Von Bill Hybels lernen (!?)

Von Bill Hybels lernen (!?)

Das breite Thema Wille Gottes, Führung, Geistesleitung ist unter evangelikalen Christen ungebrochen populär. Die Literatur dazu füllt ganze Regale. Jack Deeres Suprised by the Voice of God / Überrascht von der Stimme Gottes oder Dallas Willards Hearing God / Wie Er zu uns redet wurden auch in Deutschland recht einflussreich. Obwohl diese Werke natürlich eine ausführlich begründete kritische Analyse verdienen, sei hier eingangs nur bemerkt, dass sie leider kaum wirklich zu empfehlen sind. Aus der Masse der Literatur zum Thema ragen dagegen positiv Ruth A. Tuckers God Talk – Cautions for those who hear God’s voice (sie ist bekannt durch ihre Missionsgeschichte Bis an die Enden der Erde), Bruce K. Waltkes Finding the Will of God und Kevin DeYoungs Just Do Something heraus – aller leider nicht in deutscher Spracher erschienen.

Gute Ausführungen zum Thema finden sich auch in J.I. Packers Keep in Step with the Spirit / Auf den Spuren des Heiligen Geistes (im Abschnitt „Heiligung wird gewirkt durch den Heiligen Geist“). Und im Internet hat Greg Koukl von „Stand to Reason“ die Literatur und ihre Thesen in einer Artikelserie gründlich unter die Lupe genommen („Does God whisper?“ I–III, „Solid Ground“, May/June [I], July/August [II], November/December 2011 [III]).

Sehr zur empfehlen ist schließlich auch Thomas Schirrmachers Lektion 32 in seiner mehrbändigen Ethik: „Wie erkenne ich den Willen Gottes? Zur Frage der Geistesleitung“ (auch als Buch unter dem Titel Wie erkenne ich den Willen Gottes?). Er legt seinen Erläuterungen die Unterscheidung von souveränem und moralischem Willen zugrunde (wie auch DeYoung) und begründet sie ausführlich; sie ist altes protestantisches Erbe. Schirrmacher weist auf viele grundlegende Schwächen der ja gerade in Deutschland so verbreiteten Lehre von der Geistesleitung, also des Erkennen eines persönlichen moralischen Willens durch konkrete Hinweise des Geistes in uns, hin. Er zitiert Helmut Egelkraut: „Die Notwendigkeit der Geistesleitung ergibt sich daraus, dass nicht alle Lebensfragen durch klares göttliches Gebot abgedeckt sind.“ Schirrmacher fragt gut zurück: „Warum aber muss unbedingt eine göttliche Meinung zu allen Lebensentscheidungen vorhanden sein?“ „Trivialfragen“, so Egelkraut, sollen durch Abwägen entschieden werden – aber wie sollen denn diese von den wirklich ‘ernsten’ abgegrenzt werden? „Wer legt überhaupt fest, bei welchen Dingen der Geist befragt werden muss und bei welchen nicht?“, so der Bonner Theologe.

Schirrmacher zeigt gut das „Dilemma“ dieser Lehre, nämlich das Problem des klaren Erkennens der Geistmitteilung. Äußere Zeichen, innerer Frieden, Eindrücke beim Gebet usw. können kaum biblisch begründet werden. (C. Raedel nennt in „Trinität und Gemeinschaft“ aus dem Sammelband Leben zur Ehre Gottes auch den inneren Frieden als subjektives Kriterium; in der Fußnote verweist er auf die Herkunft: Ignatius von Loyolas Exerzitien; tatsächlich ist ein klarer protestantisch-biblischer Nachweis wohl kaum zu führen.)

„Glaubst du etwa nicht an Führung?“, kann man öfter zu hören bekommen, wenn man der Linie folgt, die auch Schirrmacher schildert. Daher ist hier unbedingt Folgendes zu betonen: Die Frage ist nicht, ob Gott leitet und führt, ob der Geist uns Eindrücke, Impulse, Gedankenblitze, Worte der Weisheit usw. usf.  gibt. Die Frage ist, ob wir diese Wegweisung des Geistes, diese Führung im Voraus erkennen können und sollen; ob wir unser Leben nach diesen kommenden Ereignissen einrichten sollen. Und ob wir die Eindrücke des Geistes klar identifizieren können. Die Frage ist außerdem nicht, was Gott tun kann und natürlich – zahlreiche biblische Berichte – schon getan hat, nämlich konkrete persönliche Offenbarungen schenken; die Frage ist, was jedem Christen heute begründet als Teil seiner alltäglichen Erfahrungen versprochen ist.

