War die EU-Osterweiterung ein Fehler?

War die EU-Osterweiterung ein Fehler?

„Asterix“-Leser wissen: Sätze wie „Ganz Gallien ist von den Römern besetzt“ sind mit Vorsicht zu genießen. Verallgemeinerungen sind zwar in der Geschichte wie im politischen Journalismus ein Stück weit unvermeidlich, wenn man bestimmte Tendenzen aufzeigen will. Doch als vor einigen Tagen auf „Spiegel-online“ zu lesen war, dass Regierungen „vom Baltikum bis Bulgarien“ gegen die EU ins Feld ziehen, musste man gleich skeptisch sein. In ganz Zentraleuropa, vom Norden bis zum Süden? Nein. Ist die ganze Region von Viktor Orbans Geist durchseucht, der nun, wie es dort heißt, mit seinen Verbündeten zum Kampf gegen das liberale Europa bläst? („Streit in der EU: Orbáns Verbündete blasen zum Kampf gegen liberales Europa“) Nochmals nein. Leuchttürme der unbeugsamen Liberalität gibt es sogar wohl mehr im Osten der EU als im Westen oder gar im Süden, mehr im nördlichen Teil Zentraleuropas als sonst irgendwo auf dem Kontinent.

„Osteuropäische Spitzenpolitiker“ und ihr „Anführer“ Orban sehen die EU, so Autor Keno Verseck, „als bürokratisches Monster und hässliche, imperiale Macht, Brüssel als ‘neues Moskau’. ‘Liberal’ ist für sie eines der schlimmsten Schimpfwörter, politische Korrektheit eine heimtückische Waffe gottloser Linker und Homosexueller.“ Viele der Machthaber in Budapest und nun auch Warschau denken wohl so. Und der Genderwahn sowie die völlige Gleichstellung homosexueller Partnerschaften begeistern kaum jemanden östlich von Berlin. Allerdings sollte man nicht die falschen Schlüsse aus all dem ziehen. Jahrzehnte Moskauer Knute haben viele Politiker in der gesamten Region besonders sensibel gemacht für Bevormundung und Knechtschaft. Die meisten sehen aber durchaus den Unterschied zwischen „Moskau“ und „Brüssel“, und gerade deswegen nutzen sie die Freiheiten ja aus.

Vor allem ist aber nicht jeder Kritiker von Brüsseler Entscheidungen ein Neo-Nationalist à la Orban. Jeder wahrhaft liberal Gesinnte kann die Machtkonzentration in der EU und ihren Institutionen in mancher Hinsicht nur skeptisch sehen – ohne dabei gleich den gesamten Einigungsprozess abzulehnen. Hat die Liberalität etwa ihren Vorposten in Brüssel? Wohl kaum. Jeder echte Liberale kann aber auch die Abschottungs- und Antiglobalisierungsagenda von Orban, Le Pen und vielen anderen auf dem rechten Spektrum nur vehement ablehnen.

Liberale in Zentraleuropa

In Ungarn selbst erlebt der politische Liberalismus derzeit zweifellos eine Krise. Der „Bund Freier Demokraten“ (SZDSZ), einst eine der stärksten Parteien im Land, hat sich vor einigen Jahren aufgelöst; die neue MLP (LiBERALiSOK) ist nicht im Parlament vertreten, genauso wenig wie Lajos Bokros noch junge „Bewegung für ein modernes Ungarn“ (MoMa). Bokros, einst ungarischer Finanzminister, ist ein scharfer Kritiker der Politik Orbans; dessen Wirtschaftspolitik habe mit Liberalismus rein gar nichts zu tun. Dass Ungarn nicht gänzlich auf Orban-Linie liegt, zeigten die Wahlen zum Bürgermeister der Hauptstadt im Herbst 2014. Bokros kam auf immerhin 36 Prozent der Stimmen. Nehmen wir einmal an, ein FDP-Kandidat würde in einer deutschen Großstadt solche Ergebnisse erzielen – würde nicht gleich die Renaissance des Liberalismus ausgerufen werden?

