„Die Lehre der freien und freisten Gnade“

„Die Lehre der freien und freisten Gnade“

„Auf theologischen Flohmärkten“

Vor fünf Jahren meinte Matthias Matussek, damals noch beim „Spiegel“, in einer Titelgeschichte des Wochenmagazins: „Die Sünde ist aus der öffentlichen Rede verschwunden. Sie hat sich neue Papiere, neue Identitäten besorgt. Von ‘Sünde’ spricht keiner mehr… Die Sünde hat kein metaphysisches Gewicht mehr. Sie wird nicht mehr ernst genommen. Man könnte sagen: Die Sünde hat ein Imageproblem.“

Noch schlimmer ist es um die Prädestination bestellt. In der Öffentlichkeit kommt sie hier und da sogar noch vor wie jüngst im Sci-Fi Film „Predestination“ mit Ethan Hawke (seit Februar in Deutschland auf DVD). Aus der theologischen Rede selbst ist sie jedoch schon weitgehend verschwunden. Im „ABC des Glaubens“ auf den Seiten der EKD findet sich weder das Stichwort „Erwählung“, noch „Vorherbestimmung“ oder „Vorhersehung“ (auch nicht „Vorsehung“) und schon gar nicht „Prädestination“. „Die Lehre von der Prädestination, einst ein kostbares Erbstück, taucht heute nur hin und wieder auf theologischen Flohmärkten auf“, so Heiko A. Oberman in seinem Werk Zwei Reformationen. Der große niederländische Reformationsexperte (1930–2001), der lange in den USA lehrte, hat recht. Auf mehrglauben.de wird die heutige Stimmung so umschrieben: „Dass Gott scheinbar einige Menschen zum Glauben vorhersieht und andere nicht, kann sowohl Christen als auch Nicht-Christen sauer aufstoßen. Überhaupt ist der Gedanke eines Gottes, der völlig unabhängig Menschen zum Heil erwählt, für einen Menschen des 21. Jahrhunderts ein Schlag ins Gesicht.“

Natürlich lässt sich dieser theologische Ladenhüter nicht ganz aus Nachschlagewerken der Theologie verbannen, auch wissenschaftliche Abhandlungen wird es noch geben. Und der Lehrbetrieb an evangelikalen Ausbildungsstätten muss sicher auch noch auf die Prädestination eingehen – und sei es nur im historischen Kontext. Doch man gewinnt den Eindruck, dass selbst „Meister“ der Theologie sich nun berechtigt fühlen, die dahinsiechende Lehre mal eben so vom Tisch zu fegen.

Ein junger evangelikaler Leiter aus Deutschland, nun international tätig auf einem christlichen Spitzenposten, schreibt in seiner Master-Arbeit an einer Stelle über die „doppelte Prädestination“: „Sie ist ein logischer Schluss, der sich aus der Bibel allerdings nicht belegen lässt.“ Die Prädestination hätte zwar eine „systematisch-theologische Berechtigung“, würde aber „letztlich separatistisches Gedankengut“ nähren. „Warum sollte sich ein Christ für die Umwelt, die Gesellschaft, die Politik, die Ordnungen der Welt einsetzen, wenn die Verdammnis sowohl der Menschen wie der Welt an sich schon beschlossene Sache ist?“ Dem Autor ist offensichtlich nicht aufgefallen, dass sich gerade Christen, die an der Prädestination vehement festhielten, die Calvinisten, sich für all diese Dinge eingesetzt und transformierend (wie man heute wohl sagen würde) gewirkt haben. Schließlich heißt es: „Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass bezogen auf die Prädestinationslehre nicht der eine oder der andere Mensch, sondern der Glaube oder Nicht-Glaube die Trennlinie ist. Nicht der Mensch an sich ist erwählt oder verdammt, sondern Jesus in ihm ist erwählt und hat den Tod durchbrochen. Und das kann jeder Mensch erfahren und erleben. In logischer Konsequenz sind darum alle Menschen von Grund auf gleichwertig…“ Alles klar?

Auf die Prädestination eindreschen geht immer. Otto Riecker (1896–1989), Gründer der Bibelschule Adelshofen, war mit seinem Bildung und Heiliger Geist recht einflussreich. Der Pietist meinte zu Calvins (aber nicht nur Calvins!) Lehre von der doppelten Prädestination selbstsicher: „Das war eine klare, theologistische Operation, die viel Streit hervorrief und die niemals christlich ist. So kann ein Jünger nicht denken. Das ist griechisches Denken… Niemals bestimmt Gott Menschen zur Verdammnis!“

„Alle wurden gläubig, die zum ewigen Leben bestimmt waren“

Unter Prädestination wird meist die Vorherbestimmung des ewigen Schicksals des einzelnen Menschen durch Gott verstanden. Seltener wird der Begriff auch in einem weiteren Sinne gebraucht und bezeichnet dann den ewigen Ratschluss Gottes. Dieser Plan Gottes wird von ihm in der Schöpfung ausgeführt, was als seine Vorsehung (lat. providentia) bezeichnet wird.

