So viele Sklaven wie noch nie?

So viele Sklaven wie noch nie?

Wo Gary Haugen (un)recht hat (II)

Es hat nie so viele Menschen in extremer Armut gegeben wie 1970: 2 Milliarden. Es gab wohl noch nie so viele Morde wie heute und vielleicht noch nie so viele Vergewaltigungen. Diese Liste des Schreckens ließe sich problemlos fortsetzen. Doch der Grund für dies Ausmaß des Bösen und des Leids ist einfach: Heute bevölkern 7 Milliarden Menschen den Planeten. Um Christi Geburt waren es vielleicht 250 Millionen – weltweit. Seitdem stieg die Weltbevölkerung also etwa um das Dreißigfache, allein in den vergangenen 250 Jahren – seit dem Beginn der Industrialisierung – um das Zehnfache. Damit nahm natürlich auch alles, was mit Menschen verbunden ist, automatisch gewaltig zu: noch nie so viele Geburten, Sterbefälle, Krankheiten usw.

Durch den gewaltigen Anstieg der Einwohnerzahlen in so gut wie jedem Land der Welt sind absolute Zahlen in Statistiken mit großer Vorsicht zu genießen, wenn wertende Aussagen getroffen werden. Wirklich interessant sind meist die Relationen zur Gesamtbevölkerung in einem Gebiet.

So wird nun so viel Alkohol produziert und konsumiert wie nie zuvor, aber die insgesamt verbrauchte Menge ist ja nicht von Belang: Wir fragen nach dem Pro-Kopf-Verbrauch, d.h. wie sich die Gesamtmenge z.B. in Deutschland auf die 82 Millionen Einwohner (oder nur die Erwachsenen) verteilt. Möglicherweise (genaue weltweite Daten gibt es hier nicht) wird heute mehr gemordet als früher – in absoluten Zahlen. Mord war jedoch vor der Industrialisierung in Europa zehn Mal so wahrscheinlich wie heute, allen Schlagzeilen zum Trotz. Im hohen Mittelalter wurden etwa 35 Personen von 100.000 pro Jahr gewaltsam umgebracht. Aber die Einwohnerzahl betrug damals eben auch nur einen Bruchteil der heutigen. Mittlerweile ist diese Relation im Schnitt auf ein bis zwei Personen gefallen. In Deutschland kommt sogar nur ein Ermordeter im Jahr auf etwa 300.000 Einwohner. Es ist äußerst unwahrscheinlich geworden, einen gewaltsamen Tod durch Mörderhand zu sterben.

Ähnliches gilt für die extreme Armut. Sie erreichte tatsächlich ihren Höhepunkt vor gut vierzig Jahren. Aber wiederum gilt: in absoluten Zahlen, denn damals war die Weltbevölkerung auf etwa 4 Milliarden angestiegen. Die Hälfte lebte in extremer Armut – nur noch die Hälfte. Um 1800 waren es 80 bis 90 Prozent der Weltbevölkerung. Seit der Spitze Anfang der 70er Jahre geht die extreme Armut in relativen wie in absoluten Zahlen zurück. 2015 lebten nur noch 10 Prozent aller Menschen in extremer Armut, was in absoluten Zahlen aber immer noch 700 Millionen sind – mehr als zu Luthers Zeiten auf dem ganzen Planeten lebten.

„Don’t follow the headlines, follow the trend lines!“  

„Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit wurden mehr Menschen als Sklaven gehalten als heute“, behauptete Gary Haugen im vergangenen Oktober in einem Interview mit „pro“, dem „christlichen Medienmagazin“. Aus dem Satz wurde auch eine passende Überschrift formuliert. Im Dezember hieß dann der erste Satz der Einleitung dieses Interviews auf „pro“ („Haugen: Ohne Geld keine Rechte“) mit Haugen, dem Gründer und Leiter der „International Justice Mission“: „Weltweit leben heute rund 35 Millionen Menschen als Sklaven – so viele wie noch nie.“

So viele Sklaven wie noch nie. Dieser Satz ist ungeheuer weit verbreitet, gerade auch im Internet, und er ist natürlich nicht auf Haugens Mist gewachsen. ‘Alle’, so scheint es, sagen dies. In einem an sich guten Text zum Thema aus christlicher Sicht schreibt auch Bert Görzen: „Schätzungen zufolge gibt es heutzutage 27-30 Millionen Sklaven. Zu keinem einzigen Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte war die Zahl so hoch wie heute. Und diese Zahl entspricht in etwa der Gesamtzahl aller Sklaven, die während des 350jährigen atlantischen Sklavenhandels von den Europäern aus Afrika verschifft wurden.“ („Moderne Sklaverei und Menschenhandel: Eine ethische Antwort auf einen unbeachteten Skandal“, Texte zur Diskussion Nr. 22 des Instituts für Ethik&Werte, Gießen)