In Litauen sind die Liberalen nach Umfragen inzwischen die zweitstärkste politische Kraft hinter den Sozialdemokraten und rangieren nun schon vor den Konservativen-Christdemokraten. Bei der Parlamentswahl im Herbst können sie mit einem Fünftel der Mandate rechnen. Es ist wahrscheinlich, dass eine Regierungsbildung ohne sie nicht möglich sein wird. Die „Liberale Bewegung“ konnte im vergangenen Jahr mit Remigijus Šimašius die Direktwahlen zum Bürgermeister der Hauptstadt Vilnius gewinnen. In Klaipėda an der Ostsee, der drittgrößten Stadt des Landes, dominieren die Liberalen traditionell und stellen nun mit Vytautas Grubliauskas ein sehr populäres Stadtoberhaupt.

In Estland ist die liberale „Estnische Reformpartei“ schon lange am Ruder. Der junge Premier Taavi Rõivas folgte dem Liberalen Andrus Ansip, der neun Jahre lang die Regierungsgeschäfte führte und nun EU-Kommissar ist. Das Land ist ein fester liberaler Vorposten im Norden Europas, stolz auf seine Modernität und Reformpolitik. All dies wird möglich gemacht durch einen recht breiten politischen Konsens: Konservative und Sozialdemokraten sind Juniorpartner der Koalition.

In Lettland stellte der „Lettische Weg“ (LC) in den letzten 25 Jahren vier Mal den Premier. Die von Expräsident Valdis Zatlers initiierte liberale „Reformpartei“ ging in der Partei „Vienotība“ (Einheit) auf. „Vienotība“ ist vergleichbar mit einer liberalen CDU in der Mitte des politischen Spektrums und brachte die letzten beiden Premierminister hervor. Über vier Jahre lang führte Valdis Dombrovskis die Regierung an, der bei Amtsantritt erst 37 war und das Kunststück fertigbrachte, Lettland mit „neoliberalen“ Maßnahmen (!) durch eine tiefe Wirtschaftskrise ab 2009 zu führen – und dann noch wiedergewählt zu werden.

In Polen macht die neue nationalkonservative Regierung der PiS viele Schlagzeilen. Über die Einschränkung der Unabhängigkeit von Verfassungsgericht und TVP, des öffentlich-rechtlichen Senders, wird auch in Litauen sehr kritisch berichtet. Und in Polen selbst alle Mal. Die liberale PO, die Bürgerplattform, hat bei der Wahl zum Sejm eine herbe Niederlage erlitten, ist aber immer noch eine Volkspartei mit Bastionen im Nordwesten. Die gerade vor der Wahl gegründete liberale Partei „Moderne“ von Ryszard Petru schaffte auf Anhieb 7,6% und gerade so den Sprung ins Parlament. Insofern lässt sich die politische Lage in Polen auch nur begrenzt mit der in Ungarn vergleichen. Die liberalen Kräfte im Land sind in Politik, Medien und Gesellschaft immer noch recht stark.

Ähnliches gilt für die Slowakei. Mikuláš Dzurinda und Finanzminster Ivan Mikloš brachten das Land nach Jahren der Stagnation in den 90ern unter Mečiar auf Reformkurs. Ihre Partei nennt sich „Slowakische Demokratische und Christliche Union – Demokratische Partei“ (SDKÚ–DS), kann aber aus westeuropäischer Perspektive durchaus als „marktradikal“ bezeichnet werden. Mikloš wie so viele andere in der ganzen Region wurden stark von den Schriften F.A. Hayeks und anderer Autoren des klassischen Liberalismus und der Österreichischen Schule der Nationalökonomie geprägt.

Derzeit haben die Sozialdemokraten die absolute Mehrheit im Parlament in Bratislawa. Das liberale Spektrum ist aber immer noch gut vertreten. „M-H“, die Partei der ungarischen Minderheit, ist hier zu nennen, die aber liberal und nicht völkisch ausgerichtet ist. Und es muss natürlich „Freiheit und Solidarität“ (SaS) von Richard Sulík erwähnt werden. Sulík lebte viele Jahre in Deutschland und vertritt eine liberale oder genauer: libertäre Politik und ist daher auch sehr skeptisch gegenüber dem Euro.

Wo ist das liberale Europa?

