Flucht vor den Kinderschützern

Flucht vor den Kinderschützern

Hunderttausende Litauer arbeiten im europäischen Ausland. Um die Jahrtausendwende zog es besonders  viele nach Spanien, Irland und England. Als fleißige, flexible  und zuverlässige Mitarbeiter geschätzt erledigen sie Jobs, für die sich Einheimische nicht in ausreichender Zahl finden. In Großbritannien hat sich die litauische Gemeinde inzwischen fest etabliert, Geschäfte, Schulen und Zeitungen wurden gegründet. Spanien wurde wegen der Krise ab 2008 praktisch geräumt, und seit etwa zehn Jahren liegt Norwegen ganz im Trend: mindestens 35.000 litauische Bürger, nach anderen Angaben sogar über 60.000, leben im skandinavischen Land. Nach den Polen mit etwa einhunderttausend Emigranten sind die Litauer damit (abgesehen von den Somaliern und den benachbarten Schweden) die größte Ausländergruppe.

Das Image Norwegens geht in diesen Tagen in Litauen jedoch den Bach runter. Die Schlagzeilen der Zeitungen, TV-Sendungen zur besten Sendezeit, zahllosen Beiträgen im Internet mit manchmal tausenden Kommentaren drehen sich um eins: das Schicksal von litauischen Familien, denen die Kinder von der norwegischen Kinderschutzeinrichtung „Barnevernet“ abgenommen wurden. Dies norwegische Wort kennt hier inzwischen bald jedes Kind.

Den Stein richtig ins Rollen brachte ein Artikel auf der Titelseite der letzten Samstagsausgabe von „Lietuvos rytas“, der größten Tageszeitung. Und ein aktueller Fall: Ende Januar wusste sich eine in Norwegen lebende litauische Familie nicht mehr zu helfen und griff zu drastischen Maßnahmen. Den von „Barnevernet“ einer Pflegefamilie übergebenen Sohn ließ man vom Onkel des Kindes bei passender Gelegenheit auf einer öffentlichen Toilette ‘entführen’, um das Kind in die Heimat zu bringen. Die Flucht endete im Hafen auf der Fähre von Schweden nach Klaipeda; der Achtjährige wurde vor einigen Tagen von den schwedischen Behörden nach Norwegen überstellt.

In Deutschland haben die Todesfälle von Kindern und Kleinkindern dazu geführt, dass kritisch gefragt wird: Hätte das Jugendamt nicht genauer hinsehen und früher eingreifen müssen? Warum so wenig Aktivität? Sind unsere Kinder wirklich sicher? Gerade gestern wurde das Urteil im Fall des Todes von Chantal gefällt, die vor einigen Jahren durch eine Überdosis eines Methadonpräparates umkam – ihre Pflegeeltern waren drogenabhängig. Das Jugendamt will nichts gewusst haben. Undenkbar in Norwegen. Dort stellt sich die Situation deutlich anders dar. Von mangelndem Einsatz und Sorgfalt der Kinderschutzbehörde kann keine Rede sein. Eingegriffen wird nicht erst dann, wenn Kindesmissbrauch oder eindeutige Vernachlässigung vorliegt. Die Latte liegt deutlich höher – und so reißen manche litauische Eltern diese, weil sie den norwegischen Erziehungsmaßstäben und deren Vorstellungen von Kindeswohl nicht entsprechen.

Eltern geraten so schnell auf den Radar von „Barnevernet“. Da genügt es, die Kinder nicht pünktlich in Kindergarten oder Schule zu bringen oder nicht rechtzeitig aus den Ferien in Litauen zurückzukommen; das Kind hat kein Schulbrot mitbekommen, nicht genug Privatsphäre zu Hause, sprich kein eigenes Zimmer, oder Karies oder war heute so betrübt. Und jede Art von Gewalt und Züchtigung ist natürlich sowieso Tabu.

Seit über sechzig Jahren hat sich Norwegen das Kindeswohl auf die Fahnen geschrieben, und seit gut zwanzig Jahren gibt es scharfe gesetzliche Regelungen. Die Hilfsangebote von „Barnevernet“ sind vielfältig, und gute finanzielle Ausstattung macht es möglich, Eltern zahlreiche Hilfsangebote zu machen. Es bleibt jedoch bei dem Grundproblem, der Überzeugung der norwegischen Stellen: Wenn du nicht dein Kind entsprechend der von uns festgesetzten Richtlinien erziehst, greifen wir ein. Also nicht unbedingt nur im Notfall, wie das in Deutschland die Regel ist und wo auch – wie in Litauen – die Elternrechte besser verankert sind.

Natürlich ist dieser Konflikt auch ein kultureller. In Norwegen ist man stolz auf jahrzehntelange ‘moderne’ Familienpolitik. Die Einwanderer kommen dagegen aus einem katholisch und eher autoritär geprägten Land. Hier treffen in Europa mitunter Welten aufeinander. So sind nächtliche Feiern mit Alkohol in der Familie in Litauen nichts Anstößiges – in Norwegen dagegen schon. Um die 50% der Eltern in Litauen verwerfen körperliche Züchtigung nicht völlig, was nicht heißt, dass man auf die Kinder gerne eindrischt. Doch solche Zahlen zeigen, dass aus norwegischer Sicht die Litauer Nachholbedarf haben.