Wir gehen vorerst von der Richtigkeit der absoluten Zahl von etwa 30 Millionen Sklaven heute aus. Mit dem „so viele wie noch nie“ erfolgt jedoch ein klarer historischer Vergleich: früher gab es in absoluten Zahlen immer weniger. Aber woher wissen wir das? Recht gut dokumentiert ist der transatlantische Sklavenhandel, auf den sich auch Görzen bezieht und der immer wieder genannt wird. Wir haben auch halbwegs verlässliche Zahlen für die Zahl der Sklaven in den amerikanischen Kolonien und später in den unabhängigen Staaten auf dem Kontinent. Dann hört‘s langsam aber auch auf. Wie viele Sklaven im römischen Reich lebten, kann nur grob geschätzt werden: Um 100 n. Chr. vielleicht 8 Millionen, um die 10 Prozent der Bevölkerung. Da es Sklaverei aber Jahrtausende lang in so gut wie jeder Kultur und in fast jedem Land gab, ist ein Hochrechnen auf die ganze Weltbevölkerung äußerst schwierig. 200 Millionen insgesamt auf der Erde um die Zeitenwende, und vielleicht, wahrscheinlich, womöglich waren auch damals schon Zig Millionen Menschen Sklaven.

Jetzt so viel wie noch nie – ein so klares und kategorisches Urteil ist also aus historischer Sicht weitgehend wertlos, weil praktisch in keiner Weise wirklich zu belegen. Die Zahl der Sklaven verliert sich schon in der klassischen und späten Antike im Dunkeln. Wir wissen es einfach nicht. Auf diesem Nichtwissen sollte man daher auch keine falschen Schlussfolgerungen aufbauen.

Doch nehmen wir einmal an, wir hätten halbwegs verlässliche absolute Zahlen und es würde stimmen: die heutigen etwa 30 Millionen Sklaven übertreffen jeder frühere Zahl. Dann gilt allerdings das eingangs geschilderte Phänomen: Wegen der so rasant gestiegenen Weltbevölkerung sind die absoluten Zahlen wenig aussagekräftig. Wirklich interessant sind die Entwicklungslinien. Wie sagte einst Bill Clinton: „Don’t follow the headlines, follow the trend lines!“ Nicht den Schlagzeilen sei zu folgen, sondern den Entwicklungskurven. Aber gute Entwicklungen sind gute Nachrichten, und die geben leider keine guten Schlagzeilen her.

Haugen selbst sprach in einem anderen Interview von einer guten Entwicklung, einer „guten Nachricht“. Er nennt dort die „35 Millionen“, die heute in Sklaverei gehalten werden, bezieht sich auf den „Global Slavery Index“ und meint dann: „Es ist also wahr, dass ein kleinerer Teil der Menschen denn je in Sklaverei gehalten wird, und das ist eine gute Nachricht. Ein kleinerer Teil der Weltwirtschaft ruht auf der Sklaverei, das ist eine gute Nachricht.“ Zwei Sätze. So viel zur historischen Entwicklung. Direkt anschließend betont er aber wieder: „Doch in absoluten Zahlen gibt es heute mehr Menschen in Sklaverei als zu jeder anderen Zeit“.

„Ein kleinerer Teil der Menschen denn je“ – man muss schon lange im Internet suchen, um überhaupt einmal in einem Text solch eine „gute Nachricht“ zu finden. Haugen ist ehrlich genug, um sie wenigstens zu erwähnen. Wenn auch kurz dazwischen geschoben. Ansonsten ist aber festzustellen, dass man von dieser guten Nachricht kaum etwas wissen will. Dabei ist sie der große Entwicklungstrend. Heute leben nur noch 0,5 Prozent der Weltbevölkerung in Sklaverei ähnlichen Verhältnissen. Ein halbes Prozent! Geht man der Einfachheit halber davon aus, dass die Hälfte der Menschen einer bezahlten Beschäftigung nachgeht, so arbeiten 99 Prozent in relativer Freiheit und nur ein Prozent in Unfreiheit. Ein Prozent! Höchstwahrscheinlich, nein: ganz sicher so wenig wie noch nie. Man könnte also auch Schlagzeilen formulieren wie „Noch nie so wenig Sklaverei wie heute“.