Verseck hat darin recht, dass in den Ländern hier und da auf Liberalität geschimpft wird. Allerdings muss man immer genauer hinsehen, was mit dem Begriff gemeint ist. In Litauen reden tatsächlich auch manche hochrangigen Mitglieder der „Heimatunion-Konservative“ schon mal verächtlich über die „Liberasten“ (Mix von „Liberale“ und „Päderasten“, eines der volkstümlichen Schimpfwörter für Homosexuelle). Das ist gemünzt auf die Schwächung von Ehe und Familie, die eben gerade aus dem ‘liberalen’ Westen hereinweht. Das hindert die Partei aber nicht, mit den Liberalen des Landes eng zusammenzuarbeiten und eine liberale Wirtschaftspolitik zu vertreten.

Es gibt also teilweise sehr starke liberale Parteien in der Region, wobei sie den Begriff „liberal“ oft etwas anders füllen als die politischen Gruppierungen in Westeuropa. Gerade aus deutscher Perspektive sind die meisten eher liberal-konservativ, manche „wertkonservativ“; nicht selten werden Margaret Thatcher und Ronald Reagan oder die britischen Torys als Vorbilder gesehen. Wohl nur hier in Europa gibt es hohe Verantwortungsträger, die sich wohl eher als „Libertäre“ bezeichnen würden. Der Liberalismus im Westen ist dagegen weitgehend sozialdemokratisiert.

Wenn Verseck also den Eindruck erweckt, dass viele regierende Osteuropäer antiliberal sind, dann muss zurückgefragt werden: Wo in Europa haben liberale Parteien solch eine Bedeutung wie im Norden der Mitte des Kontinents? Wo ist denn der liberale Einfluss in Westeuropa? In Deutschland ist keine liberale Partei mehr im Bundestag vertreten. Wo ist der politische Liberalismus im postkommunistischen Gebiet Deutschlands, in den neuen Bundesländern? Fallen jemandem liberale Parteien in Italien, Frankreich oder Griechenland ein? Man muss schon lange überlegen und kommt dann auf die Schweiz, die aber nicht der EU angehört, und Belgien und die Niederlande. Nur in diesen beiden Ländern gab es in den letzten Jahrzehnten liberale Regierungschefs (derzeit Mark Rutte in den Niederlanden, dessen ‘rechtsliberale’ VVD eine Große Koalition anführt). Und möglicherweise werden die „Ciudadanos“ (Staatsbürger) von Albert Rivera in Spanien zu einer wichtigen liberalen Kraft in dem Land werden. Aber das muss die Zukunft erst erweisen.

Natürlich muss eingestanden werden, dass in vielen zentraleuropäischen Staaten auch Parteien in Parlamenten sitzen, die gerne EU-kritische oder gar nationalistische Töne anschlagen. In Litauen ist die Partei „Ordnung und Gerechtigkeit“ (TT) des Expräsidenten Rolandas Paksas sogar an der Regierung beteiligt. Die rechtspopulistische Partei hat das „Liberaldemokraten“ zum Glück schon eine ganze Weile aus dem Parteinamen gestrichen. Ihr Stern ist am Sinken, und möglicherweise werden sie bei den kommenden Wahlen die Hürde in den Seimas nicht nehmen. Dass sie keinerlei ideologisches Rückgrat hat, zeigt die Tatsache, dass der langjährige Vizevorsitzende Valentinas Mazuronis zur linkspopulistischen „Arbeitspartei“ überlief und dort direkt zum Vorsitzenden gewählt wurde. Im nördlichen Nachbarland ist die „Nationale Vereinigung Alles für Lettland – Für Vaterland und Freiheit“ ebenfalls an der Regierung beteiligt – und auch sie bedient wohl eher rhetorisch das rechte Wählerspektrum und stört nicht die europafreundliche Politik.

Nationalistische, national-konservative, manchmal sogar ausländerfeindliche Parteien gibt es fast in allen europäischen Parlamenten. Deutschland ist hier eher eine Ausnahme. Selbst in den nun wahrlich liberalen Niederlanden tolerierte Geert Wilders „Partei für die Freiheit“ eine ganze Weile die Regierung. Rechtsaußen-Parteien bzw. rechtspopulistische Parteien in Frankreich und Großbritannien, Österreich und Griechenland, Finnland und Schweden, und das mit teilweise zweistelligen Wahlergebnissen – aber kaum kommen solche Parteien einmal in Zentraleuropa an die Macht, rutscht die ganze Region auf die Anklagebank.