Der Ratschluss Gottes schließt das Schicksal der Menschen ein, ist jedoch breiter und umfasst noch mehr wie das Geschehen in Natur und Schöpfung (s. z.B. Job 38,2; Jes 14,26; 46,10). Dieser ewige Ratschluss oder der Plan Gottes ist umfassend – Gott kontrolliert alles und daher auch das Heil des einzelnen Menschen (s. Gen 50,20; Dan 4,34–37; Apg 2,23; Apg 17,26; Eph 1,11 und Heidelberger Katechismus, Fr. 27–28).

Meist wird aber gelehrt, dass „die Vorherbestimmung ein Teil der Vorsehung ist“ (Thomas v. Aquin, Summe der Theologie, Iª q. 23 a. 1 co.). Prädestination in diesem engeren Sinn meint Gottes Erwählung von Menschen zum Heil (lat. electio) und die Verwerfung (lat. reprobatio) der übrigen. Prädestination (Vorherbestimmung) ist gleichsam der Oberbegriff zur Erwählung: Gott prädestiniert oder bestimmt Menschen zum Heil, diese erwählt er deshalb; er prädestiniert andere zum Unheil, die verwirft er. Man könnte auch sagen, dass er Letztere zur Verdammnis erwählt, aber meist wird der Begriff Erwählung nur im Kontext des Heils, der Erlösung, gebraucht. Die Erwählung zum Heil wird in der Regel „einfache Prädestination“ genannt, die zum Heil und Unheil „doppelte“.

Manchmal werden Prädestination und Erwählung auch synonym benutzt wie zu Beginn des Abschnitts im Zweiten Helvetischen Bekenntnis (X): „Gott hat von Ewigkeit her ohne jedes Ansehen des Menschen frei und aus lauter Gnade die Heiligen, die er in Christus selig machen will, vorherbestimmt [lat. praedestinavit] oder erwählt…“ Tatsächlich empfiehlt sich heute wohl der Gebrauch von „Erwählung“, und zahlreiche Bekenntnisse, s.u., enthalten Abschnitte zu Erwählungslehre und meiden eher „Prädestination“.

Die Bibel gebraucht Erwählung in mehreren Weisen. Zuerst ist hier natürlich Erwählung in der Geschichte zu nennen, d.h. Gott erwählt Menschen oder Völker zu bestimmten Aufgaben (1 Sam 9,17; Jer 1,5; Lk 6,13; Israel: Dt 4,37; 7,6). In unserem Zusammenhang konzentrieren wir uns aber auf die ewige Erwählung zum Heil – „ehe der Welt Grund gelegt war“ (Eph 1,4). Der Unterschied ist meist eindeutig: So ist ein Jude Mitglied des auserwählten Volkes, aber nicht unbedingt zum Heil erwählt. Das zugrundeliegende Prinzip ist aber dasselbe: Gott schenkt aus Gnade Auserwählten etwas, anderen nicht.

Die Erwählungslehre erfreut sich keiner Beliebtheit in den Gemeinden, Prädestination ist für viele, wie wir sahen, sogar ein Stein des Anstoßes. Dabei ist sie in der Bibel kaum zu umgehen. Im NT finden wir die Begriffe eklego / ekloge 21 Mal, meist im soteriologischen Kontext (Prädestination wird aber auch mit anderen Begriffen umschrieben). An einigen Stellen wie in Apg 13,48 („Als das die Heiden hörten, wurden sie froh und priesen das Wort des Herrn, und alle wurden gläubig, die zum ewigen Leben bestimmt waren“) wird sie gleichsam wie nebenbei berührt. In Eph 1,3–6 schreibt Paulus ausführlicher:

„Gepriesen sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus! Gepriesen sei er für die Fülle des geistlichen Segens, an der wir in der himmlischen Welt durch Christus Anteil bekommen haben. Denn in Christus hat er uns schon vor der Erschaffung der Welt erwählt mit dem Ziel, dass wir ein geheiligtes und untadeliges Leben führen, ein Leben in seiner Gegenwart und erfüllt von seiner Liebe. Von allem Anfang an hat er uns dazu bestimmt, durch Jesus Christus seine Söhne und Töchter zu werden. Das war sein Plan; so hatte er es beschlossen. Und das alles soll zum Ruhm seiner wunderbaren Gnade beitragen, die er uns durch seinen geliebten ´Sohn` erwiesen hat.“ (NGÜ) Siehe daneben auch Röm 8,28–39; Eph 1,3–14; 1 Thess 1,4–5; 2 Thess 2,13–14; 1 Tim 5,21; 2 Tim 1,9–10; 1 Pt 1,1; 2,9; Off 13,7–8.