„Einflüsterungen“ Gottes

In diesem Zusammenhang muss schließlich noch auf Bill Hybels Bestseller The Power of a Whisper / Gottes leise Stimme hören eingegangen werden, schließlich ist der Autor einer der wichtigsten evangelikalen Leiter der Gegenwart. Hybels ist Mitgründer der „Willow Creek Community Church“, die in diesem Jahr auf eine vierzigjährige Geschichte zurückblickt. Die Kirche in einem Vorort von Chicago machte den seeker sensitive-Ansatz populär. Zum Netzwerk „Willow Creek Association“ gehören nun weltweit deutlich über zehntausend Gemeinden. Der von Hybels initiierte „Global Leadership Summit“ erreicht jährlich Hunderttausende in zig Ländern. Die Frage des Buches Learning from Willow Creek? meines Studienkollegen Dr. Rainer Schacke kann man also schon aufgrund solch beeindruckender Statistiken getrost positiv beantworten. Gewiss, von Willow kann viel gelernt werden, selbst dann, wenn man dem seeker sensitive-Ansatz nicht (oder nicht überall hin) folgen will.

Ähnliches gilt für Hybels selbst. Ich habe ihn nie live erlebt, dafür aber z.B. zahlreiche Vorträge der Summits auf DVD gesehen und so manches Buch aus seiner Feder gelesen. Auch seine Kritiker müssen anerkennen, dass Hybels ein integrer Pastor mit einem großem Herz für Evangelisation und die Gemeinde ist (man denke ja an seinen Spruch „The local church is the hope of the world“). Die Evangelisationsmüdigkeit der „Christian Reformed Church“, in der Hybels aufgewachsen war, hatte den jungen Mann aus der Kirche getrieben. Traditionelle reformierte Kirchen müssen sich auch heute ab und an den Spiegel von „Willow Creek“ vorhalten lassen.

Viel ist von Hybels zu lernen, und aus seinen Vorträgen nimmt man immer einiges mit. Er ist ein begnadeter Kommunikator und großer Leiter, der dabei aber nicht in plumpe Manipulation oder Machtmissbrauch verfällt. Hybels, der Ende des kommenden Jahres 65 wird, besticht immer durch seine Offenheit und Klarheit in der Rede – kein intellektueller Firlefanz; zielorientiert, authentisch und in der Theologie im Grundsatz eher konservativ-evangelikal. Ich kann daher mit den Hybels-Dämonisierern, von denen sich im Internet viele austoben, herzlich wenig anfangen. Von dem Pastor und Autoren ist wahrlich so manches abzugucken; daher auch ein Ausrufezeichen in der Überschrift.

Es gilt jedoch zu bedenken, dass man von so gut wie jedem anderen Menschen etwas lernen kann, und auch von denen, die unser persönliches Bekenntnis nicht teilen. Als überzeugter Protestant kann ich überraschend viel von Katholiken lernen (hat man zum x-ten Mal einen protestantischen Pelagianer getroffen, freut man sich über jedes Gespräch mit einem glaubensfesten Katholiken, der an der Erbsünde festhält). Dies gilt auch für Anhänger anderer Religion oder auch agnostische bzw. atheistische Denker. Was gibt es nicht alles bei Karl R. Popper oder Friedrich A. von Hayek zu entdecken! Alle Wahrheit ist Gottes Wahrheit, wie viele große Theologen von Augustinus bis Calvin betonten.

Auf der einen Seite ist also das Feld unseres Lernens zu erweitern, auf der anderen Seite ist von den Vertretern des eigenen Lagers kritischer zu lernen. Aus der Tatsache, dass von Hybels und Willow viel gelernt werden kann, ist eben nicht abzuleiten, dass sich jegliche Kritik verbietet. Es muss konkret werden: Was genau können und sollen wir lernen? Hier ist, wie gesagt, einiges zu nennen, nicht zuletzt das Feuer für die Evangeliumsverbreitung, Kreativität, Professionalität und und und.

Gerade beim Thema Geistesleitung zeigt sich jedoch, dass man die Methodik der Theologie besser nicht vom Pastor aus South Barrington übernimmt. Deswegen ist auch das Fragezeichen nötig. Womit wir wieder beim Thema wären. The Power of a Whisper / Gottes leise Stimme (mir liegt die englischsprachige Ausgabe vor) hält Hybels für eines seiner wichtigsten Bücher überhaupt. Seine Vorstellung vom Reden des Geistes gehört tatsächlich zu Hybels theologischen Kernvorstellungen. Er ist hier sehr engagiert und formuliert die Hauptaussagen auch in verschiedenen Videos äußerst nachdrücklich.whisper_360

In dem Buch über die „Einflüsterungen“ Gottes reiht Hybels eine Geschichte nach der anderen aneinander, und vieles ist durchaus interessant zu lesen. Man gewinnt zahlreich Einblicke in sein Leben, und diese Offenheit macht Hybels einmal wieder sympathisch. Das persönliche Reden Gottes in seinem Inneren war und ist für Hybels äußerst wichtig: Vielfach zeigt er, wie in Leben und Dienst solch direktes Reden für Kursänderungen und Neuausrichtungen usw. entscheidend waren.  Ohne Übertreibung kann man sogar sagen, dass die ganze Willow-Geschichte, auch die Ursprünge des Summits, auf Eingebungen („promptings“) des Geistes zurückgehen.