Gewiss machen gerade die jüngsten Beschlüsse des polnischen Parlaments Sorgen. Aber dies darf nicht über einen der großen Erfolge der letzten 25 Jahre hinweg täuschen: In Zentraleuropa entstanden in so gut wie allen Ländern staatstragende demokratische Parteien; so gut wie reibungslos finden demokratische Wahlen und unblutige Regierungswechsel statt. Blickt man weiter gen Osten, so ist augenfällig, dass diese Entwicklung alles andere als selbstverständlich ist. Liberale, ja demokratische Parteien in Russland? Dort entstehen Parteien von oben, auf Geheiß Putins.

In Zentraleuropa ruht der politische Prozess schon in starkem Maße auf der Willensbildung der Bürger, reift also von unten heran. „Wir müssen die polnische Zivilgesellschaft stärken, bevor sie die Köpfe hängen lässt und ihren Widerstand aufgibt“, so kürzlich die ehemalige EU-Kommissarin Viviane Reding zu den aktuellen Ereignissen. Um die polnische Zivilgesellschaft braucht sich die Britin jedoch keine großen Sorgen zu machen. Die ist stark genug, um mit den neuen Herausforderungen fertig zu werden.

„Nicht dauerhaft überlebensfähig“?

Leider blicken viele im Westen wie auch Reding mit einer gewissen Arroganz und in Oberlehrermanier auf Zentraleuropa herab. Offensichtlich weiß man alles ganz genau. „In den Gesellschaften der meisten osteuropäischen EU-Länder hat sich Europafrust breit gemacht“, so Verseck. Europafrust? Sicher, eine gewisse Ernüchterung ist eingekehrt – wie auch in den neuen Bundesländern, als die „blühenden Landschaften“ etwas auf sich warten ließen. 2004 war auch in Litauen die Stimmung sehr gut, und nun ist sie vielleicht nicht mehr ganz so gut. Aber Frust? Welche Umfragen sollten diesen Trend für die „meisten“ Länder belegen?

Richtig grässlich wird es beim Thema Wirtschaft: „Kaum ein Land der Region fand bisher aus der tiefen Transformationskrise wirklich heraus. Die Wirtschaften der osteuropäischen EU-Länder sind wenig konkurrenz- und allein aus sich heraus nicht dauerhaft überlebensfähig, sondern auf Finanztransfers aus Brüssel oder von ihren Gastarbeitern im westeuropäischen Ausland angewiesen. Überall aus der Region wandern Fachkräfte ab, Staatsapparate und öffentliche Dienste sind aufgebläht.“

Noch einmal: Es gehört zu den großen Erfolgen der letzten Jahrzehnte, dass die große Mehrheit der Länder Zentraleuropas den ungeheuer herausfordernden Übergang von Kommunismus und Planwirtschaft zum demokratischen Kapitalismus so gut geschafft hat. Innerhalb einer Generation! Ohne Hunderte Milliarden Transferleistungen! Gerade in den ehemaligen Sowjetrepubliken im Baltikum kann man nur staunen: Was für eine Transformation! Dass Orban hier gleichsam als böser Junge aus dem Glied tanzt, zeigt doch nur, wie erfolgreich man sonst war.

Versecks Aussagen zur Wirtschaft sind leider kaum ernst zu nehmen. Die meisten der Länder, abgesehen vom recht großen Polen, haben nur überschaubare Binnenmärkte und sind daher exportorientiert. Wären die Firmen in Litauen, Estland, Lettland, der Slowakei usw. tatsächlich „wenig konkurrenzfähig“ – ja was dann? Warum wächst die Wirtschaft dort so kräftig? Warum exportieren sie dann so fleißig in alle Richtungen? Weil irgendjemand Käufer zwingt, ihre mangelhaften Produkte abzunehmen? Natürlich helfen die EU-Mittel, aber diese sind vor allem im Verkehrs- und Infrastrukturbereich direkt nützlich. Subventionen aus Brüssel gibt es nur für die Landwirtschaft. Viele Firmen, gerade im Baltikum, zeigen sich vielmehr äußerst flexibel, kreativ und innovativ. Bricht der russische Markt weg, orientiert man sich eben neu. Die Wirtschaft der Region ist oftmals dynamischer als im Westen, wo Subventionen viele Märkte verzerrt haben. – Eine Wirtschaft, die „allein aus sich heraus nicht dauerhaft überlebensfähig“ sei? Solch einen Unsinn habe ich lange nicht gelesen.

