Der Christ und das Gesetz

Der Christ und das Gesetz

Das Gesetz hat heute auch unter Christen ein Imageproblem. Es wird allgemein kaum als etwas Positives gesehen; vielmehr ganz ein Ausdruck von Macht und Kontrolle. Es steht im Gegensatz zu Liebe, Freiheit und der Beziehung mit Gott. In Die Hütte drängt sich das Gesetz in die Beziehung zwischen Mack und Gott; man müsse daher übergehen „vom Gesetz zur Gnade“. Kaum einer stößt sich an solchen Formulierungen, denn das allgemeine geistliche Klima ist dem Gesetz Gottes wahrlich nicht wohlgesonnen. Immer ist schnell von Gesetzlichkeit die Rede, dazu gegen Ende mehr. Gerade das Verhältnis des Gesetzes zu Gnade, Evangelium und Liebe muss klar durchdacht werden. Im Folgenden skizziere ich die christliche Haltung zum Gesetz in fünf Punkten.

Gnade und Gesetz

Gnade Gottes ist ganz allgemein seine souverän zugeteilte Gunst, und zwar denen, die dies nicht verdient haben. Gottes Gesetz ist sein offenbarter moralischer Wille, alle Gebote, zusammengefasst im Dekalog (dies ist vereinfachend formuliert, denn „Gesetz“ wird in der Bibel in unterschiedlicher Weise gebraucht und umfasst teilweise mehr als das eben Genannte). Gnade ist vor allem ein Geschenk, und Gnade ist der einzige Weg, um zur Erlösung zu gelangen. Eph 2,8–9: „Durch Gottes Gnade seid ihr gerettet, und zwar aufgrund des Glaubens. Ihr verdankt eure Rettung also nicht euch selbst; nein, sie ist Gottes Geschenk.“ (s. auch Röm 3,24; 4,4–5; 11,6.) Der Apostel stellt hier der Gnade die Werke gegenüber, und genau das in der große Gegensatz im Hinblick auf die Errettung wie er auch in Röm 3,20 ausgedrückt wird: „Denn auch durch das Befolgen von Gesetzesvorschriften steht kein Mensch vor Gott gerecht da.“

Huntemann zu diesem Vers: „Diese Tatsache, dass kein Mensch durch die Werke des Gesetzes vor Gott bestehen kann, bedeutet aber keineswegs, dass die Inhalte dieses Gesetzes aus eben dem Grunde abgeschafft worden wären. Das Gesetz Gottes wurde nicht abgeschafft, weil der Mensch es nicht erfüllen kann, so dass Gott ihm auf einem niedrigeren, angenehmeren Niveau entgegenkäme.“ (Biblisches Ethos im Zeitalter der Moralrevolution)

Erlösung ist ganz aus Gnaden – diesen Kern des christlichen Glaubens betonten die Reformatoren wieder neu. Im lutherischen Augsburger Bekenntnis (1530) heißt es, „dass wir Vergebung der Sünde und Gerechtigkeit vor Gott nicht erlangen durch unser Verdienst, Werk und Genugtun, sondern dass wir Vergebung der Sünde bekommen und vor Gott gerecht werden aus Gnaden, um Christi willen, durch den Glauben, wenn wir glauben, dass Christus für uns gelitten habe…“ (4)

Die große Antithese besteht also zwischen der Errettung allein aus Gnaden und dem Versuch, durch Werke des Gesetzes zum Heil zu gelangen. Wenn Paulus im Galaterbrief vor dem Gesetz warnt, dann meint er genau dies: das Gesetz darf nicht als Weg zum Heil gebraucht werden. Der große Gegensatz beseht zwischen der Kraft der Gnade (sie schafft Heil) und der Kraft des Gesetzes (es schafft dies eben nicht).

Der reformierte Theologe Benjamin B. Warfield (1851–1921) unterstrich daher in The Plan of Salvation, dass es eigentlich nur zwei Religionen auf der Welt gibt: eine Religion, die auf die Gnade Gottes vertraut, und die Religion der Selbsterlösung, die auf die eigenen Werke setzt.

