche und ihren Glauben.

Divine mercy

Filmplakat

Bei der Premiere des Films in Vilnius nahm Politprominenz teil wie Vytautas Landsbergis, erstes Staatsoberhaupt des unabhängigen Litauens, und der Regierungschef Algirdas Butkevičius mit seiner Frau. Wie üblich war der orthodoxe Erzbischof Innocentius ebenfalls mit von der Partie. Als Repräsentant seiner Kirche wohnte auch der lutherische Bischof Mindaugas Sabutis mit den beiden älteren seiner drei Kinder der Filmvorführung bei. Gegenüber der Presse sprach er allgemein zur Barmherzigkeit Gottes, was einem Geistlichen natürlich wenig schwerfällt. Der 40jährige Kirchenleiter fand aber auch positive Worte zum Film und zum Bildnis selbst: „Es war eine gute Gelegenheit, die Geschichte der Hl. Faustyna und des Bildes besser kennenzulernen, die so vielen nur bruchstückhaft bekannt ist. Die Geschichte selbst zeigt, wie Gottes Gnade durch Menschen und ohne Menschen wirkt.“

In der Woche der Barmherzigkeit nach Ostern wird es auch in diesem Jahr wieder am 2. April einen „ökumenischer Lichterweg“ (lit. „ekumeninis šviesos kelias“) geben. Vom „Tor der Morgenröte“ (lit. „Aušros vartai“), wo sich die „wundertätige Ikone der Barmherzigen Muttergottes“ (lat. „Mater misericordiae“) befindet, zieht am späten Abend eine Prozession durch die Altstadt gen Heiligtum der Barmherzigkeit Gottes, also dem Ort des Bildes nach der Vision Kolwalskas. Seit Jahren marschiert auch der lutherische Bischof an der Spitze mit.

Die reformierte Kirche sieht diesen Schmusekurs der evangelischen Schwesterkirche schon eine ganze Weile kritisch, denn es wird überhaupt nicht mehr deutlich, worin sich Lutheraner und Katholiken in diesen wichtigen Fragen der Gnadenvermittlung unterscheiden. Die größte evangelische Kirche Litauens sucht schon seit Jahren bewusst die Nähe zu Rom (der Bischof ist seit einer Weile ganz in katholischer Manier „seine Exzellenz“). Der Einheit der Evangelischen im Land tut dies nur Schaden.

Tomas Šernas, der Generalsuperintendent unserer Kirche, wurde drei Mal zur der Filmpremiere eingeladen, sagte aber freundlich ab.

2015 sviesos kelias

„Lichterweg“ 2015, in weißen Alben Bischof Sabutis und rechts von ihm Pfr. Dokšas von der lutherischen Gemeinde Vilnius; im Hintergrund das „Tor der Morgenröte“.

2009 sviesos kelias

Kardinal Bačkis und Bischof Sabutis im Tor der Morgenröte beim Lichterweg 2009.