Zwischen Antikatholizismus und Anpassung

Zwischen Antikatholizismus und Anpassung

Im EBI-Kurs „Zeitgenössische theologische Strömungen“ unterrichtet Holger an diesem Wochenende auch eine Einheit zur Ökumene. Dazu hier ein Beitrag, der auch auf Litauisch erscheinen wird.

Jeder Jesuit zum Mord bereit?

Wie sollen Evangelische in Litauen zur Römisch-katholischen Kirche stehen? Hier gibt es zwei Positionen der Extreme. Der Film „A Lamp In The Dark“, der nun auch durch Gemeinden in Litauen wandert, verkörpert die allerschärfste Ablehnung. Die katholische Kirche wird in den dunkelsten Farben dargestellt. Katholiken unterdrücken seit jeher das Wort Gottes, und jeder Jesuit, so wird zu verstehen gegeben, ist weiterhin zum Mord bereit. Keine Frage, für die Macher des Films ist Rom der Hort des Antichristen, mit dessen Dienern sich natürlich jedes Gespräch, jede Zusammenarbeit, jeder Dialog verbietet. Schließlich verhandelt man mit dem Satan nicht.

Der Film verbreitet die These, dass sich die römische Kirche im Prinzip überhaupt nicht gewandelt hat und immer noch die ist, gegen die schon die Reformatoren und alle wahren Christen zuvor kämpften. Doch in dieser Schärfe ist diese These gewiss falsch. Es hat in der römischen Kirche echten, substantiellen Wandel gegeben – beginnend mit dem Pontifikat Leo XIII Ende des 19. Jhdts. So sind Protestanten als solche nicht mehr Häretiker, können (wenn sie denn in diesen Kirchen geboren wurden) auch gerettet werden. Das Bibellesen ist keineswegs mehr verboten; es wird dazu ermutigt und auf vielen Ebenen und auf verschiedene Weise gefördert. Sogar die an sich ja typisch protestantische Betonung des Glaubens wurde teilweise übernommen („Jahr des Glaubens“ 2012/13). Auch in der Rechtfertigungslehre gab es echte Annäherung.

(Siehe auch die im Jahr 2000 in Augsburg vom Lutherischen Weltbund und Vertretern Roms unterzeichnete „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“. Tony Palmer, der im Sommer verstorbene Bischof einer anglikanischen Gemeinschaft und Freund des Papstes, meinte jedoch, s. hier, dass mit dieser Gemeinsamen Erklärung Luthers Protest zu Ende gekommen sei, Rom und die Evangelikalen nun dasselbe Evangelium predigen, weshalb er aufrief: „Brüder und Schwestern, Luthers Protest ist vorbei. Auch euer?“ Grundlage für protestantische Kirchen gäbe es nicht mehr. Palmer tut so, als ob mit dem Dokument jeglicher Konflikt im Hinblick auf die Rechtfertigungslehre aus dem Weg geräumt worden sei, was einfach nicht der Fall ist; genauso wenig stimmt, dass dies der einzige Punkt des Anstoßes für die Evangelischen war. Palmer war wirklich ein „Brückenbauer zwischen den Konfessionen“ – Frau und Kinder sind schon einmal über diese Brücke gegangen, sie sind Katholiken.)

Weg von „Gold, Gewalt und Venus“

Und man vergleiche schließlich nur, welche Persönlichkeiten nun zum Papst gewählt werden. Es scheint, dass Franziskus auf so gut wie jedes Symbol der Macht verzichten will. So hat er z.B. den Thron im Klemens-Saal durch einen einfachen Stuhl ersetzt. Diese Entwicklung hat schon vor 50 Jahren begonnen. Seitdem trägt kein Papst mehr die dreistufige Tiara als Symbol seiner Macht über alles auf Erden. Franziskus führt wie auch Benedikt XVI in seinem Wappen keine Tiara, sondern nur eine einfache Bischofsmitra. Und seit Johannes Paulus II verzichten die Päpste darauf, auf der prächtigen Sänfte, der sedia gestatoria, durch die Gegend getragen zu werden.