Das Problem ist jedoch, dass nach dem Sündenfall die Religion der Werke gleichsam der natürliche geistliche Zustand des Menschen ist. Von Natur aus missbrauchen wir das Gesetz Gottes, weswegen Thomas K. Johnson von der „falschen Standardinterpretation“ des Gesetzes Gottes spricht, deren Grundsatz er so umschreibt: wir können Gottes Gesetz dazu benutzen, Gottes Gnade zu erlangen, so dass er uns annimmt wegen unseres Gehorsams. Selbst für Christen besteht ständig die Versuchung, sich auf die eigenen Werke zu verlassen. Daher ist diese Standardinterpretation nicht nur in der „Welt“ oder anderen Religionen anzutreffen, sondern auch in den Kirchen.

Die Gnade steht also diametral unserem Missbrauch des Gesetzes gegenüber, nicht aber dem Gesetz selbst. Wie sollte es auch? Das Gesetz spiegelt Gott genauso wieder wie die Gnade.

Das Gesetz ist nicht der Weg zum ewigen Heil – und war es (nach dem Sündenfall) nie. Zum Heil gibt es keine zwei Wege: im AT durch die Werke des Gesetzes, im NT durch die Gnade. Schon im AT gehen Gnade und Glaube dem Gehorsam und dem Gesetz voran. Es ist z.B. zu beachten, dass das mosaische Gesetz im Kontext der gnädigen Befreiung (also Erlösung) aus der Knechtschaft in Ägypten gegeben wurde (Ex 20, 2). Ex 19,5 wird Gehorsam verlangt, jedoch nicht als Weg zum Heil. Schon das AT betonte, dass der Glaubende zum Gehorsam berufen ist. So wird der schon glaubende Abraham (Gen 15,6) aufgefordert: „Geh deinen Weg vor mir und sei rechtschaffen“ (Gen 17,1). Dies unterstreicht auch das NT (Joh 14,21; 1 Joh 5,3).

Heißt es aber nicht z.B. in Lev 18,5: „Wer meine Gebote und Weisungen befolgt, bewahrt sein Leben“? Wird dem Gehorsamen im AT nicht das Leben versprochen? Es stimmt: Wer das Gesetz vollkommen hält, der würde auch nun und in Ewigkeit in vollkommener Gemeinschaft mit Gott leben. Doch schon das AT lässt keinen Zweifel daran, dass niemand das Gesetz vollkommen befolgt. Ps 143,2: „vor dir ist kein Lebendiger gerecht“ (s. auch 1 Kön 8,46). Es gilt zwar: „die das Gesetz tun, werden gerecht sein“ (Röm 2,13), doch „da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer“ (Röm 3,10; Zitat aus Hiob 4,17).

Nach dem Sündenfall führt das Gesetz den Menschen nicht zum ewigen Leben. Da es aber das vollkommene Gesetz Gottes ist, der die Fülle des Lebens und das Leben schlechthin ist, besteht doch eine Verbindung zum Leben. Denn allgemein gilt für jeden Menschen, ob er nun zum ewigen Heil findet oder nicht: Wer im Rahmen des göttlichen Gesetzes lebt, der tut seinem Leben etwas Gutes, denn Gottes Gesetz ist auf der Seite des Lebens, gut fürs Leben, passend zum menschlichen Leben. So ist auch dem Volk Israel ein gesegnetes Leben im Land Kanaan versprochen, wenn es sich an die Gebote des Mose-Bundes hält. So soll man Vater und Mutter auch deshalb ehren, „auf dass du lange lebest und dir’s wohlergehe in dem Lande…“ (Dt 5,16; s. auch 4,1) Hier geht es nicht um das ewige Leben, sondern um ein gesegnetes Leben in dieser Welt.

