Prediger wider die Ignoranz

Prediger wider die Ignoranz

Wie dunkel ist die Welt?

„Wer die Ereignisse in der Welt im Lichte der Bibel betrachtet, gelangt unschwer zu der Überzeugung, daß wir am Ende der Geschichte leben… In der Welt wird es zunehmend dunkler. Schon ein kurzer Blick auf die weltpolitische Situation unserer Zeit macht das sehr deutlich… Das Chaos in der Welt wird immer größer…“ So schreibt Joachim Langhammer zu Beginn seines Buches über die Endzeit Was wird aus dieser Welt?. Schon vor über dreißig Jahren meinte auch Evangelist Willi Buchwald in Israel und die Zukunft der Welt nach einem Zitat von 2 Tim 3,1–5: „Wir leben heute in einer solchen ‘dunklen’ Zeit. Wirtschaftsfachleute und Politiker stehen vor unlösbaren Problemen.“

Tatsächlich gibt es genug Grausiges in der Gegenwart; wir müssen die Auflistung schrecklicher Nachrichten gar nicht beginnen. Franz Stuhlhofer erinnert jedoch in „Das Ende naht!“ – Die Irrtümer der Endzeitspezialisten daran, dass schon Luther vor fast 500 Jahren so gut wie alle Kennzeichen der letzten Tage in seiner Gegenwart erkannt hatte. Dunkel war es auch damals, und gewiss ist es auch heute mehr oder weniger dunkel. Richtig hell wird eine gefallene Welt nie strahlen; Gottes Flutlicht wird erst in der Ewigkeit erstrahlen (s. Off 22,5).

Doch wie der einzelne Mensch dank Gottes allgemeiner Gnade nicht unbedingt so tief fällt wie er nur fallen kann (also gleichsam zu einem Dämon wird), so versinkt auch die sündige Welt nicht unbedingt in rabenschwarzer Nacht. Manche Endzeitanalysten sehen jedoch nur diese Nacht. Das eine oder andere Problem ist eben nicht unlösbar und wird erfolgreich angegangen. Karl Popper meinte: das Leben ist Problemlösen. Und tatsächlich lesen wir zwei Verse nach der Vertreibung aus dem Paradies von einem Schäfer und einem Ackerbauer (Gen 4,2) – Kain und Abel bewältigen so die Herausforderung des Lebens jenseits von Eden.

Die Erwartung der unmittelbaren Wiederkunft Jesu, also seines zweiten Kommens in den nächsten Jahren, kann sich mit einem tiefen und einseitigen Pessimismus verknüpfen. Christen sind aufgefordert, das Kommen des Herrn nicht aus den Augen zu verlieren und in diesem Sinne eine Demnächsterwartung zu haben. Doch wir sind damit nicht zu allgemeinem und radikalem Pessimismus verpflichtet! Denn dann werden, so Stuhlhofer „positive Entwicklungen, die gleichfalls vorhanden sind, ignoriert.“

„Die Welt wird besser. Und keiner glaubt es.“

Im Licht der weltweiten Statistik (und alle Zahlen sind auch Gottes Zahlen) gelangt man unschwer zu der Überzeugung, dass es in den letzten Jahrzehnte nicht unbedingt mit Vollgas in den Abgrund geht. Zum Beispiel haben noch nie in der Weltgeschichte Menschen auch nur annähernd so lange gelebt wie nun (wenn man einmal die Frage um die langen Lebenszeiten in der Frühgeschichte wie Gen 5 ausklammert). Die Lebenserwartung stieg weltweit von durchschnittlich 55 Jahren 1964 auf 71 Jahre heute. Sie beträgt in China nun 76, in Brasilien 75 und selbst in Indien 65 Jahre (selbst in den Industrieländern lag sie noch Mitte des 19. Jhdts. bei im Schnitt höchstens 50 Jahren). Ein langes Leben ist wohl der wichtigste Indikator des Wohlergehens und nicht zufällig auch in der Bibel ein Zeichen von Gottes Segen (s. z.B. 1 Kön 3,14).