Der Kontrast zu den Stellvertretern Christi um 1500, den Renaissance-Päpsten, könnte nicht größer sein. Sie waren skrupellose und Morde in Auftrag gebende Machtpolitiker wie Alexander VI (Rodrigo Borgia; Historikerin Barbara Tuchman in Die Torheit der Regierenden / March of Folly: „ein durch und durch zynischer, amoralischer Mann… ganz und gar weltlich gesinnt“) oder Genußmenschen wie Leo X (geprägt von „zwanghafter Verschwendungssucht“). Kein Wunder, dass Savonarola rief: „Der Papst ist kein Christ mehr…“

Aber nicht nur in Rom herrschten „Gold, Gewalt und Venus“ (ein damaliger Augustinermönch). Auch Luthers Erzbischof, Albrecht von Brandenburg, Kirchenfürst in Mainz, war zuerst eben ein Fürst und bar jeglicher wahrer Frömmigkeit – auch wenn er eine der größten Reliquiensammlungen der Geschichte besaß (bis heute beeindruckt sein prunkvolles Grabdenkmal im Mainzer Dom). Sein ungeheurer Geldbedarf (wie auch der des Papstes, Leo X) führte zum Ablaßunwesen des Tetzels, das wiederum den Einspruch Luthers provozierte. Kaum zu glauben, aber noch 1530 wandte sich Luther in einem Brief an den Erzbischof mit der Bitte um Vermittlung in dem Konfessionsstreit. Hätte die Kirche Roms damals die Kirchenführer von heute gehabt, so wäre die Kirchenspaltung gewiss zu verhindern gewesen.

Er „blieb nicht in der Kirche“

Wir können also echten Fortschritt erkennen, doch dieser Fortschritt ist zwiespältig. Inzwischen findet sich auch in katholischen Kirchengeschichten eine Darstellung der damaligen Mißstände, und die römische Kirche leugnet nicht mehr Mitschuld an der Spaltung der westlichen Christenheit. Doch man lasse nicht zu, dass die Geschichte so einfach glattgebügelt wird: historisch gesehen trägt Rom eindeutig die Hauptschuld am Riss durch die Kirche; seine Hierarchen legten ein äußerstes Maß an Torheit an den Tag. Die Reformatoren dagegen rangen um die Erneuerung der Kirche, wollten natürlich in ihr bleiben und keineswegs eine Spaltung herbeiführen.

Doch bis heute wird – meist indirekt – Luther das Hauptmaß der Schuld in die Schuhe geschoben. Ja, heißt es, Proteste waren berechtigt, aber er hätte sich letztlich unbedingt der Autorität der Kirche unterordnen müssen, so der Tenor. Er „blieb nicht in der Kirche“, wie August Franzen in seiner Kleinen Kirchengeschichte schreibt – ja, aber weil man ihn rausschmiss. Er reagierte „einseitig und kategorisch“ – ja was denn sonst bei solch geradezu teuflischem Treiben!? Bis heute wird die Position der Reformatoren verzerrt: Luther „verwarf den göttlichen Ursprung der Kirche und lehrte, dass… ihre Natur rein menschlich ist… Die Heilige Schrift wurde zur einzigen Autorität“ (A. Saulaitis/A. Karaliūtė, Krikščionybė ir kultūra – Studentų vadovas). Erhebt man Einspruch gegen solche falschen Aussagen (zum Kirchenverständnis der Evangelischen unten mehr; die Schrift ist höchste, nicht einzige Autorität), wird einem schnell durch das Mantra der modernen Ökumene der Mund gestopft: Die Streitereien des 16. Jhdts. liegen lange hinter uns… Aber noch immer warten Evangelische auf ein klares Bekenntnis aus Rom mit Worten wie dieses: „Wir haben uns den Mist selber eingebrockt“.

Es gibt also tatsächlichen Wandel in Rom, und daher gibt es heute auch Felder der Kooperation zwischen den Konfessionen wie in Bibelgesellschaften und in wichtigen Fragen der Ethik (s. z.B. die „Manhattan declaration“ von Christen verschiedener Kirchen). Aber die Zwiespältigkeit bleibt. Auch wenn z.B. die Tiara nicht mehr von den Päpsten getragen wird, bleibt sie doch in der Flagge des Hl. Stuhls. Und obwohl die Bischöfe Roms so demütig wie lange nicht auftreten, ist ihre innerkirchliche Macht (nun festgeschrieben im Kanonischen Recht, CIC, von 1983) ungleich höher als um 1500 und kaum mehr zu steigern!