Außerdem wird oft eingewandt, dass Christen doch vom Gesetz befreit sind. In Röm 7,6 heißt es ja eindeutig, dass „wir vom Gesetz frei geworden“ sind; wir sind nicht mehr „unter dem Gesetz“ (Gal 4,21). Tatsächlich werden wir von Paulus ausdrücklich vor dem Joch des Gesetzes gewarnt wie in Gal 5,1: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ Doch ein genaueres Hinsehen bekräftigt nur das oben schon Gesagte. Durch den Glauben und nur durch ihn allein wird man Kind Gottes (Gal 3,26). Dadurch verändert sich der Status des Menschen auch im Hinblick auf das Gesetz. Es kann den Gläubigen nicht mehr verdammen; er ist befreit vom Fluch des Gesetzes (Gal 3,13). Der Christ steht nicht mehr unter der verdammenden Herrschaft des Gesetzes und der Sünde (Röm 6,14). Er ist aber nicht vom Befolgen der Gebote befreit. Luther in einer Predigt im Jahr 1532: „Christus hat uns vom Fluch, nicht vom Gehorsam des Gesetzes befreit“. Er hat uns nur von dem Versuch befreit, durch das Befolgen des Gesetzes vor Gott gerecht werden zu wollen wie Gal 5,4 bekräftigt: „Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen.“

Das Gesetz ist gut und vollkommen. Die Frage ist, wofür wir es benutzen und aus welcher Motivation heraus wir handeln. Die „Werke des Gesetzes“ (Gal 2,16; 3,2.10; Röm 3,20.28) sind in der Sache dieselben wie die „Werke des Glaubens“ (1 Thess 1,3; 2 Thess 1,11). Doch mit den ersten meint Paulus die guten Taten, mit denen wir uns die Gnade verdienen wollen. Die Werke des Glaubens sind dagegen die Taten, die eben aus Glauben entspringen und aus Dankbarkeit Gott gegenüber in der Kraft des Hl. Geistes getan werden.

Evangelium und Gesetz

Rettung aus Gnaden und durch Werke des Gesetzes bilden einen scharfen Gegensatz. Gesetz und Evangelium sind ebenfalls zu unterscheiden, aber sie bilden ein echtes Paar. In diesem Zusammenhang ist das Gesetz eindeutig nicht zu verwerfen, darf nur nicht mit dem Evangelium vermischt werden.

Diese Unterscheidung wird besonders von der lutherischen Tradition hervorgehoben. Luther nannte dies die „höchste Kunst des Christen“. Schon 1520 hat Luther in Von der Freiheit eines Christenmenschen diese Unterscheidung sehr gut formuliert:

„Hier ist fleißig zu merken und ja mit Ernst zu behalten, dass allein der Glaube ohne alle Werke fromm, frei und selig machet.., und ist zu wissen, dass die ganze Heilige Schrift wird in zweierlei Worte geteilet, welche sind: Gebote oder Gesetze Gottes und Verheißungen oder Zusagen. Die Gebote lehren und schreiben uns vor mancherlei gute Werke, aber damit sind sie noch nicht geschehen. Sie weisen wohl, sie helfen aber nicht, lehren, was man tun soll, geben aber keine Stärke dazu. Darum sind sie nur dazu geordnet, dass der Mensch darinnen sehe sein Unvermögen zu dem Guten und lerne an sich selbst verzweifeln… Wenn nun der Mensch aus den Geboten sein Unvermögen gelernet und empfunden hat, so dass ihm nun Angst wird, wie er dem Gebot Genüge tue, sintemal das Gebot muss erfüllet sein oder er muss verdammt sein, so ist er recht gedemütigt und zunichte geworden in seinen Augen, findet nichts in sich, damit er könne fromm werden. Dann kommt das andere Wort, die göttliche Verheißung und Zusagung, und spricht: „Willst du alle Gebote erfüllen, deine böse Begierde und Sünde los werden, wie die Gebote zwingen und fordern, siehe da, glaube an Christum, in welchem ich dir zusage alle Gnade, Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit; glaubst du, so hast du, glaubst du nicht, so hast du nicht… Also geben die Zusagungen Gottes, was die Gebote erfordern, und vollbringen, was die Gebote heißen, auf dass es alles Gottes eigen sei, Gebot und Erfüllung. Er heißet allein, er erfüllet auch allein.“

Luther spricht hier (wie später auch Calvin) von den „zwei[erlei] Wörtern“ Gottes und meint damit die zwei Arten der Rede Gottes. Denn im Gesetz redet Gott als im Evangelium. Das Gesetz ist gebietendes, forderndes Wort, denn es drückt Gottes moralischen Willen aus (Lk 10,28; Gal 3,10). Das Evangelium zeigt die Erfüllung dieser Forderung in Christus, ist daher befreiendes Wort (Joh 19,30; Gal 5,1). Das Gesetz sagt: „tu dies“, das Evangelium antwortet: „dies ist getan“. Der Reformator im Großen Katechismus (am Ende des zweiten Teils zum Glaubensbekenntnis):

