Die älteste evangelische Kirche Litauens

Die älteste evangelische Kirche Litauens

Im Deutschen Reich bestimmten während der Reformationszeit die Fürsten der zahlreichen Territorien den Glauben ihrer Untertanten. Im Großfürstentum Litauen und in Polen traten die Herrscher aus dem Geschlecht der Jagellionen nicht zur evangelischen Konfession über – trotz mancher Bemühungen der Reformatoren wie selbst Calvin. Träger der Reformation war in Litauen vielmehr der Landadel, die „Szlachta“, lituanisiert die „šlėkta“, deren Angehörige meist „bajorai“ genannt werden. Am einflussreichsten wurde das Geschlecht der Radziwill (später künstlich lituanisiert Radvila), auf deren Gebiet in Kėdainiai und vor allem im Raum Biržai in Nordlitauen sich der evangelische Glaube am längsten hielt.

In Niederlitauen oder der Zemaitija spielten die Gruževskis eine wichtige Rolle (poln. Gruzewski oder Grużewscy). 1591 erhielt Jonas Gruževskis, der aus der Gegend von Lomža in Masowien (Nordpolen) stammte, den Gutshof von Kielmy, heute Kelmė. Seine Familie hatte sich der Reformation angeschlossen, und so gründete er 1596 eine evangelisch-reformierte Gemeinde am Ort. Ein paar Jahrzehnte später stiftete sein Sohn Jurgis eine Kirche, deren Grundstein wohl 1615 gelegt wurde; 1622 wurde der Kirchenbau abgeschlossen.

Kelme 1

Im 17. Jahrhundert war Kelmė Zentrum der Reformierten in ganz Niederlitauen, Sitz des Senjorats im Bezirk. Wie so viele Adelsgeschlechter kehrten auch die Gruževskis später wieder zur katholischen Kirche zurück. Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Neubau des Gutes im barocken Stil errichtet. Vor einigen Jahren restaurierte man das Hauptgebäude, nach und nach auch die Nebengebäude. Der Gutshof beherbergt heute das historische Museum des Landkreises.

Obwohl Kelmė zu einem mehrheitlich katholischen Ort wurde (heute dominiert die Anfang des 20. Jahrhunderts im neugotischen Stil erbaute katholische Kirche die Silhouette des Ortes), hielt sich die protestantische Gemeinde am Ort. Auch Lutheraner, meist Deutsche, siedelten sich an. Sie wurden aufgrund des Abkommens von Sandomir zwischen Lutheranern und Reformierten vom reformierten Geistlichen mitbetreut. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wirkte im Städtchen über mehrere Jahrzehnte hinweg Konstantinas Kurnatauskas. Ab 1925 war er Professor an der evangelischen Fakultät der Universität in Kaunas, ab 1938 Generalsuperintendent der Kirche.

In der Kirche von Kelmė spendete er den Lutheranern Oblaten und seinen Reformierten Brot. Die Lutheraner konnten sogar einen eigenen Altar im Kirchenschiff einrichten. Auch in sprachlicher Hinsicht zeigte man sich damals flexibel: Vor dem Krieg wurde Gottesdienste in Litauisch, Deutsch und Polnisch angeboten – diese Dreisprachigkeit war wohl einmalig in Litauen.

Kurnatauskas floh wie so viele Pfarrer 1941 gen Westen und starb 1966 in Westdeutschland bei Oldenburg. Krieg und Sowjetzeit brachten auch in Kelmė eine scharfe Zäsur mit sich. Das Kirchengebäude überstand die Zeit des Atheismus recht gut, aber nur wenige Gläubige waren am Ort geblieben. Anfang der 90er Jahre wurde das Gebäude der lutherischen Kirche zur Nutzung übergeben, da es so gut wie gar keine Reformierten mehr gab. Seitdem wird die Gemeinde vom Pfarrer aus Šiauliai mitbetreut, der dort einmal im Monat einen Gottesdienst abhält. Seit ein paar Jahren besteht auch wieder eine rechtlich eigenständige reformierte Gemeinde.

Die Kirche in Kelmė ist die älteste evangelische Kirche im ganzen Land, die auch heute noch von einer protestantische Konfession genutzt wird! Manche Pfarreien sind älter wie die in Vilnius, doch die meisten evangelischen Kirchenbauten selbst stammen frühestens aus dem 18., dann meist aus 19. Jahrhundert (die reformierte Kirche in Kėdainiai wurde Mitte um 1650 gebaut). Noch älter ist wohl nur die Kirche von Siesikai im Kreis Ukmergė, doch sie wurde schon während der Gegenreformation wieder von den Katholiken übernommen.

Am 13. Juni fand in der Kirche von Kelmė das alljährliche Sängerfest der lutherischen und reformierten Gemeinden des ganzen Landes statt. Zahlreiche Chöre der beiden evangelischen Kirchen nahmen teil. Gleichzeitig beging man die 400-Jahr-Feier der Kirche. Anwesend waren der Bischof Sabutis und weitere Geistliche der lutherischen Kirche wie Romas Pukys aus Šiauliai, Die reformierte Kirche vertrat Pfr. Raimondas Stankevičius aus Vilnius. An diesem Tag war die alte Kirche gut gefüllt. Doch ohne einen vor Ort wohnenden Hirten der Evangelischen sind die Aussichten für die wenigen Protestanten eher trübe.

(Fotos: D. Gudliauskienė; Bild o.: Kelmė zu Beginn des 20. Jhdts.)

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Chöre in der Kirche am 13. Juni

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Gang zur Kirche in Kelmė

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V.l.n.r.: Pfarrer Romas Pukys, Juozas Mišeikis, Raimondas Stankevičius und Bischof Mindaugas Sabutis