„Daß nämlich nicht Du, sondern Gott der Urheber Deines Heils ist“

Die Erwählungslehre wird von allen reformatorischen Kirchen klar gelehrt, seien es nun die Lutheraner (Konkordienformel, XI), Anglikaner (39 Artikel, XVII) oder die Reformierten (Hugenotten-Bekenntnis, XII; Niederländisches Bekenntnis, XVI; am ausführlichsten in der Dordrechter Lehrregel, I,1–18). Im Westminster-Bekenntnis heißt es im Kapitel zum Ewigen Ratschluß (eternal decree) Gottes:

„Durch den Ratschluß Gottes sind zur Offenbarung seiner Ehre einige Menschen und Engel zum ewigen Leben vorherbestimmt und andere zum ewigen Tod verordnet [1 Tim 5,21; Mt 24,41; Röm 9,22–23; Eph 1,5–6; Spr 16,4]. Diese so vorherbestimmten und vorausverordneten Engel und Menschen sind speziell und unabänderlich bezeichnet, und ihre Zahl ist so sicher und begrenzt, daß sie weder vermehrt noch vermindert werden kann [2 Tim 2,19; Joh 13,18]. Diejenigen, die aus der Menschheit zum Leben vorherbestimmt sind, hat Gott vor Grundlegung der Welt nach seinem ewigen und unabänderlichen Vorsatz und dem verborgenen Rat und guten Wohlgefallen seines Willes in Christus zur ewigen Herrlichkeit erwählt, und zwar aus völlig freier Gnade und Liebe und nicht aus irgendeiner [bloßen] Voraussicht des Glaubens oder guter Werke… und ohne daß ihn sonst irgend etwas in dem Geschöpf als Vorbedingung oder Ursachen dazu bewogen hätte [Eph 1,4.9.11; Röm 8,30; 2 Tim 1,9; 1 Thess 5,9; Röm 9,11.13.16; Eph 1,6.12].“ (III,3–5)

Bekannt ist auch Calvins Definition der Prädestination: „Unter Vorbestimmung verstehen wir Gottes ewige Anordnung, vermöge derer er bei sich beschloß, was nach seinem Willen aus jedem Menschen werden sollte. Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis zugeordnet.“ (Inst. III,21,5) Der Genfer behandelt die Erwählung erst in der Mitte seines Hauptwerks und widmet ihr selbst dort überraschend wenig Raum (für die Verteidigung braucht er dann aber einige Kapitel).

Der Heidelberger Katechismus enthält keine Frage zur Erwählung, was allein schon zeigt, dass sie kein reformiertes „Zentraldogma“ war, wie man öfter hört. Dennoch hat der Autor des Katechismus fest an sie geglaubt. Ursinus in einem seelsorgerlichen Brief aus dem Jahr 1573, der es wert ist, ausführlich zitiert zu werden:

„Mir scheint der Teil der christlichen Lehre welcher von der Prädestination handelt, nicht, wie Du schreibst, der schwierigste zu sein; wofern wir nur die heilige Schrift ohne Vorurteile lesen und ohne Leidenschaft mit dem ernsten Streben, nicht etwa Gott nach unseren Phantasiegebilden umzugestalten, sondern von Ihm selbst über Ihn zu lernen und ihm allein alle Ehre zu geben und von uns ab zu Ihm hin zu wenden. So ist mir vieles leicht geworden, was schwierig zu sein schien, so lange ich auf das Ansehen der Menschen mich stützte, welche weder sich, noch mir halfen. Es gibt kein Stück der heiligen Lehre, über welches sich in den prophetischen und apostolischen Schriften mehr Stellen finden, als eben von der Vorsehung, von der Erwählung und dem freien Willen, so daß es mich Wunder nimmt, wie gelehrte und christliche Männer hier nicht vorwärts können… Wenn nicht gleich Alles Dir klar und deutlich wird, so lasse Dich dadurch nicht verwirren, sondern denke ernstlich in Deinem Gemüte nach, Gott um Beistand anrufend und jene Grundlage, welche bei den Frommen außer aller Frage steht, festhaltend: Daß nämlich nicht Du, sondern Gott der Urheber Deines Heils und alles dessen ist, was Du bist, hast und Gutes entweder Großes oder Kleines tust.. Unterscheide die Vorsehung von der Prädestination wie das Ganze von dem Teil. Denn die Vorsehung ist der ewige, unabänderliche und beste Ratschluß oder Dekret Gottes, demgemäß Alles auf die Ehre des Schöpfers und das Heil der Erwählten ausläuft. Prädestination ist der ewige Ratschluß Gottes wegen des Anfangs und der Vollendung des Heiles der Erwählten, sowie auch wegen der Verlassung und Verstoßung der Verworfenen zur Strafe; und umfaßt deshalb die Erwählung und Verwerfung (electionem et reprobationem) als seine Teile.“

Die lutherischen Kirchen lehnen die doppelte Prädestination ab und haben sich damit von Luther selbst, der gewiss noch an dieser festhielt, entfernt. Inzwischen wird manchmal der Eindruck erweckt, als ob die Vorhersehung Sondergut der Reformierten sei, doch die Konkordienformel bekennt klar die (einfache) Prädestination und leugnet, dass diese im bloßen Vorauswissen Gottes besteht: „Die ewige Wahl Gottes aber sieht und weiß nicht allein zuvor der Auserwählten Seligkeit, sondern ist auch aus gnädigem Willen und Wohlgefallen Gottes in Christo Jesu eine Ursache, so da unsere Seligkeit, und was zu derselben gehört, schafft, wirkt, hilft und befördert…“ (SD, XI,8)