„Aus dem siehst Du nun, dass das Glaubensbekenntnis eine sehr viel andere Lehre ist als die Zehn Gebote. Denn jene (der Zehn Gebote) lehrt wohl, was wir tun sollen; diese aber sagt, was Gott uns tue und gebe… Darum macht jene Lehre (der Zehn Gebote) noch keinen Christen, denn es bleibt noch immer Gottes Zorn und Ungnade über uns, weil wir‘s nicht halten können, was Gott von uns fordert. Aber diese bringt eitel Gnade, macht uns fromm und Gott angenehm. Denn durch diese Erkenntnis kriegen wir Lust und Liebe zu allen Geboten Gottes, weil wir hier sehen, wie sich Gott ganz und gar mit allem, das er hat und vermag, uns zu Hilfe und Stütze gibt, die Zehn Gebote zu halten…“

Luther ordnete in Von der Freiheit eines Christenmenschen Evangelium dem NT und Gesetz dem AT zu. Dies ist natürlich nicht völlig falsch. Die reformierte Tradition, von Heinrich Bullinger im 16. Jhdt. bis zu bspw. Louis Berkhof (1873–1957), betont aber, dass Evangelium und Gesetz in beiden Testamenten zu finden sind. Mit John Frame können wir auch sagen, dass beides unterschiedliche „Perspektiven“ sind: die ganze Bibel fordert unseren Glauben und Gehorsam, ist also Gesetz; und die ganze Bibel will uns Erlösung und Befreiung schenken, ist also Evangelium.

Schon Luther warnte eindringlich davor, Gesetz und Evangelium zu vermischen. Doch das Gesetz ist deshalb keinesfalls abzulehnen. Wie neben vielen anderen Berkhof betont, ist auch das Gesetz ein „Werkzeug der Gnade“ und „hat seinen Ort in der Ordnung der Gnade“ (Systematic Theology). Man darf die Gnade nicht nur dem Evangelium zuordnen, denn die Gnade ist die große Klammer um beide, Gesetz und Evangelium.

Luther gebrauchte in seinen Tischreden (215) das Bild von den beiden Mühlsteinen einer Mühle (nach Dt 24,6), die für Gesetz und Evangelium stehen. Beide Hälften der Mühle gehören zusammen, denn nur zusammen können sie wirken. Das verbindende Element ist die Gnade. Beide erfüllen die von Gott gegebene Aufgabe. Das Gesetz deckt Sünde auf. Daher ist die erste (aber nicht einzige) Funktion des Gesetzes das Anklagen, Aufdecken von Sünde (s. z.B. Röm 3,20). Alle Reformatoren betonten dies, so Calvin in der Institutio (II,7,3–6) oder das Zweite Helveticum:

„Wir lehren, dieses Gesetz sei den Menschen nicht gegeben, dass sie durch dessen Beobachtung gerecht gemacht würden, sondern dass wir durch seine Anklage vielmehr unsere Schwachheit, Sünde und Verdammnis erkennen, und verzweifelnd an der eigenen Kraft, uns im Glauben zu Christus wenden sollen. Deutlich sagt der Apostel: „Das Gesetz bewirkt Zorn“ (Röm. 3,20 und 4,15) und: „… durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“…. Daher ist das Gesetz unser Erzieher auf Christus hin geworden, damit wir aus dem Glauben gerechtfertigt würden.“ (XII,3)

Auch der Heidelberger Katechismus unterscheidet sehr gut. Die Antwort auf die zweite Frage, was man wissen muss, um selig zu leben und zu sterben, lautet: „Erstens, wie groß meine Sünde und mein Elend sind.“ Dies erkennen wir „aus dem Gesetz Gottes“ (3. Fr.), denn dieses können wir nicht „vollkommen halten“ (5. Fr.). Hier wirkt das Gesetz in seiner anklagenden Funktion. Das Zweite, was zu wissen ist: „wie ich von allen meinen Sünden und meinem Elend erlöst werde“. Hier ist dann vom Evangelium zu reden (ab Fr. 12).