Nicht Vernichtung, sondern Absorbieren

Wenn also die Position wie in „A Lamp In The Dark“ zu verwerfen ist, so ist es aber auch die gegenteilige Haltung, die mit diesen Thesen aufwartet: Wesentliche Unterschiede zwischen den Kirchen gibt es nicht (mehr); geblieben sind verschiedene Akzente, Traditionen, Äußerlichkeiten usw.; konfessionelle Konflikte gehören (vor allem) der Vergangenheit an; es gilt immer das zu betonen, was die Kirchen eint, nicht das, was sie trennt usw. usf. In der Praxis führt diese Haltung zur Anpassung an die katholische Kultur.

Man betrachte jedoch nur eine Hauptfrage: die Überwindung der Kirchenspaltung. Von katholischer Seite ist nun nicht selten zu hören, dass die Protestanten nicht mehr in den Schoß Roms zurückkehren müssen. Doch worin liegt tatsächlich die Neuerung? Die Weltweite Evangelische Allianz 1986: „Der Ruf nach Rom erfolgt nicht mehr in befehlsmäßigem Ton, aber er erfolgt unüberhörbar“ (Evangelical Perspective on Roman Catholicism). Und der Italiener Leonardo De Chirico schreibt in „Roman Catholicism and the Evangelical Alternative“: „Das Ziel [Roms] ist nicht mehr die Vernichtung des Gegners, sondern sein Absorbieren. Das Ziel ist nicht mehr die Eroberung, sondern die Annektierung im Konsens durch Ausweitung der Grenzen seiner Katholizität.“ („Foundations“ no. 57, May 2007; www.affinity.org.uk)

Die Worte De Chiricos wurden wieder einmal nachdrücklich bestätigt, als im Januar 2013 folgende Meldung bekannt wurde: Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, sagte, er könne sich vorstellen, dass die Lutheraner unter dem Dach Roms ein eigenes Ordinariat bekommen. Denkbar wäre ein Modell, „wie es der Vatikan Anfang 2011 für die Anglikaner eingerichtet habe. Ein Ordinariat ist eine rechtlich selbständige Teilkirche innerhalb der katholischen Kirche, die neben den territorial festgelegten Bistümern besteht und eigene Gemeinden und Verwaltungsstrukturen hat“. Lutheraner, so der Gedanke, könnten dann ihre eigenen Traditionen und Organe behalten und wieder Teil der römischen Kirche sein. Die Reaktion von lutherischer Seite auf dies Gedankenspiel war eher skeptisch, aber es zeigte, wohin die Reise aus römischer Sicht gehen könnte und sollte.

Der reformierte Baptist De Chirico ist Mitautor der „Padua-Erklärung“ von 1999. In dem Dokument der Italienischen Evangelischen Allianz heißt es: „Die Lehrübereinstimmung zwischen Katholiken und Evangelikalen, die sich im gemeinsamen Stehen zu den Bekenntnissen und Konzilen der ersten fünf Jahrhunderte zeigt, ist keine ausreichende Basis um zu sagen, dass es eine Übereinstimmung hinsichtlich der wesentlichen Punkte des Evangeliums gebe.“

Es gibt gewisse Übereinstimmungen in ethischen und sozialen Fragen, doch tatsächlich gehen diese auf eine „ähnliche Perspektive“ zurück. Es gibt z.B. keine wirklich gemeinsame ethische Sicht, „weil die zugrunde liegenden Theologien wesentlich unterschiedlich sind“. Auf der Basis „des [protestantischen] sola, solus erweist sich die Distanz, die den zeitgenössischen Katholizismus vom evangelikalen Glauben trennt, als nicht geringer, als dies zur Zeit der protestantischen Reformation der Fall war.“

Es wird in „Padua“ unterschieden zwischen der Institution der Kirche und einzelnen Katholiken, und auch gegen Ende wird gut differenziert: „Bei der Erfüllung des Kulturauftrags kann es Momente des Kontakts geben, in denen es zu Zusammenarbeit und gemeinsamer Aktion zwischen Evangelikalen und Katholiken kommt, wie dies in der Tat auch zwischen Evangelikalen und Menschen anderer religiöser oder ideologischer Orientierung möglich ist. Wo es um gemeinsame Werte in ethischen, sozialen, kulturellen und politischen Angelegenheiten geht, sind Formen von Kampfgemeinschaften zu befürworten. Diese notwendigen und unausweichlichen Kooperationsformen sollten aber weder als ökumenische Initiativen angesehen, noch als Indiz für die Wiederherstellung eines Lehrkonsens konstruiert werden.“