„Gastarbeiter im westeuropäischen Ausland“ – wenn Deutsche in großem Umfang in der Schweiz Jobs annehmen, gilt das als völlig normal. Wenn Hunderttausende Litauer und Millionen Polen auf den britischen Inseln arbeiten, dann hat das den Geruch des Unsoliden. Diese Länder wissen selbst um die Probleme der Arbeitsemigration und diskutieren sie fleißig. Alles hat seine Vor- und Nachteile. In einem freien europäischen Arbeitsmarkt mit dem Lohngefälle, das derzeit noch existiert, ist so eine Entwicklung auch in gewisser Weise unvermeidlich. Verantwortliche in Zentraleuropa wissen, dass die Rückkehr der Emigranten angestrebt werden muss, und tatsächlich investieren schon viele ihr in London und anderswo verdientes Geld in Unternehmen in der Heimat. Es besteht dabei weitgehend Einigkeit: Je liberaler und unbürokratischer Firmengründungen usw. sind, desto besser kann die Emigration bewältigt werden. Deshalb rangieren ja auch manche Länder der Region im „Doing Business“-Index deutlich vor Deutschland; deshalb tendiert man eben zu einer liberalen Wirtschaftspolitik. Aber das handelt einem Kommentare wie von Verseck ein: Die „neoliberalen Wirtschaftskonzepte“ hätten „verbreitete und anhaltende Armut hinterlassen“. Ja ja, die Armut ist in den Ländern tatsächlich noch größer als z.B. in Griechenland. Doch die zentraleuropäischen Staaten sitzen an ihren Reformhausaufgaben und erwarten keinen Geldregen aus Brüssel. Sie haben trotz solcher Kommentare gewaltig aufgeholt und das Wohlstandsgefälle zum Westen Europas verringert.

Die vielgescholtenen „neoliberalen Wirtschaftskonzepte“ – es ist diese Liberalität, die vielen in Westeuropa nicht schmeckt. Wirtschaftsjournalist Wolfgang Münchau schreibt in seiner Kolumne vom 8.01. auf „Spiegel-online“: „In Westeuropa dominieren normalerweise zwei Volksparteien – eine Mitte-links, die andere Mitte-rechts. In mehreren osteuropäischen Ländern – wie jetzt in Polen oder Ungarn –, besteht der Wettbewerb zwischen rechts und ganz rechts.“ Oh Graus! Wo ist unsere geliebte Linke?! Man könnte dies auch anders formulieren: In Westeuropa dominieren sozialdemokratisch und wohlfahrtsstaatlich orientierte Parteien, mit einem guten Schuss Linksliberalismus in kulturellen und gesellschaftspolitischen Fragen – und so ein Parteienspektrum gibt es tatsächlich längst nicht überall in Zentraleuropa. In Polen ist die vereinigte linke Liste im vergangenen Jahr nicht ins Parlament gekommen, so dass tatsächlich vor allem nur liberale Parteien in der Opposition sind. Müssen die sich aber als „rechts“ abstempeln lassen? Was ist so schlimm an dieser Konstellation? Was ist am Wettbewerb zwischen „sozialdemokratisch“ und „pur-sozialdemokratisch“ und „radikal-sozialdemokratisch“ besser? Außerdem sind in Ungarn die Sozialisten (MSZP) immer noch die Widersacher der „Fidesz“ im Parlament, haben deutlich mehr Sitze als die Rechtsradikalen von „Jobbik“. – Zum Glück kann niemand Ländern Vorschriften machen, wie sich Mehrheitsverhältnisse „normalerweise“ zu entwickeln haben.

Ähnlich wie Verneck schreibt Münchau: „Osteuropas neue Rechte hassen die liberalen Länder des Westens.“ Zu Polen und Ungarn: „Ihre Regierungen haben die Unabhängigkeit von Justiz, Presse und sogar der Zentralbanken erheblich eingeschränkt. Was dort geschieht, ist mit den demokratischen Grundsätzen der EU eindeutig nicht vereinbar.“ Das stimmt. Doch die liberalen, freiheitlichen und rechtsstaatlichen Grundsätze sind nicht nur im Osten umkämpft; sie müssen überall in Europa verteidigt werden. Unter dem Medienzar Berlusconi stand es um die Meinungsvielfalt im italienischen Fernsehen auch nicht gut; Sarkorzy versuchte als Präsident ihm genehme Kandidaten auf Chefredakteursposten zu hieven. Die Liste ließe sich fortsetzen. Rechtsbruch schleicht sich bekanntlich auch in den europäischen Institutionen ein. Mit diesem Wissen im Hinterkopf sollte die Kritik an den Vorgängen in Warschau und Budapest selbstkritisch und ausgewogener ausfallen.