Hier ist natürlich die Reihenfolge zu beachten. Zuerst wirkt das Gesetz; es hat vorbereitende Funktion. Es ist, wie das Helveticum nach Gal 3,24 formuliert, „Erzieher [paidagogos] auf Christus hin“; es führt zu Christi Evangelium. Der entscheidende Punkt ist nun: Ohne diese Erkenntnis der Sünde, ohne dieses erste Wissen, löst sich das Evangelium geradezu in Luft auf. Denn es wird einfach überflüssig. Begreift sich der Mensch nicht wirklich als Sünder, ist das Evangelium als Antwort bedeutungslos, denn auf eine Kurzformel gebrachte heißt es ja: Gott rettet Sünder. Die Sündenerkenntnis kommt aus dem Gesetz. Gibt es kein Gesetz, gibt es keine Sünder. Wen rettet Gott dann?

Es sei hier abschließend nur kurz betont, dass die anklagende Funktion des Gesetzes auch für Christen bestehen bleibt. Die Täufer im 16. Jhdt. sahen dies meist anders. Sie hatten ein viel optimistischeres Menschenbild (Ablehnung der Erbsünde, Sünde als Krankheit). Peter Hoover schreibt in Feuertaufe: „Wenn wir uns Jesus zuwenden, kehren wir zurück zur Liebe, Freiheit und Unschuld der Kindheit. Weder die Sünde, noch die Gesetze, die der Sünde wegen gemacht wurden, berühren uns noch, wenn wir in Christus leben. In Christus stehen wir über der Sünde, über dem Gesetz, und sind zu nichts verpflichtet außer der Liebe“. Er zitiert dann den Täufer Wolfgang Brandhuber: „Wahres Christentum hat nur Liebe. Sie braucht kein Gesetz, sie erfüllt das Gesetz Gottes aus lauter Liebe…“

Liebe und Gesetz

Schließlich sind auch Liebe und Gesetz nicht identisch, aber dennoch eng miteinander verbunden. Die Liebe ist die Erfüllung (Röm 13,8) und das Ziel des Gesetzes: „das Endziel des Gebots [o. Weisung] aber ist Liebe aus reinem Herzen und gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben“ (1 Tim 1,5; Schlachter). Liebe und Gesetz sind keine Gegensätze. Jesus hat niemals die Gebote des Moses durch ein einziges Liebesgebot ersetzt, wie manche behaupten. Das Gebot den Nächsten zu lieben, ist im NT (Mt 19,19) wie im AT (Lev 19,18) Zentrum aller Gesetze. Die Liebe ist daher auch nicht ein höheres Prinzip, über dem Niveau der Gesetze stehend.

Da jeder Mensch liebt, meint man häufig ein geradezu angeborenes Wissen über die richtige Art und den Inhalt der Liebe zu haben Das Gesetz erscheint da als schlicht überflüssig – was kann es mir sagen, was die Liebe nicht fordert? Hat nicht schon Augustin gesagt: „liebe, und dann tu, was du willst“? Oder Rudolf Bultmann: „Liebt der Mensch, so weiß er schon, was er zu tun hat“ (Jesus).

Das ist in gewisser Weise richtig, denn die Liebe tut ja das, was das Gesetz verlangt. Das Problem ist jedoch, dass Menschen als Sünder nur ein verzerrtes Verständnis von Liebe haben, und das gilt auch für Christen. Nicht Menschen entscheiden, was Liebe ist und wie Liebe auszusehen hat, sondern Gott in seinem Wort. Konkret ist das Gesetz der Maßstab, mit dem Liebe und Lieblosigkeit überprüft werden können. Was dem Gesetz widerspricht ist lieblos, und positiv geben die Gesetze der Liebe Inhalt.

Man muss sich daher um einen biblischen Liebesbegriff bemühen, der z.B. in Abschnitten wir Röm 13,8–10 kompakt formuliert ist. Dort werden folgende Dinge betont: Liebe ist eine Verpflichtung, keine Möglichkeit; sie ist eine grundsätzliche Willensentscheidung; Liebe und Gehorsam gegen Gott gehören zusammen; Liebe ist konkret und kommt in der Tat zum Ausdruck; Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes; Liebe ist das Gegenteil des Bösen und des Todes; Liebe ist Gemeinschaft und benötigt daher ein Gegenüber und ist von der Treue nicht zu trennen.