De Chirico resumiert im zitierten „Foundations“-Artikel: „Um diesen Herausforderungen zu begegnen, ist Anti-Katholizismus unzureichend.“ Evangelische Christen müssen vielmehr in den „evangelischen Wahrheit“ verwurzelt sein; sie müssen sich als klare Alternative begreifen. Andernfalls droht geradezu unweigerlich das Aufsaugen durch Rom.

„Vertrauen auf den Schutz Marias“

Im Konfessionsdialog müssen die Evangelischen einen Weg zwischen Anti-Katholizismus und naiver Anpassung finden. Stimmen gegen einen Film wie „A Lamp In The Dark“ werden auch von Evangelischen gleich erhoben, und das zu Recht. Aber leider bleiben Sätze wie diese von einem protestantischen Geistlichen aus Vilnius bei einer öffentlichen Diskussion vor einigen Jahren gänzlich unwidersprochen: „Ohne zu überlegen [!] habe ich mein Kind in den [schulischen] Religionsunterricht der katholischen Kirche geschickt“; „die römisch-katholischen [Religions-]Lehrer stellen uns zufrieden“.

Wie auch immer dies „uns“ zu verstehen ist (etwa die ganze Kirche bzw. ihre Geistlichen?) – solch ein Ausmaß an Naivität ist schlicht erschreckend und für Evangelische existenzbedrohend. Jeder kann die offizielle Vorgabe für den Religionsunterricht (der in Litauen weitgehend den gleichen Prinzipien folgt wie in Deutschland) in „Bendrosios katalikų tikybos programos temų gairės“ (Allgemeine thematische Richtlinien für den katholischen Religionsunterricht; Švietimo ir mokslo ministerija / Bildungs- und Forschungsministerium, 2006) studieren. Da ist als Ziel schon in der ersten Klasse  vorgegeben: „lernen zum Schutzengel zu beten“; da heißt es von den Heiligen: „Sie können uns helfen Gott kennenzulernen“; natürlich ist auch „das Gebet für die Verstorbenen“ ganz früh Thema. So geht es dann weiter: in der zweiten Klasse soll man „lernen um die Fürbitte der Heiligen zu beten“, „Dankbarkeit gegenüber Maria entwickeln“. In der dritten Klasse sind die Lehrer angehalten „den Sinn des Taufsakraments zu erläutern“ und „mit dem Heiligsten Sakrament bekannt zu machen“, und natürlich soll wieder „an die Einzigartigkeit der Jungfrau Maria erinnert werden“. Akzent in der vierten Klasse: „Die Rolle der Jungfrau Maria als Mutter der Kirche verdeutlichen. Ehre und Dankbarkeit gegenüber Maria – unser aller Mutter – reifen lassen“. In der fünften Klasse werden die sieben Sakramente unterrichtet, in der siebten wird betont, dass „die Fülle der Wahrheit in unserer [d.h. Roms] Kirche“ liegt. In der achten Klasse soll vom Glauben die Rede sein: „Die Gnade des Glaubens – ein jedem angebotenes Geschenk Gottes“, aber es wird eben auch „Vertrauen auf den Schutz Marias“ betont. In der neunten Klasse wird erneut unterstrichen: „Die Heiligen laden uns ein und helfen uns. Wir beten um Fürbitte der Heiligen.“ In der elften und zwölften Klasse: „Die Eucharistie – Zentrum des christlichen Lebens“. Können solche thematischen Akzente Protestanten wirklich zufriedenstellen??