„Feinde der Menschheit“

Schlagzeilen wie „Noch nie so viele Sklaven“ müssen den Eindruck erwecken, dass die allgemeine Lage so schlimm ist wie noch nie. Und das stimmt eben nicht. Liest man Egon Flaigs Weltgeschichte der Sklaverei, läuft einem hier und da ein Schauer über den Rücken, so grausig war früher das Leben für allzu viele. Andere Menschen versklaven und in Unfreiheit für sich arbeiten lassen, war historisch das Normale – und heute ist es ein Skandal. „Sklaverei hat seit Jahrtausenden existiert, fast überall, auch in ‘vorstaatlichen’ Gesellschaften, ob bei den nordamerikanischen Cherocee, den Tupinamba in Südamerika, den polynesischen Maori oder den alten Germanen; sie bestand in allen Hochkulturen.“ Doch „einem Teil der Menschheit ist es gelungen, die Sklaverei beinahe global abzuschaffen. Das ist der tiefste Bruch in der Weltgeschichte.“

Flaig, Professor für Alte Geschichte in Rostock, skizziert die antike Sklaverei wie die der Spartaner, die die Heloten als „staatliche Leibeigene“ hielten. Im Athen des 5. und 4. Jahrhunderts bildeten Sklaven um die 20% der Bevölkerung und waren aus der Wirtschaft nicht wegzudenken. Rom kam zu immer neuen Sklaven durch die zahlreichen Kriege, und hier tat sich natürlich Julius Caesar hervor: ein beträchtlicher Anteil der Bewohner des eroberten Galliens wanderte in die Sklaverei.

Mit dem Aufstieg des Islam erreichte die Sklaverei neue Dimensionen: „Als die Muslime ihr Weltreich eroberten, errichteten sie das größte und langlebigste sklavistische System der Weltgeschichte.“ Allerdings wurde die islamische Sklaverei, so Flaig, „seit dem 19. Jh. beschönigt.“ Periodische Kriege wurden vor allem auch deshalb geführt, um Sklaven zu gewinnen, „eine Politik, die den antiken Staaten völlig fremd war.“ Ein enormer Zustrom aus Sklaven war nötig, daher permanentes Kriegsführen und unablässige Angriffe auf nichtmuslimische Nachbarn. Flaig: „Hätten sich die beiden karolingischen Nachfolgereiche [Deutschland und Frankreich] und das englische Königtum nicht im 10. Jh. stabilisiert, dann hätte das westliche Europa das Schicksal Afrikas und der russischen Steppe erlitten.“

Mitteleuropa konnte sich also halten, Schwarzafrika wurde jedoch zur größten „Lieferzone“, zum „größten Sklavenlieferanten der Weltgeschichte. Es besteht seit langem Konsens in der Forschung, daß die arabischen Eroberungen das bewirkten.“ Im nördlichen Schwarzafrika bildeten sich Militärstaaten, die sich eine Kavallerie eigens für Sklavenjagden hielten (s. Illustration o.). Wer als Ungläubiger in einem Djihad in Gefangenschaft geriet, durfte versklavt werden. Aber natürlich wurden auch Muslime versklavt. Man schätzt, dass um 1800 in Westafrika 20% der Einwohner Sklaven waren. Der Tiefpunkt war in manchen Herrschaften südlich der Sahara erreicht, als Sklavenjagden als sportives Ereignis veranstaltet wurden. Flaig fasst zusammen: „Es wurden weit mehr subsaharische Afrikaner in die Kernländer des Islam verschleppt als über den Atlantik in die europäischen Kolonien, mindestens 17 Mio gegen 12 Mio.“

In den europäischen Kolonien Amerikas blühte bald die Plantagenwirtschaft auf, die von Sklavenarbeit lebte. Der transatlantische Sklavenhandel gewann zunehmend an Bedeutung. Anfangs war er fest in der Hand der Portugiesen, andere europäische Mächte traten später hinzu. Sie versklavten in Afrika meist nicht selbst, sondern mussten ihre ‘Ware’ kaufen. Es waren überwiegend Afrikaner, die Afrikaner versklavten.