Gegen das Schwarzsehen kämpft heute Hans Rosling aus Schweden an. Schon vor ein paar Jahren meinte der Mediziner im Interview mit der FAZ („Die Welt wird besser. Und keiner glaubt es“): „Sie [die Lage der Welt] ist nicht gut, aber viel besser als ihr Ruf. Nur, dass das kaum einer zur Kenntnis nimmt.“

Rosling hat mit Sohn und Schwiegertochter Programme entwickelt, um gewaltige Datenmengen auszuwerten. Im Rahmen der von der Familie gegründeten Gapminder-Stiftung werden die Statistiken aufbereitet (mehr dazu auch hier). Rosling will nicht in die Schublade von esoterischen Optimisten gesteckt werden; sein Blick ist der des nüchternen Wissenschaftlers. Aber er sieht dennoch „gewaltigen Fortschritt“.

Ihm hat es als lange in armen Ländern tätigen Gesundheitsexperten gerade die Armut angetan. Doch er haut eben nicht die Kerbe des eingängigen „die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer“: „Europa denkt, die Armut in der Welt wächst beständig. Das Gegenteil ist der Fall.“ Der arme Süden ist zu weiten Teilen in diese Kluft gewandert: „Wir haben eine Milliarde Menschen in den Industrieländern von Japan über Europa bis Nordamerika. Denen geht es gut. Wir haben zwei Milliarden Menschen in Teilen Afrikas und in ländlichen Regionen Asiens, die leben in armen Verhältnissen. Doch wir haben vier Milliarden Menschen in den Schwellenländern. Sie repräsentieren die Mehrheit der Weltbevölkerung. Sie füllen die Kluft zwischen arm und reich… Die vier Milliarden sind schon viel weiter, als wir uns vorstellen.“

Rosling kritisiert die „weitverbreitete Ignoranz. Die Welt muss realisieren, dass ein großer Teil der Menschen der bitteren Armut entronnen ist. Immer mehr Länder werden wie die Brics [Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika]. Sie wachsen schneller als die reichen Länder.“ Und konkret zum medizinischen Bereich: „Vor nicht allzu langer Zeit starben zwei bis drei Millionen Kinder jedes Jahr an Masern. Dann begannen die Impfungen. Heute sterben 200.000 Kinder. Als wir in Schweden gefragt haben, wie hoch der Anteil der Menschen in Afrika ist, die gegen Masern geimpft wurden, war die Antwort: 33 Prozent. Es sind aber 80 Prozent.“

Schon den „Schimpansen-Test“ gemacht?

1968 schlug Paul R. Ehrlichs Buch The Population Bomb tatsächlich wie eine Bombe ein. Die Bevölkerungsexplosion wird, so die These des Stanford-Professors, zu gewaltigen Hungersnöten führen; die Erde könne unmöglich so viele Milliarden ernähren. Doch inzwischen wissen wir, dass die Angst vor einer Explosion der Bevölkerung und ihren Folgen nicht begründet ist. Die Zahl der Kinder pro Frau ist in manchen Ländern geradezu dramatisch gesunken (und das, abgesehen einmal von China, ohne Zwangsmaßnahmen): In den letzten drei Jahrzehnten in Brasilien von 4,3 auf 1,9, in Bangladesch von 6,6 auf 2,3 und im Iran sogar von 7 auf 1,8. Rosling im „Spiegel“ der vergangenen Woche: „Die Weltbevölkerung wächst längt nicht mehr deshalb, weil zu viele Kinder geboren würden, sondern weil die Menschen überall gesünder sind und länger leben.“ („Der Saldo der Welt“, 37/2014)

Und auch zu dem von Ehrlich vorhergesagten Massenelend kam es nicht, im Gegenteil. Noch nie sank die Armut in der Neuzeit so stark wie in der Zeit seit dem II Weltkrieg. In der Kluft zwischen Arm und Reich lebt heute, wie gesagt, die Mehrheit, so dass eigentlich nicht mehr von einer Kluft, sondern von einem Kontinuum gesprochen werden muss. Roslings wandernde Kreise in seinen Grafiken sollen genau dies zeigen.