Wer lieben will, der ist gut beraten sich an den Vorgaben des Gesetzes zu orientieren. Huntemann zitiert H. Ridderbos: „Die Liebe tritt nicht an die Stelle des Gesetzes, sondern ist dessen Zusammenfassung… Jede Unterscheidung zwischen der Verbindlichkeit der Liebe und der Verbindlichkeit des Gesetzes ist von Paulus her eindeutig abzulehnen“ (Paulus – ein Entwurf seiner Theologie). Und Klaus Bockmühl:

„Es gibt im Neues Testament keinen Gegensatz zwischen Gesetz und Evangelium in der Ethik. Das Evangelium ist die Erfüllung des Gesetzes, und die Liebe geht keine anderen Wege als das Gesetz, sie verhält sich zum Gesetz wie das Motiv zum Maßstab. Also machen wir Schluss mit der falschen Gesetzlosigkeit!“ („Die Maßgeblichkeit der Bibel für die Ethik heute“, „glauben&denken heute“, 2/2011)

Der schottische Geistliche Horatius Bonar (1808–1889) formulierte sehr gut: „Was soll unserem Dienst Gestalt geben außer dem Gesetz? Die Liebe, so sagen sie. Doch dies ist ein völliger Irrtum. Liebe ist keine Regel, sondern ein Motiv. Liebe sagt mir nicht, was ich tun soll; sie sagt mir, wie ich es tun soll. Liebe drängt mich dazu, den Willen des Geliebten zu tun; doch um diesen Willen herauszufinden, muss ich mich woanders hinwenden. Das Gesetz unseres Gottes ist der Wille des Geliebten. Und wo dieser Ausdruck seines Willens beseitigt wird, bleibt die Liebe im Dunkeln stehen. Sie würde nicht wissen, was zu tun ist… Die Liebe wendet sich an das Gesetz, um den göttlichen Willen kennenzulernen, und die Liebe freut sich am Gesetz als Ausdruck dieses Willens. Wer meint, als Gläubiger hat man mit dem Gesetz nichts mehr zu schaffen, wer es als den alten Feind verachtet, der möge gleich sagen, dass er mit dem Willen Gottes nichts mehr zu tun hat. Denn das göttliche Gesetz und der göttliche Wille sind im Wesentlichen eins, ersteres der äußerliche Ausdruck des letzteren.“ (God’s Way of Holiness)

War im vorigen Punkt von der anklagenden Funktion des Gesetzes die Rede, der sog. „erste Gebrauch“, so ist hier vom „dritten Gebrauch“ die Rede: das Gesetz als Regel für ein Leben im Glauben (der „zweite“ ist der politische, d.h. das Gesetz als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens; teilweise wird aber auch anders gezählt und dieser als erster bezeichnet wie meist bei den Lutheranern). Betonen den ersten Gebrauch in besonderer Weise die Lutheraner, so setzen hier die Reformierten den Akzent (im Grundsätzlichen ist man sich aber ganz einig; auch in der lutherischen Konkordienformel, VI, wird der dritte Gebrauch gelehrt).

Nach Calvin ist das Gesetz „vollkommenes Urbild der Gerechtigkeit“ und „Richtschnur für ein rechtes und gerechtes Leben“. Gläubige haben die richtige Motivation und sind „durch die Leitung des Geistes innerlich so gesinnt und gewillt, dass sie Gott gern gehorchen möchten“. Daher ist das Gesetz für sie „das beste Werkzeug, durch das sie von Tag zu Tag besser lernen, was der Wille des Herrn sei.“ (Inst. II,7,12–13; s. auch das Zweite Helveticum, XII,2). Das Westminster-Bekenntnis unterstreicht: Das Gesetz ist auch für Gläubige „von großem Nutzen, weil es als die Regel des Lebens über den Willen Gottes und ihre Pflicht unterrichtet, sie dadurch anleitet und verpflichtet, dementsprechend zu wandeln…“ (XIX,6)