Hybels bleibt jedoch bei der Klärung vieler wichtiger Dinge meist schon im Ansatz stecken. „Gott ist ein kommunizierender Gott“, so heißt es, aber wie kommuniziert er denn nun? Viel Richtiges sagt er natürlich (ein ganzes Kapitel ist dem Reden durch die Bibel gewidmet), oft bleibt er aber schrecklich unpräzise, d.h. selten wird genauer geschildert und erläutert, wie diese Eindrücke aussahen. „Es war keine hörbare Stimme, die ich erkannt habe, aber ich habe unmissverständlich gewusst, dass der Himmel zu mir durchdringen wollte“. Bei Rückfragen würde man wohl nicht viel genaueres erfahren. Manchmal ist ihm irgendwie ‘völlig klar’: das sind „vom Himmel gesandte Ideen“; oft heißt es aber, dass es ihm bloß „schien“ („it seemed to me that…“), dass der Geist etwas sagte. Dann wieder sieht es so aus, dass Gott ihm persönlich etwas diktiert hat: „Silbe für Silbe ist dies genau das, was der Heilige Geist mir an diesem Tag aufs Herz legte: ‘Du bist ein wertvolles Kind des allerhöchsten Gottes’.“ Manchmal werden ganz ‘normale’ Erkenntnisse wie über die charakterlichen Eigenschaften seines Sohnes und wie mit ihm umzugehen sei dann „starke Eindrücke vom Heiligen Geist“ genannt. Wozu soll das nötig sein?

Hybels enttäuscht vor allem dadurch, dass sein Buch von über 260 Seiten geradezu so gut wie frei von jeder Theologie ist und er seine Lehre praktisch einzig durch seine Erlebnisse (und die anderer Menschen) begründet; eine nur ansatzweise saubere biblisch-theologische Herleitung – Fehlanzeige (gewiss fehlt es in manchen Kapiteln nicht an Bibelversen, doch wo bleibt ihre ‘theologische Durchdringung’, um es einmal so auszudrücken?). Auch ein Blick in die Geschichte der Glaubenslehre fehlt ganz. Nun würde Hybels sicher einwenden, dass Dogmatik und Dogmengeschichte nicht sein Ding sind. Man bedenke allerdings, dass er ja nicht einfach nur persönliche Erfahrungsberichte als Illustration weitergeben will. Hybels hat den klaren Anspruch, Lehrinhalte zu kommunizieren, die auch von anderen geglaubt werden soll. Sollte man von einem der wichtigsten evangelikalen Leiter der Gegenwart mit besonderem Einfluß und weitreichender Autorität nicht mehr erwarten, zumal wenn es um so ein ernstes Thema geht?

Adam und Eva hörten die Stimme Gottes im Garten, und nach Hybels wurden sie somit „Empfänger von Gottes Flüstern“. Auch das Reden Gottes zum jungen Samuel muss natürlich, wen wundert’s, als Beleg herhalten. Dabei wird die Frage nicht geklärt, wie dieses Reden damals geschah (sehr wahrscheinlich akustisch!) und inwieweit es tatsächlich Beispiel für uns heute ist. Sprach Gott regelmäßig auf klare Weise (akustisch oder durch Visionen/Träume) zu normalen Gläubigen in Israel? Hybels geht aber lieber gleich über zu uns: „Es ist nicht die Frage, ob Gott spricht oder nicht; es geht darum, ob wir Ohren haben zu hören, was er uns sagt.“ Er erhebt dies innere Hören zum wichtigsten Element der Jüngerschaft – bloß kein verschlossenes, hartes Herz haben!

Problematisch bei Hybels wie anderen Autoren: Einflüsterungen oder Eingebungen solle man gehorsam sein (auch in einem deutschen Kommentar heißt es: „es geht auch immer wieder um Gehorsam“). „Wenn du und ich im Hinblick auf die kleinen Einflüsterungen treu sind, wird er uns auch größere anvertrauen“; „große Gewinne für das Reich Gottes“ können dann das Ergebnis sein. Man solle unbedingt darauf achten, den Eingebungen gegenüber gehorsam zu sein: „Wann immer Sie von Gott hören, tun sie genau, was er von ihnen verlangt.“

Ungehorsam ist jedoch eindeutig Sünde. Damit ist es logischerweise auch Sünde, solchen Einflüsterungen nicht Folge zu leisten. Darf man sich gegen das entscheiden, was einem der Heilige Geist klar macht? Ein Verstoß gegen innere Empfindungen? Ich halte dies für ein Kernproblem der Lehre, denn hier wird Sünde neu definiert. Ist der erkannte Wille wirklich der absolute Wille des ewigen Gottes oder ist es ein weiser Gedanke, den Gott Menschen gibt, den zu übergehen aber nicht Ungehorsam oder Sünde bedeutet?