Wir werden in den Medien jedoch mit schlechten Nachrichten bombadiert. Bad news sells. Gute Nachrichten werden seltener als solche erkannt, weil sie oft langsame Entwicklungen wiedergeben. Allgemein wird so die Lage zu pessimistisch eingeschätzt. Dieser Pessimismus wird durch den „Ignoranz-Test“ Roslings offenbar. Meistens werden dabei nämlich die düsteren Antworten angekreuzt. Jeder kann die zehn Fragen hier auf der Seite des „Spiegels“ durchgehen. Im internationalen Mittel wird nur jede dritte Frage richtig beantwortet. Da Schimpansen beim Test durch zufälliges Antworten genauso gut liegen, heißt er auch „Schimpansen-Test“.

Rosling macht nicht die Lage der Welt, sondern etwas anderes Angst: Die Ignoranz der Menschen. „Die Leute wissen zu wenig. Sie kennen die Fakten nicht und wollen sie nicht kennen. Stattdessen fühlen sie zu viel.“ Dagegen will er mit Nüchternheit und Zahlen angehen. In Filmen wie „Don’t panic“ (mit der BBC; die dt. Fassung lief im ZDF; s. auch hier ein guter Überblick in engl.) zeigt er mit seinen Grafiken den Marsch gen Wohlstand. Zahlen zu Gesundheit, Bildung und Armut, die belegen, wie sich die Welt wandelt: „1980 gab es laut Zahlen der Weltbank noch zwei Miliarden Menschen, die von weniger als 1,25 Dollar pro Tag lebten, heute ist es noch etwa eine Milliarde.“ Rosling hofft, „dass es alle in die gesunde und reiche Ecke [auf seinen Animationen oben rechts] schaffen.“

Der Heilige Bono und die Systemverächter

Doch wehe man zeigt, dass die Armut z.B. in Afrika rapide sinkt… Viel eingängiger sind Sätze wie von Timo Plutschinksi im „Just People?“-Kurs: „Angesichts von 30 Millionen Hungertoten im Jahr, einer wachsenden Schere zwischen Arm und Reich und Sozialabbau in den Industrieländern müssen Christen auch die Systemfrage stellen und die globalen Zusammenhänge analysieren.“

Der Leiter von „Europartners“, einer europaweiten Vereinigung von christlichen Unternehmerverbänden, liegt hier gleich drei Mal daneben, voll daneben. Millionen sterben jährlich an Hunger und an von Unterernährung hervorgerufen Mangelkrankheiten; vielleicht sogar immer noch über 20.000 täglich. Das Journal „The Lancet“ nannte z.B. für das Jahr 2011 die Zahl von 3 Millionen an Hunger und seinen Folgen gestorbenen Kindern. In der Summe werden heute wohl 5–8 Millionen weltweit erreicht, doch „30 Millionen Hungertote“ sind schlicht Unsinn. Auch von einer „wachsenden Schere zwischen Arm und Reich“ kann global gesehen keine Rede sein (s. o. Rosling), so schön dieses Mantra auch immer noch klingt. Und „Sozialabbau in den Industrieländern“? Während der Finanzkrise ab 2009 wurde in einzelnen europäischen Staaten im Sozialbereich deutlich gekürzt, aber dies geschah praktisch nur in Osteuropa oder im Süden wie in Griechenland. Die großen Industriestaaten haben so gut wie keinerlei Sozialabbau betrieben. In Deutschland beträgt der Anteil des gesamten Sozialbudgets am BIP seit Jahrzehnten ziemlich konstant um die 30 Prozent, nun um  800 Milliarden jährlich, also rund 10.000 Euro pro Person im Jahr – und keinerlei Einbruch und Knick, auch nicht nach 2008. Ja, Christen sollten tatsächlich einmal die „globalen Zusammenhänge analysieren“. Plutschinksi sollte mit seinen Hausaufgaben anfangen.