Die Europäer waren also lange in die Sklaverei verwickelt. Im Norden wurde aber auch die Saat ihrer Ächtung gesät. Der „Sachsenspiegel“ von 1235 war, so Flaig, „das erste Rechtsbuch der Weltgeschichte, das die Leibeigenschaft und – a fortiori [erst recht] – die Sklaverei verwirft.“ Im Zuge der Eroberungen Amerikas entstand dann „erstmals in der Menschheitsgeschichte eine offizielle Debatte über die Legitimität der Sklaverei und des Versklavens.“ Es wurde zu einer Frage, ob es eine Todsünde sei, nichtchristliche Menschen zu versklaven. Bischof Las Casas schrieb 1552 in einem Brief, die Sklaverei der Indianer verstoße gegen die „Regeln der Menschenrechte“. „Damit war die Idee der Menschenrechte geboren“, so Flaig. Das Versklaven überhaupt wurde zu einem Verbrechen.

„Die Welt verdankt die Abschaffung der Sklaverei der europäischen Kultur“, denn nur im Westen entwickelte sich ein Abolitionismus, und zwar im „geistigen Raum der protestantischen Minoritäten“. Flaig nennt den Puritaner Richard Baxter, der Sklavenhändler als „gemeinsame Feinde der Menschheit“ bezeichnete. In Europa verschwand die Sklaverei schon weitgehend im 17. Jahrhundert. Es dauerte bekanntlich noch bis zum 19. Jahrhundert, als vor allem durch die Anstrengungen von William Wilberforce und anderer Abolitionisten der Sklavenhandel im britischen Empire untersagt wurde (1807).

Zu der Zeit gewann der Kampf gegen die Sklaverei eine ganz neue Dynamik. Flaig: „1848/49 setzte die britische Marine eine weitgehende Blockade der westafrikanischen Küste durch und erdrosselte tatsächlich den dortigen atlantischen Sklavenhandel.“ Schon in den ersten beiden Jahrzehnten des Jahrhunderts bekämpften vor allem die USA die Barbareskenstaaten in Nordafrika, die hauptsächlich von den Raubzügen der muslimischen Korsaren und der Versklavung von Europäern lebten. Wie im Atlantik, so wurde im Mittelmeer das Problem mit der Gewalt von Kanonen gelöst.

Flaig wirft damit auch ein neues Licht auf die Geschichte des Imperialismus. Verhandlungen der Briten mit der führenden islamischen Macht, dem osmanischen Reich, über die Unterbindung des Handels mit Sklaven fruchteten nicht. „Erst als sie 1882 Ägypten besetzten, gelang es, den Sklavenhandel im Nahen Osten auszutrocknen…“ Allgemein galt: „In Afrika mußte die Abolition den Eliten gewaltsam aufgezwungen werden.“ Flaig weiter: „Der britische und französische Kolonialismus in Afrika unterscheidet sich von allen anderen imperialistischen Formationen der Weltgeschichte insofern, als die politischen und militärischen Eingriffe unter der Maßgabe erfolgten, das gewaltsame Versklaven abzustellen.“

„Das gewaltsame Versklaven konnte durch koloniale Intervention und Präsenz schließlich weitgehend beseitigt werden“, und, Jürgen Osterhammel zitierend, „so führte der Hochimperialismus zumindest auf diesem Gebiet einen einheitlichen Rechtsraum herbei. Nirgendwo in den Imperien der Briten oder Niederländer, Franzosen oder Italiener war es statthaft, andere Menschen zu kaufen, zu verkaufen, zu verschenken oder ihnen ohne staatliche Beauftragung, also im Strafvollzug, schwere körperliche Grausamkeiten zuzufügen.“

Andere Formen der Schuldknechtschaft, verdeckte Zwangsarbeit ließen sich nicht so leicht ausmerzen, und natürlich griffen die Kolonialmächte selbst auf Instrumente wie Zwangsarbeit zurück. Hier ragte der belgische König Leopold II negativ heraus, der im Kongo einen generellen Arbeitszwang einführte und in dem riesigen Land, das ganz in seinem Privatbesitz war, schrecklich wüten ließ. „Belgien und Portugal verhielten sich anders, mit unheilvollem Auswirkungen auf ihre Kolonialgebiete“, so Flaig. Auf großen internationalen Druck hin wurde der Kongo 1908 in eine echte Kolonie umgewandelt und die schlimmsten Misshandlungen unterbunden.