Münchau setzt aber noch einen drauf: „Ich selbst halte die EU-Osterweiterungen im Nachhinein für einen großen Fehler. Man hat sich Länder in die EU geholt, die sich keinen Deut für die europäische Integration interessieren.“ Der Beitrag ist daher auch überschrieben „Fehler der EU-Osterweiterung“. Das ist schon ein starkes Stück. Langsam muss man sich ja schon an die These gewöhnen, die Nato-Osterweiterung sei ein Fehler gewesen. Und nun auch noch dies: ein großer Fehler! Wieder wird mit doppeltem Maß gemessen: Wählen sich die Italiener mehrfach einen Spinner zum Premier, wird das vielleicht unter „la dolce vita“ abgebucht. Saugen die Griechen die europäischen Freunde skrupellos aus, erwägt man einen Grexit, aber behauptet jemand, die Aufnahme Griechenlands in die EG 1981 sei ein Fehler gewesen?

Welche Länder hätten denn „keinen Deut“ Interesse „für die europäische Integration“? Vielleicht sagt Münchau solche Sätze mal den baltischen Regierungschefs ins Gesicht? Oder einem Donald Tusk: Eigentlich sollten Sie hier nun diesen Job in Brüssel nicht bekleiden – dummer Fehler, das mit den Polen und alle denen da im Osten… Die Zentraleuropäer mussten einen nicht einfach Reformkatalog vor der EU-Aufnahme abarbeiten und so manchen Verzicht leisten. Die Integrationsarbeit ist schon in vielen Bereichen geleistet und war für diese Staaten wahrlich nicht immer einfach. Die heimischen Wirtschaften setzte man mutig der westeuropäischen Konkurrenz aus, ging nicht den Weg der Abschottung und Autarkie. Dies war den Bevölkerungen nicht immer leicht zu erklären. Die politische Führung der Länder bewies recht viel Weitsicht und Mut – und wird nun mit solchen pauschalen Urteilen abgewatscht. Einfach nur peinlich. Und eines Wirtschaftsjournalisten nicht würdig. Schließlich muss er wissen, dass Westeuropas Wirtschaft von der Osterweiterung gleich mehrfach deutlich profitierte: ein erweiterter Binnenmarkt mit noch ungesättigten Märkten; ein Reservoir von qualifizierten, mobilen und recht billigen Arbeitskräften – darüber hinaus aus verwandten Kulturen und integrationsbereit. Refugees welcome – aber die Zentraleuropäer wären wohl besser draußen geblieben?

Die Osterweiterung war und ist ein großer Erfolg – für ganz Europa. Wo wären wir denn heute ohne sie?? Es gäbe dann in einem zentraleuropäischen Vakuum noch viel mehr Typen wie Orban. Die Krake Putin würde ihre Arme bis in die Mitte Europas vorschieben. Und es gäbe kaum eine Möglichkeit der Einflussnahme auf die Politik in diesen Staaten wie jetzt. Sicher, je größer die Familie wird, desto mehr wächst die Wahrscheinlichkeit, dass es schon mal zu Reibereien kommt. Und tatsächlich zeigen die Zentraleuropäer allgemein nun mehr Selbstbewusstsein als früher. Zu recht. Viel wurde geleistet, viel wurde reformiert, so dass sich Italiener, Franzosen, Belgier – und selbst Deutsche ganz zu schweigen von den Griechen – davon so manche Scheibe abschneiden können. Sie sind kulturell eher konservativ geprägt, aber wirtschaftlich liberal und bereichern so die politische Landschaft der EU. Für Osteuropa – vor allem für die Ukraine, Moldawien und Georgien – sind sie Leuchttürme der Freiheit, Vorbilder, Magneten, Beispiele. Man unterschätze nicht die Signale der Hoffnung, die von Zentraleuropa gerade für die Ukraine ausgehen! Und auch Kaczynski mit seinem Marionetten wird sich nicht ewig halten, genauso wenig Orban, wenn er die ungarische Wirtschaft erfolgreich ruiniert haben wird.