Bis ins 19. Jahrhundert war die Prädestination Allgemeingut der Kirchen. Im Glaubensbekenntnis der deutschen Baptisten aus dem Jahr 1847 wird in Art. V die Erwählung der Gläubigen ausführlich behandelt. Diese ist gegründet in Gottes ewigem Vorsatz „vor Grundlegung der Welt“. Er gewährleistet, dass diese Erwählten auch „zum Glauben an Christus, zur Heiligkeit und endlich zur ewigen Seligkeit“ gebracht werden. Die Auserwählten können außerdem „den Händen Christi nicht entrissen werden“; sie werden „im Glauben und in der Liebe Christi bewahrt bleiben.“

Das Glaubensbekenntnis des Bundes der Südlichen Baptisten in den USA aus dem Jahr 2000 lehrt in Artikel V weiterhin die Prädestination: „Erwählung ist der gnädige Vorsatz Gottes, entsprechend dessen er Sündern die Wiedergeburt schenkt, sie rechtfertigt, heiligt und verherrlicht. Sie steht im Einklang mit Handlungsfreiheit des Menschen und schließt alle Mittel ein, die zu diesen Zielen führen. Sie ist die herrliche Darstellung der souveränen Güte Gottes und ist unendlich weise, heilig und unveränderlich. Sie schließt Prahlerei aus und fördert Demut. Alle echten Gläubigen bleiben solche bis zum Ende. Diejenigen, die Gott in Christus an genommen hat, die durch seinen Geist geheiligt sind, werden nie aus dem Gnadenstand abfallen, sondern dabei bleiben bis zum Ende.“

Auch das Bekenntnis der Freien evangelischen Gemeinde in Elberfeld-Barmen (1854) enthält einen Abschnitt zur Erwählung: „Wir glauben, daß der heilige Geist den Erwählten, mittelst des Wortes, das Heil zueignet, welches der Vater ihnen bestimmt und der Sohn ihnen erworben hat, dergestalt, daß, indem er sich mit Jesu vereinigt durch den Glauben, er in ihnen wohnt, sie von der Herrschaft der Sünde befreit, sie die Schrift verstehen lehrt, sie tröstet und sie versiegelt auf den Tag der Erlösung.“ (Art. 12)

„Ich glaube, dass ich nicht… glauben oder zu ihm kommen kann“

Die Erwählung wird oft als Hindernis zum Glauben gesehen, als schlechte Nachricht. Dabei ist es eine durch und durch positive Botschaft. Es wird so bekräftigt, dass das Heil uns nicht aufgrund unserer Werke zugeteilt wird. Auch der Glaube ist nicht der letzte Grund der Erlösung, sondern ‘nur’ sein Instrument.

Die Erwählungslehre versichert uns: die Erwählten, die Berufenen, die wahrhaft Gläubigen, die Gerechtfertigten, die in Zukunft Verherrlichten sind eine Gruppe, ihre Zahl steht fest. Dass unser Heil in Gottes Erwählung verankert ist, ist eine Botschaft des Trosts (s. Westminster-Bekenntnis, III,8). Calvin: „Wir haben keine andere Zuflucht als die Vorsehung“ (s. auch Inst. III,21,1). Die katholische Theologie verankert dagegen das Heil zu stark im Handeln der Kirche. Bei denjenigen Evangelischen, die die Erwählungslehre verachten, bleibt dann oft nur ein reiner Subjektivismus übrig. Es gilt ihnen Calvins Warnung, dass so Gottes Ehre gemindert, wahre Demut verachtet und die „einzige Stütze zu getroster Zuversicht“ ignoriert wird.

Erwählung beruht nicht auf unserem Glauben, den Gott vorhergesehen und uns deshalb erwählt hat wie oft behauptet wird. Er ist also bedingungslos (das U in der calvinistischen TULIP-Formel – unconditional election). Vorherwissen in der Bibel geschieht aufgrund Gottes Plan: er bestimmt die Zukunft und weiß deshalb im Voraus. Bei der SERG in Wuppertal befindet sich ein guter Überblick zur Erwählungslehre. Dort wird auch auf die Frage eingegangen, ob nicht der Glaube Voraussetzung der Erwählung sei:

„Diejenigen, die die Meinung vertreten, Gott habe den Glauben von Menschen vorausgesehen und sie darum erwählt, gehen davon aus, dass der Glaube an das Erlösungswerk Christi ganz oder teilweise im Vermögen des Menschen liege. Der Mensch hätte demnach von Natur aus eine von Gott gegebene, vom Sündenfall nicht verdorbene Anlage, die für das Reich Gottes geeignet wäre. Sie unterscheiden nicht den bibl. Glauben von einem Glauben an irgendwelche Inhalte, zu dem alle Menschen fähig sind. Sie behaupten, jeder Mensch könne an das Evangelium glauben, wenn er nur wolle. Damit widersprechen sie der Lehre der Hl. Schrift von der völligen Sündhaftigkeit des menschlichen Herzens. Das Herz des Menschen ist in den Dingen, die Gott und sein Reich betreffen, weder gewillt, noch in der Lage, im bibl. Sinne zu glauben. Allen religiösen Kundgebungen, die aus der Natur des Menschen stammen, liegt ein Verdienstdenken und damit Hochmut zugrunde. In seinen Neigungen und seinem Wollen ist er ein Feind Gottes (Röm 8,7). Das Wesen der Liebe und Gnade Gottes in Christus Jesus ist ihm völlig fremd. Darum kann auch die Annahme des vollbrachten Heils in Christus unmöglich ein Willensakt des ‘natürlichen’ Menschen sein (1. Kor 2,14; Joh 3,6), wie auch Luther im kleinen Katechismus schreibt: ‘Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann’. Auf uns selbst gestellt haben wir nichts, was für Gott annehmbar ist und ihn ehrt. Der Heilsglaube hat seinen Ursprung in Christus und seinem vollbrachten Erlösungswerk. Jesus ist der Anfänger und Vollender des Glaubens (Hebr12,2).“