„War der humanitäre Interventionismus ein bloßer Vorwand für imperialistische Expansion?“ Flaig antwortet mit Suzanne Miers: „Der europäische Kolonialismus unterband weitgehend die gewaltsamen Versklavungsprozesse, unterdrückte die Warlords und stabilisierte die Lebensverhältnisse; er hat Afrika nach einer 1000-jährigen Geschichte von blutiger Gewalt und Völkermorden die Möglichkeit zu neuen Wegen eröffnet. Freilich unter kolonialer Aufsicht.“ „Was wäre die Alternative zum Kolonialismus des humanitär legitimierten Intervenierens gewesen? Man hätte die autodestruktiven Prozesse der afrikanischen Gesellschaften laufen lassen. Dann wäre Afrika heute ein Sklavenlieferant in großem Maßstab. Und die Rückkehr der Sklaverei in die sklavenfreie Zone der Welt wäre überhaupt nicht aufzuhalten.“

In einem der Interviews kommt auch Haugen auf die Kolonialzeit zu sprechen: „In den Entwicklungs- und Schwellenländern sind die basalen Rechtssysteme fast vollständig zusammengebrochen… Polizei und Gerichte sind unterfinanziert, sie sind korrupt und schlecht ausgebildet. Ein Grund dafür ist, dass die Rechtssysteme in diesen Ländern meist von den Kolonialmächten installiert wurden. Sie waren aber nicht darauf angelegt, die einfachen Bürger vor Kriminalität, sondern das koloniale Regime zu schützen.“ Doch ganz so einseitig, wie er hier darstellt, waren die Rechtssysteme wohl doch nicht konstruiert. Sie schützten alle Menschen vor Versklavung, was Haugen zur Kenntnis nehmen sollte.

Kohle kontra Ketten

Die Ursachen für den weitgehenden Rückgang der Sklaverei sind sicher komplex. Der Gedanke, dass die Versklavung von Menschen aufhören muss, dass sie moralisch zu verwerfen ist, brauchte viele Jahrhunderte, um sich zu entwickeln. Der Abolitionismus begann sich im Christentum schon früh zu regen, nahm dann mit der Reformation Fahrt auf. Flaig nennt die protestantischen Minderheiten, und in etwa parallel dazu formulierten auch Katholiken abolitionistische Ideen.

Karheinz Deschner spottet in Abermals krähte der Hahn jedoch darüber, dass die Kirche über so lange Zeit die Sklaverei nicht abschaffte und oft genug den Status quo bekräftigte.  Der kämpferische Atheist meinte außerdem: „Alle sozialen Erleichterungen der Neuzeit wurden nicht durch die Kirche, sondern gegen sie geschaffen.“ So kategorisch formuliert ist dies Unsinn. Der Religionsfeind Deschner müsste außerdem nachweisen, dass Atheisten, Skeptiker usw. in stärkerem Maße für die Rechte der Sklaven kämpften. Ja, es hat viel zu lange gedauert bis auch die Christen den aktiven Einsatz gegen die Sklaverei begannen. Deschner ignoriert jedoch, dass die „europäische Kultur“, die allein den Gedanken der Abolition hervorbrachte, wesentlich christlich geprägt war. Flaig: „Nur wenn die Menschenrechte in Artikel 4 [in der Allg. Erklärung der Menschenrechte von 1948] universal gelten – für alle Kulturen ohne Ausnahme –, nur dann kann die Sklaverei überhaupt ein Verbrechen sein.“ Wo kommt der Gedanke der Menschenrechte aber her? Ist er nicht in jüdisch-christlichen Überzeugungen verwurzelt?

Es waren aber gewiss nicht nur religiöse oder weltanschauliche Gründe, die zum Rückgang der Sklaverei führten. Matt Ridley weist in The Rational Optimist auf wirtschaftliche Zusammenhänge hin (hier die dt. Ausgabe). Kapitel 7 ist dort vielsagend überschrieben „The release of slaves: energy after 1700“ (Die Freilassung der Sklaven: Energie nach 1700). Der britische Wissenschaftsautor:

„Einst mussten die Menschen alle Arbeiten selbst verrichten und zwar mit ihren eigenen Muskeln. Dann kam eine Zeit, als ein paar Leute andere Menschen dazu brachten, um die Arbeit für sie tun, und das Ergebnis waren die Pyramiden und Freizeit für ein paar wenige, Plackerei und Erschöpfung dagegen für viele. Dann gab es einen allmählichen Übergang von einer Energiequelle zu einer anderen: von Mensch zu Tier zu Wind zu fossilen Brennstoffen.“