Hervorragend ist auch die Aufteilung des Heidelberger Katechismus, der im dritten Teil „Über die Dankbarkeit“ (ab Fr. 86) das moralische Gesetz im Einzelnen behandelt und erst dort die 10 Gebote erläutert. Schon damit wird unterstrichen, dass sie im Leben des Christen einen wichtigen Platz haben und die Hauptmotivation Dank ist. Die Antwort der Fr. 91 „Was sind denn die guten Werke?“ lautet: „Nur solche, die aus wahrem Glauben nach dem Gesetz Gottes ihm zu Ehren geschehen und nicht auf unserem Gutdünken oder menschlichen Bestimmungen beruhen.“ Hier werden Gläubige daran erinnert, dass auch sie konkret fragen müssen, was denn genau diese guten Taten der Liebe sind, und das sind eben nicht irgendwelche, sondern die das Gesetz vorschreibt.

Auch im Hinblick auf die Liebe hat die Verachtung des Gesetzes also sehr ernste Folgen. Wer das Gesetz bekämpft oder ignoriert, wer das Gebot Gottes verwirft, der verwirft auch die Liebe oder schadet ihr.

Gesetzlichkeit und Gesetz

Oft wird das Betonen des Gesetzes mit Gesetzlichkeit in einen Topf geworfen. Nicht selten fällt der Vorwurf des Pharisäertums. Was ist nun wirklich Gesetzlichkeit? Tatsächlich fallen die Pharisäer und andere Gegner Jesu in diese Kategorie. Sie taten Gottes Geboten ihre eigenen hinzu, schränkten die Freiheit zu weit ein und legten den Menschen „Lasten [auf], die man kaum tragen kann“ (Lk 11,46; s. auch Mk 7,1–15 Mt 15,1–9). Natürlich ist es auch Kennzeichen von Gesetzlichkeit, wenn man durch das Halten des Gesetzes hofft gerecht zu werden (Röm 3,21–4,25; Eph 2,9–10). Ein weiteres wichtiges Problem, gerade in der frühen Kirche, war der Versuch, Nichtjuden das Ritual- oder kultische Gesetz vorzuschreiben (Gal 4,9–11; Kol 2,16–17); Gesetzlichkeit ist also auch ein Auflegen von Geboten, die uns nicht gelten. Zu nennen ist außerdem das Missachten der wichtigeren Dinge im Gesetz wegen weniger wichtigen (Mt 23,23) und vor allem schließlich nur äußeres Befolgen der Gebote, ohne Glaube, Liebe (Mk 7,18–23; Mt 15,15–20; 23,27–28).

Der Missbrauch des Gesetzes führt zur Gesetzlichkeit. Gibt es auch einen Missbrauch des Evangeliums? Es ist D. Bonhoeffer zu verdanken, der wohl als erster zwischen „teurer“ und „billiger Gnade“ in seinem Buch Nachfolge (1937) unterschied. Teure Gnade spricht von dem wahren Evangelium wie wir es beschrieben haben. Zur billigen Gnade schreibt Bonhoeffer gleich zu Beginn des Werkes nicht weniger scharf wie man zur Gesetzlichkeit Stellung nehmen muss:

„Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche. Unser Kampf geht heute um die teure Gnade. Billige Gnade heißt Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderter Trost, verschleudertes Sakrament; Gnade als unerschöpfliche Vorratskammer der Kirche, aus der mit leichtfertigen Händen bedenkenlos und grenzenlos ausgeschüttet wird; Gnade ohne Preis, ohne Kosten. Das sei ja gerade das Wesen der Gnade, dass die Rechnung im voraus für alle Zeit beglichen ist. Auf die gezahlte Rechnung hin ist alles umsonst zu haben. … Billige Gnade ist Predigt der Vergebung ohne Buße, ist Taufe ohne Gemeindezucht, ist Abendmahl ohne Bekenntnis der Sünden, ist Absolution ohne persönliche Beichte. Billige Gnade ist Gnade ohne Nachfolge, Gnade ohne Kreuz, Gnade ohne den lebendigen, menschgewordenen Jesus Christus…“

Legalismus und Antinomismus, die siamesischen Zwillinge

Wir können nun zum Abschluss zusammenfassen. Die gute Nachricht lautet: „Ich werde wegen Jesu Werk von Gott angenommen; deshalb gehorche ich“. Die falsche Religion sagt: „Ich gehorche, und deshalb ist Gott mir gnädig“. Und die nichtreligiöse Haltung klingt so: „Ich brauche keinem zu gehorchen als nur mir selbst“. Die falsche Religion können wir der Gesetzlichkeit, dem Legalismus oder Moralismus zuordnen; die Irreligiosität eher dem Antinomismus, der Ablehnung des Gesetzes.