Die Weichen werden also schon beim Sündenverständnis gestellt. Wer den unerlösten Menschen als tot in Sünden betrachtet, bekennt mit Luther (s.o.): „Ich glaube, dass ich nicht… glauben oder zu ihm kommen kann“. Wer diese reformatorische Grundüberzeugung ablehnt, behauptet dann wie auf www.was-christen-glauben.info unter dem Stichwort Prädestination: „Auch nach dem Sündenfall ist es möglich, nicht in Sünden versklavt zu sein, sondern über sie zu herrschen.“ Seit Augustinus wurde diese Position vehement verworfen, und mit dieser Lehre rückt man gefährlich an die Irrlehre des Pelagianismus heran.

„Es gebührt euch nicht, nach diesen Dingen so neugierig zu forschen“

Zu betonen ist natürlich, dass wir nicht wissen, warum Gott den einen oder anderen erwählt. Wir können seine Gründe nicht erforschen (s. z.B. Röm 11,33–36), was aber nicht bedeutet, dass Gott willkürlich handelt. Calvin betonte, „dass Gott gute Gründe hat, zu tun, was er tut, mögen sie uns auch noch so verborgen bleiben“.

Erwählung ist Teil der biblischen Lehre und soll verkündet und geglaubt werden. Doch es ist Vorsicht im Umgang mit ihr geboten (so vor allem das Westminster-Bekenntnis, III,8). Auch Calvin nennt die Prädestination einen „gefährlichen Ozean“ (Inst. III,24,4)! Man muss gut und genau überlegen, wann sie wem auf welche Weise gelehrt wird. Sie ist z.B. in gewissem Sinne nicht Teil der evangelistischen Verkündigung. Wir rufen nicht zum Glauben an die eigene Erwählung auf, denn die ist nur Gott bekannt. Wir sprechen einzelnen nicht zu: du bist erwählt und du nicht. Heinrich Bullinger im Zweiten Helvetischen Bekenntnis:

„Obwohl nun Gott weiß, wer die Seinen sind, und da und dort die geringe Zahl der Erwähl­ten erwähnt wird, muss man doch für alle das Beste hoffen und darf nicht vorschnell jeman­den den Verworfenen beizählen… Und als der Herr nach Lukas 13,23 gefragt wurde, ob nur Wenige oder Viele gerettet oder verworfen würden, antwortet der Herr nicht, dass Wenige oder Viele gerettet oder verworfen werden müssen, sondern er gibt vielmehr die Ermahnung, es solle jeder trachten, durch die enge Pforte einzugehen. Als hätte er gleichsam sagen wollen: es gebührt euch nicht, nach diesen Dingen so neugierig zu forschen, sondern bemüht euch, auf dem schmalen Weg in den Him­mel einzugehen.“ (X,4–5)

Alle sollen zu Buße und Glaube aufgerufen werden; keiner darf sich hinter der Frage verstecken, ob er erwählt ist: „Wir missbilligen deshalb das Verhalten jener Menschen, die außerhalb des Glaubens an Christus Antwort suchen auf die Frage, ob sie von Ewigkeit her erwählt seien und was Gott vor aller Zeit über sie selbst beschlossen habe. Man muss eben die Predigt des Evangeliums hören und ihr glauben und darf nicht daran zweifeln: wenn du glaubst und in Christus bist, so bist du erwählt.“ (X,7–8)

Die Erwählungslehre ist auch nicht mit Fatalismus, Passivität usw. zu verwechseln (wenn sie denn biblisch formuliert ist). Erwählung ist nicht alles, d.h. nur ein Teil des Heilsweges, aber sie ist logische Grundlage oder Anfang. Calvin unterstrich, dass „die Erwählung den Vorrang hat. Sie muß vorangehen, während der Glaube, der Ordnung entsprechend, folgt.“ (Von der ewigen Erwählung) Wir sind erlöst, weil Gott sich für uns entschieden hat. Aber das bedeutet nicht, dass wir immer ganz passiv sein sollen. Wegen der Erwählung können wir uns überhaupt für ihn entscheiden. Wird im Heilsweg der Glaube an die erste Stelle gestellt, erlöst sich jedoch der Mensch letztlich durch sein Handeln selbst. Die Dordrechter Lehrregel (I, 6) beachtet die richtige Reihenfolge: „Nach diesem Ratschluß erweicht er gnädig die Herzen der Auserwählten, obwohl sie hart sind, und neigt sie gnädig zum Glauben; diejenigen aber, die nicht erwählt sind, beläßt er nach seinem gerechten Urteil in ihrer Bosheit und Hartherzigkeit.“