(Natürlich haben die angeblichen Armutsexperten auch ihre Zahlen parat, und immer ist die Melodie etwa die folgende: Die 85 reichsten Menschen der Welt hätten das gleiche Vermögen wie die arme Hälfte der Weltbevölkerung; während das Wohlstandsgefälle zwischen den ärmsten und den reichsten Ländern 1870 noch 1:4 betrug, so haben wir heute ein (Miss-)Verhältnis von 1:75; oder die drei reichsten Menschen der Welt besitzen so viel, wie das Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Länder zusammen ausmacht. Rechenbeispiele dieser Art machen Eindruck, doch mal sollte sich nicht von ihnen blenden lassen. Unser Wirtschaftssystem erlaubt nun eben nie gesehenen Reichtum – in einer zunehmend freien Welt kann es nicht anders sein, als dass das Gefälle zunimmt; das bedeutet aber eben nicht, dass dies auf Kosten der Armen geht und es diese deshalb schlechter dastehen. Das Gute ist, dass nun sagenhafter Reichtum fast immer oder meist durch Innovation und Handel erwirtschaftet werden muss, nicht wie Jahrtausende lang durch Raub. Natürlich war z.B. in China das Gefälle zwischen Arm und Reich noch zu Maos Zeiten viel geringer – sollten wir etwa darüber jubeln? Heute gibt es in China oder auch Vietnam Milliardäre und viele Millionäre, die auf einmal die Wohlstandsverteilung schrecklich ungerecht erscheinen lassen. Statistisch ist das sogar korrekt. Aber wie viele Millionen leben nun dort in relativem Wohlstand?! Hätte man z.B. Bill Gates rechtzeitig enteignen sollen? Oder sein Vermögen bei 10 Mio Dollar deckeln? Ähnlich konnten die DDR-Kommunisten ja immer auf die Einkommens- und Wohlstandsungerechtigkeit im Westen verweisen. Seht her, bei uns gibt’s kein Gefälle. In der BR haben wir gerne mit Ungleichheiten gelebt, weil wir wussten, dass es so gut wie allen besser als im Osten ging. Es bleibt dabei: Wer alle gleich wohlhabend machen will, muss alle gleich arm machen. Und wer möglichst viele möglichst wohlhabend sehen will, der muss einige sehr reich werden lassen. Nur die Sozialisten aller Jahrhunderte, die von der materiellen Gleichheit wie besessen sind, wollen dies nicht sehen.)

Aber es ist eben so leicht, die „Systemfrage“ zu stellen. In seinem Beitrag „God’s call to do justice“ in The Justice Project (2009) schreibt Rene Padilla, einer der wichtigsten („wenn nicht der wichtigste“) Grund „für die wachsende Kluft [und wieder…] zwischen Arm und Reich“ in der Welt sei „das globale ökonomische System“. Die „Globalisierung des neoliberalen kapitalistischen Systems“ nennt er „tyrannisch“. Im „Accra-Bekenntnis“ wird unsere demokratische kapitalistische Ordnung ein „außerordentlich komplexes und unmoralisches [!] Wirtschaftssystem“ genannt. Auch in der „Micah declaration“ (Micha-Erklärung) ist leider ganz revolutionär von „Widerstand gegen ein globales System der Ausbeutung“ die Rede. Schließlich meinen nicht wenige evangelikale Armutsexperten: Wenn ganz viele einzelne Christen den Armen helfen, dann würde – endlich, endlich – das „System“ verändert werden. Und um jeden Zweifel an dieser Sicht zu zerstreuen, wird gerne Bono von U2 zitiert: Es sei eindeutig die Aufgabe der Christen, die extreme Armut in der Welt auszumerzen. Nach dem Motto: der Hl. Bono hat gesprochen. (Der Einfluss des Iren auf die evangelikale Welt ist tatsächlich nicht zu unterschätzen; bei der großen “Urbana”-Konferenz 2006, veranstaltet von der US-Studentenmission Inter Varsity, wurde Bono für ein Grußwort per Satellit zugeschaltet; im Hinblick auf Mt 25 meinte er: “God is in the slums”.)