Legalismus/Moralismus und Antinomismus sind zu unterscheiden, aber sie bedingen sich gegenseitig, sind enger miteinander verknüpft als man meist denkt. Denn beide sind Ausdrucke einer Glaubenshaltung, beiden geht es letztlich um Selbsterlösung. Tim Keller stellte gut fest: „Es gibt zwei Wege, um sein eigener Retter und Herr zu sein. Einer besteht darin, dass man alle moralischen Gesetze über den Haufen wirft und ganz allein den Kurs bestimmt. Der andere besteht darin, dass man sich anstrengt alle Gebote zu halten und versucht, sehr sehr gut zu sein“ (The Prodigal God). Beide Wege stehen dem Evangelium, dem Geist des wahren Christentums, feindlich gegenüber.

Der Mensch ist nach dem Sündenfall ein eingefleischter Moralist. Wir wollen etwas für unser Heil tun und meinen zu glauben, dass es Gott oder einem höheren Wesen im Wesentlichen darum geht, dass wir nett, anständig und fair zueinander sind. Dieser weiche Moralismus dominiert unsere westliche Kultur (der Soziologe Christian Smith zeigte in seinen Studien für die USA, dass dort – allem offiziell bekannten Christentum zum Trotz – ein „moralistischer therapeutischer Deismus“ unter Jugendlichen vorherrscht).

Menschen sind aber auch eingefleischte Antinomisten. Von Natur aus lehnt der Mensch  Gott und sein Gesetz über sich ab – „Wir wollen nicht, dass dieser [der Fürst, also Gott] über uns herrsche“, wie es im Gleichnis in Lk 19,14 heißt. Doch der Mensch ist eben nicht Gott und braucht als Geschöpf einen Rahmen, um darin zu leben. Werden Gott und seine Normen verworfen, drängen andere Gesetze in dies Vakuum. Der Mensch muss und will sich dann eigene schaffen, oder man meint, andere mit einer höchsten Autorität zu entdecken. Werden die göttlichen Absolute geleugnet, kommt zur Hintertür säkulares, willkürliches Gesetz herein (ein Gedanke, den schon vor 50 Jahren F.A. Schaeffer immer wieder betonte). Marx glaubte die unverrückbaren Gesetze der Materie formuliert zu haben; heute finden viele am Gesetz des Karma Gefallen. In den zahlreichen Bücher aus der Schule des New Thought wie in Rhonda Byrnes The Secret wird auf fast jeder Seite das eine oder andere biblische Gebot verworfen. Dafür aber erdichten sie und alle ihre Experten neue Gesetze, angefangen bei dem alles bestimmenden „Gesetz der Anziehung“.

Wir lieben den weichen Moralismus, und auch wohl deshalb verkaufen sich all die Selbsthilfe-Bücher und Lebensratgeber so gut. Doch darin wird in Wahrheit meist ein Legalismus der schlimmsten Sorte gepredigt: du bist göttlich oder Gott oder göttliches Potential schlummert in dir; deshalb musst du dich mächtig anstrengen, dein Unterbewusstsein anzapfen, die Allmacht in dir zur Entfaltung bringen, sich in die Gesetze der Universums einklinken usw. Die Botschaft dieser ‘erbaulichen’ Literatur ist allen süßen Worten zum Trotz ganz und gar unbarmherzig; keine Spur von Gnade, nicht ein Hauch. Denn woher soll sie auch kommen. Unpersönliche Gesetze des Universums können nicht gnädig sein. Einzig der Gott der Bibel, „der Herr gibt Gnade…“ (Ps 84,12). Gnade mag heute als Begriff immer noch beliebt sein. Wirklich zugänglich ist sie aber nun an einer Quelle.

(Bild o.: Dekalogtafel in der reformierten Kirche Celle, historisch eine Gemeinde der frz. Hugenotten)