Nun konnte die Menge der Arbeit eines einzelnen Menschen durch Tier oder Maschine immer mehr verstärkt werden. Ungeheuer bedeutsam wurde die Ausweitung der Kohleförderung: je mehr Kohle, desto mehr Maschinen konnten angetrieben werden, desto mehr körperliche menschliche Arbeit wurde ersetzt bzw. erweitert. Um 1870 schuf die in Großbritannien geförderte Kohle so viel Energie, wie 850 Millionen Arbeiter durch ihre Muskelkraft hervorbringen könnten. Die Zahl der damaligen Dampfmaschinen allein entsprach der Energieleistung von sechs Millionen Pferden oder vierzig Millionen Menschen. Und diese hätten mit Lebensmitteln versorgt werden müssen. Zwischen 1750 und 1930 stieg daher der Kohleverbrauch auf den britischen Inseln um das 68-fache.

Heute verbraucht der Durchschnittsmensch auf der Erde Energie von Tausenden Watt am Tag, könnte aber nur einen kleinen Bruchteil mit seiner körperlichen Arbeit erzielen. Oder aber 150 Sklaven wären nötig, um diese Energieleistung zu erreichen. Elektrizität und all die Maschinen und Geräte, die durch sie angetrieben werden, sind nun unsere Sklaven. Immer weniger körperliche Arbeit produziert immer mehr Produkte, und dies haben wir einer immer effektiveren Energienutzung zu verdanken. Ende des 20. Jahrhunderts wurde um die 85% der von Menschen genutzten Energie aus fossilen Brennstoffen gewonnen.

Wegen des Klimawandels ist der Ruf der Zeit: bloß weg von den fossilen Brennstoffen! Das Stichwort lautet „Dekarbonisierung“. Dies mag im Blick auf die Zukunft sinnvoll, vielleicht sogar nötig sein. Historisch gesehen gilt jedoch, dass die Kohle entscheidend mit dazu beigetragen hat, der Sklaverei die Ketten zu brechen. Denn sie machte eine viel bessere Alternative zu menschlicher Sklavenarbeit auf breiter Front möglich: Arbeit von Maschinen. Später trat das Öl hinzu. Wir lassen immer noch andere für uns arbeiten, aber nun sind es sehr häufig von Strom angetriebene unpersönliche Apparate. Dies war eine der bedeutendsten Transformationen in der Menschheitsgeschichte!

Äpfel und Birnen

Kommen wir zu einem letzten Punkt. Eine Aussage wie „Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit wurden mehr Menschen als Sklaven gehalten als heute“ setzt voraus, dass unter dem Begriff „Sklaven“ der gleiche Sachverhalt zu unterschiedlichen Zeitpunkten beschrieben wird. Aber dies ist eben alles andere als selbstverständlich. Da der Begriff so negativ aufgeladen ist, eignet er sich wunderbar, um bestimmte Arbeitsverhältnisse zu diskreditieren.

Hier ist natürlich an die Marxisten zu denken. Schon im Kommunistischen Manifest wurden Arbeiter als Sklaven bezeichnet, später Lohnarbeit ein „System der Sklaverei“ genannt. Die „Lohnsklaverei“ unterscheide sich von der gewöhnlichen Sklaverei nur durch ihre Form. Marx: „Der römische Sklave war durch Ketten, der Lohnarbeiter ist durch unsichtbare Fäden an seinen Eigentümer gebunden. Der Schein seiner Unabhängigkeit wird durch den beständigen Wechsel der individuellen Lohnherren und die juristische Fiktion (Scheinbild) des Kontraktes (des Vertrages) aufrechterhalten.“ (Kapital, Bd. I) Der Philosoph Karl Popper (1902–1994) hielt den Begriff „Lohnsklaverei“ dagegen für „gefährlich und irreführend“, weil er von der wahren Sklaverei ablenkt. Wenn alle Lohnarbeit Sklaverei ist, dann ist am Ende gar nichts mehr Sklaverei.