Dr. Jochen Denker, reformierter Pfarrer in Wuppertal, in einem Vortrag 2009: „Calvin hält damit nämlich fest: Auch der Christ, auch der, der Gottes Evangelium gehört hat und ihm durch den Heiligen Geist gehorsam antwortet, soll keinen Augenblick vergessen, dass er nicht deshalb von Gott begnadigt ist, weil er gehorsam ist, sondern er ist gehorsam, er hört das Evangelium und folgt Christus nach, weil er begnadigt ist. Ein Recht auf Gnade kann er daraus nicht ableiten. Insofern hat die doppelte Prädestinationslehre für Calvin nach innen, in die Gemeinde selber hinein, auch eine kritische Funktion. Überheblichkeit, Selbstsicherheit darf aus ihr niemals erwachsen. Für Calvin handelt es sich nicht um eine philosophische, spekulative oder abstrakte Idee, sondern schlicht um eine Lehre, die darin bestärkt, dass Gottes freie Gnade der ewige Grund für unser Heil ist. Nur die Gnade, nur durch Christus!“

„Der Gedanke an… meine Brüder… erfüllt mein Herz mit tiefer Traurigkeit“

Die logische Kehrseite der Erwählung ist die Verwerfung, die in manchen Zitaten schon genannt wurde. Daher wird traditionell von einer „doppelten Prädestination“ – zum Heil und eben zum Unheil – gesprochen. Die meisten evangelischen Kirchen lehnen heute diesen zweiten Aspekt der Erwählung ab, was jedoch nicht überzeugt. (In der Leuenberger Konkordie: „Das Christuszeugnis der Schrift verwehrt uns, einen ewigen Ratschluß Gottes zur definitiven Verwerfung gewisser Personen oder eines Volkes anzunehmen.“ [III,31]) Die doppelte Prädestination wurde von allen Reformatoren vertreten (erst später lösten sich die Lutheraner in den Spuren Melanchtons davon), denn sie erkannten sie als biblische Lehre. Schon Calvin diskutiert in Inst. III,23 zahlreiche Einwände.

Selbst manche pietistischen Lutheraner sprechen geradezu mit Abscheu über die Lehre von der Erwählung zum Unheil (s.o. Riecker). Aber wie erklären sie dann Verse wie 1 Pt 2,8 („Sie stoßen sich ‘an diesem Stein’, wie es allen bestimmt ist, die nicht bereit sind, Gottes Botschaft Glauben zu schenken“, NGÜ)? Es ist klares Zeugnis der Bibel, dass Gott auch souverän Wahrheit verbirgt, damit Menschen nicht glauben; er verhärtet und verstockt aktiv (s. 1 Sam 2,25; 2 Sam 24,1; Ex 4,21; 7,3–4.13; 8,15; 10,1.27; 11,10; 14,4.17; Dt 2,30; 29,3; Jes 6,9–10; 29,9–10; 63,16–17; Mt 13,11–15; 11,25–27; Joh 12,38–40; Apg 28,25–27; Röm 9,17; 11,7; 2 Kor 3,14; Jud 4). Eine absolute Souveränität Gottes wird auch in Röm 9,14–23 gelehrt, wo Paulus das ewige Schicksal seiner Landsleute diskutiert:

„Welchen Schluss sollen wir nun daraus ziehen? Ist Gott etwa ungerecht? Niemals!  Er sagt ja zu Mose: »Wenn ich jemand mein Erbarmen schenke, tue ich es, weil ich Erbarmen mit ihm habe; wenn ich jemand mein Mitleid erfahren lasse, geschieht es, weil ich Mitleid mit ihm habe.« Es liegt also nicht am Menschen mit seinem Wollen und Bemühen, sondern an Gott und seinem Erbarmen. Aus diesem Grund steht in der Schrift auch folgendes Wort, das Gott dem Pharao sagt: »Die Macht, die du hast, habe ich dir deshalb gegeben, weil ich an dir meine eigene Macht zeigen will und weil dadurch mein Name überall in der Welt bekannt werden soll.« Wir sehen also, dass Gott so handelt, wie er es will: Er lässt den einen sein Erbarmen erfahren, und er bewirkt, dass ein anderer sich ihm gegenüber verschließt. Man wird mir jetzt entgegenhalten: »Warum zieht er uns dann noch zur Rechenschaft? Dem, was er beschlossen hat, kann sich ja doch niemand widersetzen!« So? Was bildest du dir ein? Du bist ein Mensch und willst anfangen, mit Gott zu streiten? Sagt etwa ein Gefäß zu dem, der es geformt hat: »Warum hast du mich so gemacht, ´wie ich bin`?«  Hat der Töpfer nicht das Recht, über den Ton zu verfügen und aus ein und derselben Masse zwei verschiedene Gefäße zu machen – eines für einen ehrenvollen Zweck und eines für einen weniger ehrenvollen Zweck? Und ´was sagst du dazu,` dass Gott die, die ´gewissermaßen` als Gefäße seines Zorns für das Verderben bereitgestellt sind, bisher mit so großer Geduld getragen hat? Er will zwar, dass man ´an ihnen die Auswirkungen` seines Zorns sieht und seine Macht erkennt. Andererseits will er aber auch, dass man erkennt, in welch reichem Maß er seine Herrlichkeit den Gefäßen seines Erbarmens schenkt – uns, für die er diese Herrlichkeit vorbereitet hat.“ (NGÜ)