It‘s the economy, stupid

Es ist wirklich erschreckend, wie viele professionelle Armutsbekämpfer und –experten unter den Evangelikalen ihre eigene Ignoranz pflegen (und dabei gerne aber den anderen Unkenntnis über Armut vorwerfen). Der Süden lebe auf der Schattenseite oder noch dramatischer: die Welt gehe zum Teufel. Ja ja, ein Körnchen Wahrheit steckt dort drin (der Teufel ist der Fürst der Welt). Doch Philosoph Harry Frankfurt zu diesem sorglosen Umgang mit der Wahrheit: bullshit, so sein Buchtitel.

Fast schon Kultstatus hat ja Shane Claiborne erreicht, der in The Irresistible Revolution (auf Deutsch als Ich muss verrückt sein, so zu leben erschienen) meint, der Kapitalismus sei „ein System, das Bettler hervorbringt“, mit anderen Worten: moralisch verwerflich. Was soll man dazu noch sagen? Natürlich bringt der Kapitalismus Bettler hervor! Claiborne wäre zu fragen: welches System bringt nachgewiesenermaßen am wenigsten Bettler hervor?

Claibornes Leben in selbstgewählter relativer Armut (ein Mac ist aber auch immer drin) mit den Armen und für die Armen wirkt durchaus sympathisch. Sicher ist vieles seiner Kritik an den reichen Christen in den USA und anderswo gerechtfertigt. Doch wenn er in seinen Vorträgen die Welt zu einem „armen Planeten“ macht und globale wirtschaftliche Zusammenhänge erklärt (mit ähnlichen Rechnungen wie oben geschildert), immer locker-flockig und gleichzeitig penetrant selbstsicher, dann graust es einem nur ob so vieler Unkenntnis.

Ob nun Claiborne, Padilla, Plutschinski – alles müssen zuerst folgende Frage beantworten, andernfalls gerät die ganze Diskussion auf die schiefe Bahn: Was – welche Prozesse und Mechanismen – hat das Wachstum der Weltbevölkerung von etwa einer Milliarde um 1800 auf sieben Milliarden heute ermöglicht? Wie ist es möglich, dass die wenigen hundert Millionen Menschen auf der Welt über Jahrhunderte, ja Jahrtausende in ihrer großen Masse in (aus heutiger Sicht) extremer Armut lebten – und heute unglaubliche sechs Milliarden ordentlich und so viele Milliarden in historischer Perspektive sehr gut, in nie gesehenem Wohlstand leben? Wie ist dies zu erklären? Hier muss eine Antwort gegeben werden. Es genügt nicht ständig reflexhaft einzuwenden: ja schön, aber die 800 Millionen Unterernährten heute… Natürlich gibt es sie. Die Frage ist aber: Wie können heute schon über 6.000.000.000 Menschen recht gut ernährt werden? Nur wer dies begriffen hat, kann auch verstehen, was für den radikalen Rückgang der restlichen knappen Milliarde Hungernder verantwortlich sein wird.

Um Bill Clintons berühmte Phrase (aus einem anderen Zusammenhang) zu zitieren: It‘s the economy, stupid. Die Antwort besteht absurderweise genau in dem System, das ständig infrage gestellt wird. Die Früchte dieses Systems zeigt Rosling in seinen Grafiken. Wer das nicht so sieht, muss seine Antwort auf die obigen Fragen vorlegen. Bessere Antworten.