Meist wird heute Sklaverei natürlich nicht marxistisch definiert. Görzen zitiert Kevin Bales (Modern Slavery: A Beginner’s Guide): „Sklaverei kann […] definiert werden als Verhältnis, bei dem eine Person durch eine andere Person kontrolliert wird, und zwar mittels Gewalt, der Androhung von Gewalt oder psychologischen Drucks. Die kontrollierte Person hat keinen freien Willen und keine Bewegungsfreiheit, sie wird wirtschaftlich ausgebeutet und ihr wird nichts über ihre Grundbedürfnisse zum Überleben hinaus gezahlt.“ Hier die Definition des „Global Slavery Index“: „For the purpose of the Index, modern slavery involves one person possessing or controlling another person in such as a way as to significantly deprive that person of their individual liberty, with the intention of exploiting that person through their use, management, profit, transfer or disposal.“

Sätze wie diese sollen hier gar nicht kritisiert werden. In der einen oder anderen Form wird moderne Sklaverei auf diese Art gekennzeichnet. Nun ist aber unbedingt zu beachten, dass eben moderne Sklaverei so definiert wird. Auf die Vergangenheit angewendet, wird die Sache mitunter sehr problematisch. So fallen viele Formen der Leibeigenschaft gewiss unter die Definition von Bales. Aber sie werden in der Regel nicht als Sklaverei bezeichnet, weil die Menschen nicht versklavt und nicht als Ware gehandelt wurden. Nach der heutigen Definition gab es früher also deutlich mehr Sklaverei, ja man muss fragen: Wenn „weitgehende Kontrolle durch Gewalt“, „keine Bewegungsfreiheit“ und „nichts über die Grundbedürfnisse hinaus“ die allgemeinen Kriterien sein sollen, die auch in der Betrachtung der Geschichte gelten, waren dann nicht in manchen Ländern zu manchen Zeiten Massen von Einwohnern Sklaven?

Flaig plädiert für begriffliche Präzision: „eine sklavenähnliche Situation ist noch keine Sklaverei.“ Kennzeichen der Sklaverei sind bei ihm Entsozialisierung, Entpersönlichung – „Sklaven werden zu käuflichen und verkaufbaren ‘Dingen’“, Entsexualisierung und Entzivilisierung. Das sowjetische Gulagsystem, Vertrags-Knechtschaft, Schuldknechtschaft („die weltweit am meisten verbreitete Form von persönlicher Unfreiheit“), Kinderverkauf bzw. –arbeit, erzwungene Prostitution usw. sind für ihn natürlich Formen der mitunter krassen Unfreiheit und Gewalt, aber nicht Sklaverei. Die sieht er z.B. immer noch in Mauretanien oder dem Sudan: „Hier ist die Unfreiheit eine sozial akzeptierte Institution; und eben aus diesem Grunde ist es auch hier allein möglich, völlig legal die Opfer zu verkaufen wie eine Ware.“

Man muss Flaig in dieser Frage nicht unbedingt folgen und kann weiterhin das Bündel der Phänomene Kontrolle-Gewalt-Unfreiheit-Ausbeutung als Sklaverei bezeichnen. Es macht ja auch tatsächlich Sinn, zwischen alter und neuer Sklaverei zu unterscheiden. Nur kann man dann eben das, was für die neuen Formen persönlicher Unfreiheit gilt, nicht einfach zurück in die Vergangenheit projizieren. Kriterien von moderner und alter Sklaverei unterscheiden sich in Teilen, und dies muss bei historischen Urteilen unbedingt berücksichtigt werden. Andernfalls vergleicht man Äpfel mit Birnen. (Werden die heutigen 30 Millionen Sklaven in Beziehung zu den 12 Millionen des 400jährigen transatlantischen Sklavenhandels gesetzt, so ist die Äpfel mit Karotten vergleichen; besser man sagt, dass 30 Millionen fast die Einwohnerzahl Kanadas ist oder etwas ähnliches.)

Die Geschichte, so Flaig bildreich, ist ein „endloser Ozean der Unfreiheit“. In diesem Ozean sind viele Inseln der Freiheit entstanden – mehr als je zuvor. Genau diese gute Nachricht sollte doch motivieren, auch in Zukunft gegen den Ozean anzukämpfen, sich für jeden Menschen in Unfreiheit einzusetzen. Ich kann nicht erkennen, dass die Geschichte verzerrende Slogans dazu beitragen. Die konkrete Hoffnung auf das völlige Ende jeder Sklaverei macht nur Sinn auf dem Hintergrund, dass schon so viel erreicht wurde; dass vor allem in allen Staaten Sklaverei illegal ist. Hätte ein Wilberforce vor zweihundert Jahren davon zu träumen gewagt?