Der reformierte Theologe Louis Berkhof (1873–1957) unterschied – in den Spuren seiner Tradition – zwei Aspekte der Verwerfung: Gott übergeht die Verworfenen, belässt sie passiv in ihrem Unheil; warum er dies tut, wissen wir nicht. Und er beschließt sie aktiv zu strafen und zu verdammen; der Grund dafür ist bekannt, nämlich die Sünde der Menschen. Es ergibt sich damit eine wichtige Asymmetrie im Hinblick auf Heil und Unheil, die z.B. in der Dordrechter Lehrregel gut festgehalten wird. Auf die Frage „Warum bin ich gerettet?“ ist letztlich zu antworten: weil Gott mich erwählt hat; auf die Frage „Warum bin ich verdammt?“ ist zwar auch richtig zu antworten: weil Gott mich nicht erwählt hat. Doch hier wird als Grund auch in der Bibel öfter genannt: wegen meiner Sünde. D.h. bei der Frage des Heils sind die Werke draußen und alles wird Gott zugeschrieben; bei der Frage des Unheils sind die Werke wieder drin, unsere Schuld wird betont. Gott kontrolliert auch das Böse, ihn trifft aber keine Schuld an unserer Sünde. Wie dies zu erklären ist, wissen wir letztlich nicht.

Dieses Ungleichgewicht begegnet uns auf vielerlei Art. Die Verwerfung nimmt viel geringeren Raum in der Bibel ein, wir haben über sie viel weniger Informationen als über die positive Errettung (dies ist auch der Grund, warum sie in manchen Bekenntnissen gar nicht oder nur am Rand erwähnt wird). Gott wird für die Erwählung gelobt (Eph 1,3–6), aber die Verdammnis (obwohl auch sie letztlich zur Gottes Ehre dient) ist kein Grund zu Lob und Freude. Paulus selbst in Röm 9,1–4:

„Was ich jetzt sage, sage ich in der Gegenwart Christi. Mein Gewissen bezeugt mir, und der Heilige Geist bestätigt mir, dass es die Wahrheit ist und dass ich nicht übertreibe: Der Gedanke an die Angehörigen meines Volkes, an meine Brüder, mit denen mich die gemeinsame Herkunft verbindet, erfüllt mein Herz mit tiefer Traurigkeit. Ihretwegen bin ich in ständiger innerer Not; ich wäre sogar bereit, für sie ein Verfluchter zu sein, ausgestoßen aus der Gemeinschaft mit Christus. Sie sind ja Israeliten…“ (NGÜ)

Diese Lehre von Erwählung und Verwerfung mag schwer zu schlucken sein. Aber was ist die Alternative? Thomas Schirrmacher: „Es ist leicht zu behaupten, daß die Lehre, daß Gott die Welt regiert und auch mein persönliches Leben und Heil bestimmt, unlogisch ist, solange man keine Alternativen anbieten muß. Welches ist aber die vernünftige, logische und biblische Alternative? Daß alles Zufall ist? Daß Gott nur zuschaut? Wenn Gott nicht das letzte Wort in allen Dingen spricht, wer tut es dann? Etwa der Teufel?“ (Der Römerbrief)  Oder wir selber?

 „Der Niedergang des Protestantismus in Deutschland“

Abschließend sei hier noch aus dem Text „Die Ursachen des Niedergangs der reformierten Kirche in Deutschland“ (1881) von Adolph Zahn zitiert. Zahn (1834 – 1900), Doktor der Theologie und übrigens ein Vetter Adolf Schlatters, war reformierter Pfarrer in Halle (Domprediger von 1859–1875), Elberfeld (er amtierte als einer von zwei Pfarrern in der reformierten Gemeinde von 1876–1877) und Stuttgart (ab 1881).

Zahn bedauert zutiefst, dass die Prädestination nun die „am meisten gehaßte und am meisten bestrittene Lehre“ ist. Beginnend vor allem mit der Aufklärung wurde „jene Weltbetrachtung aufgegeben, aus der die reformierte Kirche in den Zeiten der Reformation entstanden ist und in der sie allein ihr Leben finden konnte: ich meine die Lehre, die man gewöhnlich mit dem Namen der Prädestination bezeichnet. Wie dieselbe aufs Klarste in der heiligen Schrift bezeugt ist, namentlich durchsichtig im Römer- und Epheserbrief, wie sie gleicherweise von Augustin, Luther und Calvin gelehrt wird und in einigen Lehrern des Mittelalters als das einzige Vorreformatorische auftritt, wie sie bis zur Konkordienformel auch von strengen Lutheranern wie Flacius und selbst Heßhuß verteidigt wurde und in dem letzten symbolischen Buch nicht beseitigt, sondern nur mit einer sehr schwachen antiprädestinationischen Tendenz gemildert werden soll, so ist sie auch das Fundament gewesen, auf dem die Entwickelung und Kraft der reformierten Kirche ruhte.“