Angesichts von Zehntausenden litauischen Gastarbeitern im Land und demgegenüber etwa einem Dutzend Wegnahmen von Kindern (zumindest sind so viele den litauischen Stellen bekannt) sollte die Situation wohl nicht dramatisiert werden. Dies unterstrich gestern auch der litauische Außenminister, den die Präsidentin zum Rapport beordert hatte. Von diesem Dutzend sind den Eltern zehn Kinder, so Linkevičius, zurückgegeben worden. Es geht also um Einzelfälle.

Für litauische Kinder gilt dies durchaus, doch man muss sich nicht lange durchs Netz klicken, um zu sehen: Auch Eltern aus Russland und Indien, aus Polen und Tschechien, ja aus vielen Ecken der Welt demonstrieren vor norwegischen Botschaften gegen den „Raub“ ihrer Kinder durch „Barnevernet“. Viele sind verbittert durch die geringe Transparenz im Vorgehen der Norweger. Und hinderlich ist gewiss auch, dass das Land das „Haager Übereinkommen über den Schutz von Kindern“ aus dem Jahr 1996 interessanterweise (noch) nicht unterzeichnet hat. Dies wurde nämlich auch deshalb aus der Taufe gehoben, um in diesen Fragen Konflikte zwischen verschiedenen Rechtssystemen zu vermeiden. Bisher kann es sich das skandinavische Land leisten, in rechtlicher Hinsicht keinerlei Rücksichten zu nehmen. Man verfährt allein nach dem eigenen System und will sich dieses nicht aufweichen lassen. Den litauischen Stellen fehlt so eine wichtige Gesprächs- und Verhandlungsgrundlage.

Die litauische Botschaft in Norwegen hat im Moment nur eine Hauptaufgabe. Der öffentliche Druck sorgt dafür, dass sich höchste Regierungsstellen der Sache angenommen haben. Eine wahrliche nicht gute Figur macht dabei die oberste Kinderschutzbeauftragte Litauens. Sie springt eher der norwegischen Seite bei und sagt doch tatsächlich, dass man in Litauen das Kind als Teil der Familie ansieht und dagegen in Norwegen das Wohl des Kindes im Mittelpunkt steht. Mehrfach gab sie (wie vor der Presse bei der Präsidentin) zu verstehen, dass die feste Verankerung in der Familie ein Problem sei. Aber wenn man hier erst einen Gegensatz aufgebaut hat, dann zieht natürlich die Familie den Kürzeren! Manche litauischen Kommentatoren meinen sogar: wir brauchen so ein „Barnervernet“-Monster auch in Litauen! Auf der anderen Seite kursieren schon die wildesten Verschwörungstheorien über Kinderhandel in Norwegen.

Es stimmt ja durchaus, dass nicht unbedingt die Elite des Volkes nach Norwegen zieht: Durchschnittslitauer, denen ‘aufgeklärte’ Erziehungsmethoden teilweise fremd sind. Manche Erziehungsexperten in Litauen machen es sich jedoch zu leicht und schieben den Schwarzen Peter den Emigranten zu. Hilfe erfahren diese Eltern im Ausland auch von litauischer Seite viel zu wenig. Und anstatt sich auf die Zustände in staatlichen litauischen Heimen zu konzentrieren, von den es immer noch genug gibt, träumt die Kinderschutzbeauftragte wohl lieber von einer gleichsam allmächtigen Behörde – als ob das die Probleme in Litauen lösen würde.

In einigen Tagen  wird der Fall des achtjährigen Gabrielius im norwegischen Molde vor Gericht verhandelt. Beobachter der Botschaft sind trotz Antrag nicht zugelassen. Die Eltern werden ihr Kind wohl ganz verlieren – wen wundert’s. Unter den in Norwegen lebenden Litauern geht nun die Angst um. Die Statistik gibt dazu eigentlich keinen Anlass, aber der mediale Hype tut ein Übriges. Leider ist Angst nicht der beste Erziehungsratgeber. Aber zur Hilfe gibt‘s zum Glück ja „Barnevernet“.

PS: Der Papst, hätte er den Nachwuchs, würde seine Kinder in Norwegen wohl schnell verlieren. Heute machte diese Meldung in den Medien die Runde: „Seine Kinder zu schlagen ist aus Sicht von Papst Franziskus in Ordnung – solange dabei deren Würde geachtet werde. Das erklärte das Kirchenoberhaupt diese Woche bei seiner wöchentlichen Generalaudienz, die der Rolle von Vätern in der Familie gewidmet war. Bei der Gelegenheit gab Franziskus preis, was für ihn einen guten Vater ausmache. Dies sei jemand, der vergebe, aber “mit Bestimmtheit zu korrigieren” vermöge, ohne dabei das Kind zu entmutigen.“

Siehe auch dieser Beitrag: „Group of MPs want Lithuanian government to pick a fight with Norway over children’s welfare