„Aggressive EU“? – Leserbrief im „Spiegel“

„Aggressive EU“? – Leserbrief im „Spiegel“

Vor eingen Wochen nahm der deutsche Schriftsteller Eugen Ruge im „Spiegel“ (50/2014) zur westlichen Russland-Politik Stellung. Der Beitrag „Die Hybris des Westens“ ist nun hier im Archiv des Magazins zu lesen. In der Woche darauf reagierte Romain Leick: „Europa darf nicht blinzeln“. In der ersten Nummer des neuen Jahres wurde mein Leserbrief zu Ruges Artikel abgedruckt, s. hier:

Leserbrief 2

Zum Thema in der Nummer 1/2015 auch Auszüge aus einem Interview mit dem Historiker Heinrich August Winkler. Seine Aussagen halt ich allesamt für richtig:

Spiegel:  Was ist mit der Osterweiterung von EU und Nato?

Winkler: Der Westen hat nach 1989/90 versucht, eine Zone der Instabilität wie in der Zwischenkriegszeit zwischen 1919 und 1939 zu vermeiden. Damals ist die Demokratie in fast allen Fällen nach wenigen Jahren gescheitert [in Litauen 1926]. Im Übrigen hat die Nato die ostmitteleuropäischen Staaten nicht zum Beitritt gedrängt. Es waren diese Staaten, die aufgrund der Entwicklung in Russland  fürchteten, ihre größte Errungenschaft, die Befreiung von der Ordnung von Jalta, könnte rückgängig gemacht werden.

[…]

Spiegel: Wenn es nicht am Westen lag – was ist dann Ihrer Meinung nach im Verhältnis zu Russland falsch gelaufen?

Winkler: Russland hat bereits in den Neunzigerjahren einen ganz anderen Entwicklungsweg eingeschlagen als die ostmitteleuropäischen Staaten, die 2004 Mitglieder der EU wurden. Unter Putin kamen nach 2000 die Gleichschaltung der Justiz, die Unterdrückung oppositioneller Gruppen und eine Politik des kompensatorischen Nationalismus hinzu.

Spiegel:  Kompensation für was?

Winkler: Das erschreckende Zurückbleiben hinter den Herausforderungen einer wirtschaftlichen Modernisierung. Von dem Sozialpsychologen Daniel Katz stammt der Begriff des „enhanced psychic income“, des seelischen Sondereinkommens, das durch die Befriedigung kollektiver Bedürfnisse nach nationaler Größe erzielt wird. Das kann eine Zeit lang funktionieren, aber der Popularitätsbonus, den Putin durch die Annexion der Krim erzielt hat, ist keine Größe, auf die er sich verlassen sollte. Derartige Kompensationen verbrauchen sich rasch, wenn die ökonomischen Daten so katastrophal sind wie in Russland.

Spiegel: Warum verfängt ein solcher kompensatorischer Nationalismus in Russland überhaupt?

Winkler: Beherrschend ist das Gefühl der Demütigung durch die Auflösung der Sowjetunion. Schon um die Epochenwende 1989/1990 gab es Anzeichen für die Wiederbelebung des Mythos von Moskaus als dem dritten Rom. Dahinter steckt die Idee, dass Russland der eigentliche Repräsentant des Christentums und dem dekadenten Westen haushoch überlegen sei. Einige rückwärtsgewandte Elemente des Putinismus wie der Antifeminismus und die Homophobie sind auch durch seine Zusammenarbeit mit der dezidiert antiwestlichen russischen Orthodoxie zu erklären. Da kommen Traditionen zum Zuge, die älter sind als der Sowjetkommunismus.

Spiegel:  Verunsichert es Sie nicht, dass mit Helmut Kohl, Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher und Gerhard Schröder einst führende deutsche Außenpolitiker die Russland-Politik des Westens kritisieren?

Winkler: Ich wundere mich, in welchem Maße hochverdiente Politiker offenkundig nicht verstanden haben, dass wir in einem neuen Europa leben, zu dem unsere enge Partnerschaft mit den ostmitteleuropäischen Demokratien gehört. Es gibt keine legitimen deutschen Interessen, die nicht zugleich auch Interessen Europas und des Westens sind. Ich sehe da Ansatzpunkte für einen neuen Sonderweg, was den Befürwortern einer solchen Politik offenbar gar nicht bewusst ist.

Spiegel:  Kritik an der westlichen Russland-Politik ist im gesamten politischen Spektrum zu vernehmen.

Winkler: Es ist schon außerordentlichen bedenklich, dass die Zahl derer nicht klein ist, die an alte deutsch-russische Gemeinsamkeiten anknüpfen wollen. Das reicht von Alexander Gauland von der AfD über Lothar de Maiziere, den letzten DDR-Ministerpräsidenten, bis zu Matthias Platzeck, dem ehemaligen SPD-Chef, und der Partei Die Linke. Häufig fällt dann der Name Bismarck. Wenn Polen und Balten das hören und lesen, denken sie an den Hitler-Stalin-Pakt oder im Falle Polens auch die drei Teilungen des Landes durch Russland, Preußen und Österreich.

Spiegel: Mehr als 6  prominente Politiker, Künstler, Unternehmer und Diplomaten haben Anfang Dezember mit dem Aufruf „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ vor einer Eskalation der Ukraine-Krise gewarnt.

Winkler: Ich frage mich, ob den Unterzeichnern das Bewusstsein fehlt, dass sie dabei sind, die EU zu spalten und die Nato dazu. Wie will man unsere Verpflichtung zur Solidarität gegenüber Polen und den baltischen Staaten vereinbaren mit einem Plädoyer für deutsche Alleingänge? Horst Teltschik, der Kanzlerberater Kohls, hat Angela Merkel aufgefordert, sie solle Putin ein Angebot machen. In wessen Namen? Die Vorstellung, wir könnten uns über die Köpfe der Ukrainer hinweg mit Russland verständigen, bedeutet einen Rückfall in deutsches Großmachtdenken. Diese Zeiten sind unwiderruflich vorbei.