Sehr gut bringt Zahn auf den Punkt, worum es in der Lehre letztlich geht: „Es handelt sich bei der Prädestination nicht um ein abstraktes Dogma des Verstandes über ein Geheimnis Gottes, sondern um eine großartige Auffassung der Beziehungen Gottes zur Menschheit überhaupt: sie ist die Lehre von der völlig unabhängigen Souveränität Gottes, der mit einer von ihm abgefallenen durchaus sündigen Welt verfahren könne, wie er wolle und der nach seiner heiligen Freiheit und nach seinem heiligen Recht handle, wenn er gerechtspreche, wen er wolle und verdamme, wen er wolle. Es ist die Lehre, daß Gott ganz Gott und Herr sei und der Mensch ihm gegenüber schlechthin nichts beanspruchen könne, auch schlechthin nichts aus sich selbst sich aneignen könne, sogar wenn Gott selbst es ihm anbiete. Es ist die Lehre der freien und freisten Gnade.“

Die Prädestination, so Zahn, ist „die Lehre von dem grundlosen Erbarmen Gottes. Ein reformiertes Kind spricht diese Lehre einfältig aus, wenn es auf die Frage: Kannst du aus dir selber glauben – die Antwort gibt: auch nicht einen Augenblick.“ In dieser Lehre „lag der unendliche Trost in den furchtbaren Leiden und Verfolgungen, den diese mit Blut überschüttete Kirche in ihren tausend und abertausend Opfern der Päpste und Könige der Erde zu erdulden hatte, in ihr die Kraft der Beharrung, in ihr die wunderbare Auferstehung aus Grab und Untergang zu neuem Leben…“

Doch ab Mitte des 18. Jahrhunderts „erhob sich [eine neue Weltbetrachtung] mit allgemeinem Beifall: eine heidnische, in der das Menschliche Gott gegenüber auf den Thron gesetzt wurde. Sie hat namentlich die reformierte Kirche zerstört… Das ist das Ende der Entwicklung nach der Verwerfung der Prädestinationslehre. Gott ist von dem Menschen völlig verdrängt…“ In der Verdrängung der Prädestination, in einer neuen Dogmatik, sieht Zahn „die tiefliegendste Ursache des Niederganges der reformierten Kirche“, ja den „Niedergang des Protestantismus in Deutschland“ begründet.

Zahn erinnert daran, dass auch das Augsburger Bekenntnis im 5. Artikel lehrt: „der heilige Geist wirkt den Glauben, wo und wenn es Gott gefiel. Der spätere Eifer der Lutheraner gegen die Prädestination ist ein Protest gegen ihre eigenen Bekenntnisschriften und neuerdings scheint man gar nicht mehr zu wissen, daß die lutherische Kirche auch eine ganz bestimmte Erwählungslehre gehabt hat.“

Sehr gut stellt er dar, dass in den wesentlichen Fragen Reformierte und Lutheraner zusammenstehen:

„Trotz aller Ausweichungen liegt die Frage noch immer so: bekehrt Gott den Menschen in einem ausschließlichen Werk (das lehrten Lutheraner und Reformierte übereinstimmend im Thorner Gespräch [1645]), und dies dann – da die Bekehrung bei so Wenigen eintritt – nach einem geheimnisvollen Rat über den Einzelnen, oder nimmt der Mensch aus sich selbst die angebotene Gnade an und liegt der Unterschied bei den Wenigen, die dies erfahrungsmäßig tun, in dem Blut und Charakter derselben. Es sind nur Trügereien, die sich dieser Alternative entziehen wollen. Der Nüchterne muß dies zugeben und so bleibt ihm denn die Wahl zwischen einem Geheimnis in dem Wesen Gottes, der Wenige auserwählte – und einem Geheimnis in den Charakteren der Menschen, von denen unter Millionen Einzelne so rätselhaft gestaltet sind, daß sie der Gnade ihre Zustimmung gewähren, während ihre unzählbaren Brüder der gleichen Erde dies aufs entschiedenste verweigern. Will man nun lieber ein Geheimnis in Gott oder ein Geheimnis in den Menschen?“

Zahn geht mit seiner Kirche hart ins Gericht („Es ist ein geschichtliches Gesetz, daß gerade eine solche Kirche, der die höchsten Güter anvertraut waren, und die wie mit Leiden so auch mit Wohltaten gekrönt wurde, in ihrem Abfall, in ihrer Zerstörung die abscheulichsten Formen des Verderbens offenbart“). Aber er hat auch Hoffnung: „Eine jahrhundertlange Beseitigung der Wahrheit ist noch kein Untergang derselben und es kann wiederkehren, was verloren.“ Tatsächlich erlebt der Calvinismus in den letzten Jahren eine Art Renaissance, zu nennen seien hier nur die „Neuen Calvinisten“ (T. Keller, J. Piper, A. Mohler, M. Dever, P. Washer, K. DeYoung u.a.).