Evangelischer Religionsunterricht wird im Lande nur an wenigen Orten angeboten (in Biržai und Tauragė sowie wahrscheinlich in einigen Orten im Memelgebiet). Denn in den größeren Städten, wo in absoluten Zahlen gar nicht so wenige Protestanten leben, gibt es in den einzelnen Schulen so gut wie nie genug Schüler für eine ausreichend große evangelische Gruppe. Hinzu kommt, dass es nicht „evangelischen“ Unterricht gibt, sondern nur konfessionell-kirchlichen, also evangelisch-lutherischen, evangelisch-reformierten, evangelisch-baptistischen (auch der Baptistenbund und die Adventisten sind „anerkannte Religionsgemeinschaft“ und haben daher das theoretische Recht, Religionsunterricht an öffentlichen Schulen durchzuführen). Dem einheitlichen katholischen Unterricht steht also eine protestantische Zersplitterung gegenüber. Als Alternative kann von Eltern (bis zur Religionsmündigkeit) der Ethik-Unterricht gewählt werden. Es ist aber sehr zu vermuten, dass wohl die meisten evangelischen Eltern ihre Kinder in den katholischen Unterricht schicken. Und das, obwohl er in Litauen nicht den Charakter einer liberalen Religionswissenschaft hat, sondern (s.o.) recht konfessionell orientiert ist; da besucht man schon mal die Reliquien des Hl. Johannes Bosco in der Kathedrale und lässt sich vom Šiauliaier Bischof (s. Bild o.) die Bedeutung der Handknochen in dem gläsernen Kasten (daran liegt eine Glasfasernachbildung des Heiligen) erläutern.

Der wohl massenhafte Besuch des katholischen Religionsunterrichts durch Kinder von Evangelischen ist eines der heißen Eisen, über das so gut wie keiner offen spricht. Hier zeigt sich, wie stark der kulturelle Sog durch den Katholizismus in einem mehrheitlich katholischen Land ist. Zumindest von den Pastoren ist hier mehr Weitsicht gefordert. Wenn sie mit nicht verzeihlicher Naivität ihre Kinder in die Hände von gut ausgebildeten katholischen Lehrern begeben, was soll man da von einfachen Gemeindegliedern erwarten? Die Situation ist in langfristiger Perspektive wahrlich ernst, schließlich stehen in Litauen etwa einem Prozent Evangelischen fast achtzig Mal so viele Katholiken  gegenüber. Es geht immer auch um die Existenz des Protestantismus im Land. Sie werden nur als Konfession überleben, wenn sie die eigene Identität achten, pflegen und an die kommende Generation weitergeben.

„In den Bischöfen ist inmitten der Gläubigen Jesus Christus anwesend“

Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen den Konfessionen, doch die Unterschiede sind keineswegs geringfügig. Und man muss (was gerade auch Palmers Äußerungen deutlich machen) möglichst genau verstehen, wo diese Unterschiede bestehen. Es ist nämlich nicht nur die Rechtfertigungslehre, sondern vor allem auch das Kirchenverständnis – von den Evangelikalen fast schon traditionell zu wenig beachtet. Man höre nur auf Bernardas Gailius in „Katalikybė kaip politika“ (Katholizismus als Politik, „Naujasis Židinys-Aidai“, 2012/1): „der einzelne Mensch ist unvollkommen, der Staat ist unvollkommen, Geistliche sind unvollkommen, selbst der Papst in Rom ist unvollkommen (inwieweit er Mensch ist), die Kirche dagegen ist vollkommen“. Der Historiker in einer Fußnote dazu: „Genau in diesem Punkt trennen sich die Wege des Katholizismus  und der Reformation. Den Gedanken, dass die Kirche fehlbar ist, müssen die Katholiken als bedauernswürdigsten Fehler Luthers bezeichnen.“

Die Kirche selbst ist im Katholizismus die Mittlerin des Heils, das Sakrament, das Verbindungsglied zwischen Gott und Mensch; sie ist die Gegenwart Christi. Natürlich verwerfen Protestanten nicht den göttlichen Ursprung der Kirche (s.o.); der Leib Christi hat auf ewig Bestand. Aber, und das ist der wesentliche Unterschied zwischen Rom und den Evangelischen, Letztere setzen eine irdische Organisation mit diesem Leib nicht gleich; sie vergöttlichen nicht eine sichtbare menschliche Institution; sie machen die Kirche auf Erden nicht zu einem menschlich-göttlichen Mischwesen. Sie behaupten, dass die einzelnen Amtsträger ein von Gott eingesetztes Amt ausüben und im Namen des Herrn lehren, disziplinieren, Vergebung zusprechen usw. Doch sie leugnen, dass Pfarrer und Bischöfe Christus selbst unter den Gläubigen sind wie dies Rom lehrt: „In den Bischöfen, denen die Priester zur Seite stehen, ist also inmitten der Gläubigen der Herr Jesus Christus, der Hohepriester, anwesend.“ (Lumen gentium, 21) Man lese über solche Sätze aus dem II Vatikanum nicht zu schnell hinweg: in den Bischöfen selbst ist Christus selbst in besonderer Weise gegenwärtig (hier ist also nicht vom Besitz des Geistes und seiner Anwesenheit in den Gläubigen die Rede). Durch das „heilige Prägemal“ sind sie in direkter Weise und qua Amt verlängerter Arm Christi, ja Christus unter uns und werden entsprechend mit Thron, Titel („Exzellenz“), Handkuss usw. geehrt. Es war nicht Luthers bedauerlicher Fehler, sondern sein großes Verdienst, dass er diesem Hang zur Vergöttlichung von Menschen („inwieweit [!] er Mensch ist“, s.o. – d.h. doch, dass der Papst in anderer Hinsicht gottgleich sein soll!) und menschlichen Einrichtungen widersprochen hat.

„Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen“

Das Stichwort der Vergöttlichung von Menschen und ihren Institutionen führt uns zum ersten Gebot: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.“ Schon in Von der Freiheit eines Christenmenschen und im Sermon von den guten Werken, beide 1520 erschienen, betonte Luther, dass der Glaube und der Glaube allein dieses erste Gebot erfüllt. Dies war sicher ein der wichtigsten theologischen Einsichten Luthers, deren Bedeutung (so Oswald Bayer in Martin Luthers Theologie) nicht überschätzt werden kann. Der Glaube wird so Kriterium der Güte eines jeden Werkes. Der Glaube ist das „Hauptwerk“, das uns zu Christen macht – und dieser wiederum ist Gottes Werk!

Auf das erste Gebot kommt es daher, so Luther im Großen Katechismus, „am allermeisten“ an, denn „wo das Herz recht mit Gott daran ist und dies Gebot gehalten wird, da folgen die anderen alle hernach.“ Im Kleinen Katechismus erklärt Luther das erste Gebot kurz und knapp so: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen“. Das Gebot wird als eine Art Präambel angesehen, das die Erläuterung der folgenden Gebote bestimmt. So leitet er die Auslegung der Gebote zwei bis zehn immer gleich ein: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass…“ Der Glaube führt zum Handeln und zur Liebe, und nur der Glaube macht aus den einzelnen Werken, die äußerlich jeder tun kann, christliche.

Am ersten Gebot hängt somit alles. Dies sieht die reformierte Tradition genauso. Im Heidelberger Katechismus heißt es in Frage 94: „Was fordert der Herr im ersten Gebot? Gott will, dass ich allen Götzendienst, alle Zauberei und Wahrsagerei, allen Aberglauben, auch das Anrufen der Heiligen oder anderer Geschöpfe meide und fliehe, damit ich meiner Seele Heil und Seligkeit nicht verliere. Stattdessen soll ich den einen wahren Gott recht erkennen, ihm allein vertrauen und in aller Demut und Geduld von ihm allein alles Gute erwarten. Ihn allein soll ich von ganzem Herzen lieben, fürchten und ehren, so dass ich eher alle Geschöpfe preisgebe, als im Geringsten gegen seinen Willen handle.“

Neun Mal kommen in dieser kurzen Antwort Worte wie allein/alle/ganz vor – eindrücklicher kann man die biblisch gut begründet Eifersucht Gottes im Blick auf seine Verehrung nicht formulieren. Kult um Hostien, Heiligen und Reliquien, konkret der Kniefall vor ihnen, sprechen im Katholizismus bis heute eine eindeutige Sprache. Dazu passt, dass man die Ausführungen zum ersten Gebot weit hinten im Katechismus der Katholischen Kirche (oder auch im Youcat) suchen muss (ab §2083) und diese – trotz natürlich vieler Wahrheiten – weit hinter der Prägnanz der reformatorischen Texte zurückbleiben. Tagein, tagaus begegnet Christen in katholischen Mehrheitskulturen die Versuchung, das erste Gebot zu brechen. Es gibt praktisch kein besseres Gegenmittel als die tiefe Verwurzelung in der reformatorischen Bekenntnistradition. Dies ist umso dringlicher, da es ums Ganze geht, nämlich darum, dass „ich meiner Seele Heil und Seligkeit nicht verliere“.