Hybels berichtet, wie er aufgrund einer Einflüsterung einer älteren Frau mit ihren Einkaufstaschen half. Natürlich war das lobenswert. Hätte er auch anders entscheiden können? Unter Umständen ja. Doch wenn wirklich Gott innerlich direkt und eindeutig gebietet, welchen Freiraum haben wir dann noch? Schirrmacher ganz richtig: „Innere Eindrücke und spontane Ideen können nützlich sein und können sicher auch durch den Heiligen Geist gewirkt werden. Die Frage ist nur, ob wir unfehlbar entscheiden können, ob die Eindrücke vom Geist kommen oder nicht und ob wir deswegen diesen Eindrücken zwingend gehorchen müssen.“

For the church’s sake… – lead!

Wie problematisch das ganze werden kann, zeigt die Frage Rolle der Frau in der Gemeinde. Schon vor Jahrzehnten nahm Willow Creek die egalitäre Position an (alle Ämter stehen Frauen offen), was natürlich auch zu Diskussionen und Konflikten in der Kirche führte. Eines Tages sieht Hybels seine damals noch kleine Tochter und erhält eine Botschaft Gottes: „Du hast für deine Position, Bill, die du vertreten hast, schwer einstecken müssen, aber jedes kleine Mädchen, das in der Willow-Familie in den kommenden Generationen groß wird, wird von deinem festen Standpunkt profitieren.“ Gott selbst ist also klar auf der Seite der Egalitaristen! Na wunderbar, kann man da nur sagen. Dann erübrigt sich jede weitere Diskussion um diese komplizierte Frage.

Sie erübrigt sich nicht nur, sie muss offensichtlich sogar im Keim erstickt werden. Wayne Grudem berichtet in „CBMW News“ (Dezember 1997) von einer Episode aus dem Frühjahr des Jahres. Grudem, wahrlich kein theologischer Hitzkopf und ein echter theologischer Brückenbauer, schildert dort, wie Bruce Ware, damals Leiter des Lehrstuhls für systematische Theologie an der angesehenen „Trinity Evangelical Divinity School“, in der Willow Creek-Gemeinde einen Kurs zur Dreieinigkeit unterrichtete. Das Lehrbuch zum Kurs, Grudems Systematic Theology, durfte er jedoch nicht im Gebäude an die Teilnehmer verkaufen – weil Grudem darin in 19 von 1262 Seiten die komplementaristische Position darlegt (einige Ämter stehen Frauen nicht offen). So ein Vorgehen ist einfach lächerlich, leider aber auch vielsagend. Nun erwartet man in der Willow-Leitung  ja gar keinen Pluralismus; jede Kirche und jeder Verband muss gewisse Positionen finden und vertreten. Dass man jedoch die eigenen Mitglieder vom eigenständigen Lernen von evangelikalen Bundesgenossen bewusst abhält, ist sehr seltsam und trübt das Bild von Willow. Nun mag diese Episode auch ein Einzelfall sein, doch ist es in Willow-Gemeinden noch möglich, den egalitären Standpunkt auch nur im Ansatz zu diskutieren? Soll mit dieser Ausgrenzung von theologisch nicht genehmen evangelikalen Positionen Theologie gelernt werden? Es sieht eher so aus, dass nun auch beim Leadership Summit der egalitäre Standpunkt gleichsam durchgedrückt wird. John Ortberg im vergangenen Jahr: „And just by the way, if you are a woman and God gifted you to lead, for God’s sake, for the church’s sake, for the sake of the sorry dark world – lead!“ In Litauen ist der Vortrag des bekannten Pastors aus Kalifornien und der gesamte Summit auch durchaus so verstanden worden: Frauen in alle Positionen!

Darüber kann man natürlich diskutieren, ja man sollte es auch. The Power of a Whisper und das ganze Drumherum bei Willow ermutigt aber leider niemanden zurückzufragen: Könnte man das nicht auch anders sehen? Welche theologischen Alternativen gibt es? Ist wirklich alles so glasklar, wie Hybels es darstellt? Die Art und Weise, wie man Theologie betreibt, sollte man von ihm und allgemein von Willow Creek nicht lernen.