Der große Ökonom John Maynard Keynes (1883–1946) hat dies vor rund 80 Jahren so dargestellt: „Von den frühesten Zeiten [2000 v. Chr.]… bis hin zum Anfang des 18. Jahrhunderts gab es keine großen Veränderungen im Lebensstandard des durchschnittlichen Menschen, der in den zivilisierten Zentren der Erde lebte. Auf und Ab sicherlich. Heimsuchungen durch Seuchen, Hunger, und Krieg. Goldene Zwischenzeiten. Aber kein fortschreitender, heftiger Wandel. Einige Zeiten vielleicht 50 Prozent, höchstens 100 Prozent besser als andere in den viertausend Jahren, die etwa um 1700 endeten. .. Was ist das Ergebnis [der nächsten zwei Jahrhunderte, also bis Anfang des 20. Jdhts.]? Trotz eines ungeheuren Anwachsens der Weltbevölkerung, die mit Häusern und Maschinen ausgerüstet werden musste, ist der durchschnittliche Lebensstandard in Europa und den USA, wie ich annehme, um etwa das Vierfache gestiegen… Ich möchte voraussagen, dass der Lebensstandard der fortschrittlichen Ländern in hundert Jahren vier- bis sechsmal so hoch sein wird, als er es heute ist.“ (Politik und Wirtschaft)

Tatsächlich ist dann der Wohlstand in den Industrieländern im 20. Jahrhundert sogar um das zehn- bis zwanzigfache gestiegen. Und nun zieht der ärmere Süden, den Keynes noch gar nicht auf dem Radar hatte, mächtig nach. Aber die Welt geht angeblich vor die Hunde…

Dieses Wunder hat komplexe Ursachen, gewiss. Eine herausragende Rolle spielte der menschliche Forschungstrieb und seine Erfindungsgabe. Peter Jay hat in Das Streben nach Wohlstand – Die Wirtschaftsgeschichte des Menschen auf über sieben Seiten die bedeutenden Erfindungen von 1700 bis 1850 einfach nur genannt und aneinandergereiht – was für eine Liste! Und es ging ja immer weiter: Elektrizität, Automobile, Antibiotika, Atomkraft usw.

Zu nennen sind also die Forschung, die zu innovativen Erfindungen führt; dann die Industrialisierung, die die günstige Massenproduktion von Gütern ermöglicht; außerdem weitweiter Handel, der die Möglichkeiten der globalen Arbeitsteilung nutzt; und nicht zu vergessen Institutionen, die die Freiheit, das Recht und das Eigentum sichern. All dies muss natürlich von einer Kultur (und Weltanschauung) getragen und begleitet werden, die Forschungsgeist fördert; die Eigentum respektiert; die Handarbeit, Fleiß und Handel gutheißt; die den Staat respektiert, aber seine Macht begrenzt.

Erfindungen, Industrialisierung, Globalisierung und Rechtsstaatlichkeit. So lange diese Hauptfaktoren ignoriert werden, ist vom Diskurs unter Christen nicht allzu viel zu erwarten, ja die Verzerrung der Weltsicht und der christlichen Botschaft geht weiter (s. dazu nun Distortion – How the New Christian Left is Twisting the Gospel and Damaging the Faith  der jungen amerikanischen Autorin Chelsen Vicari vom „The Institute on Religion & Democracy“).

Ja, wir müssen uns auch in den Kirchen mehr mit Armut beschäftigten. Doch dann lasst uns doch endlich damit ernsthaft anfangen und nicht immer nur linke Klischees verbreiten! So fehlt nun nicht mehr viel und in den Kanon der evangelikalen Sozialethik wird das Lob der „fair“ gehandelten Produkte und die Forderung nach Mindestlöhnen eingemeißelt (dass der effektive Nutzen für die Armen zumindest sehr umstritten ist und Mindestlöhne häufig Arbeitslosigkeit produzierten, wird ignoriert). Lange muss man nicht mehr warten, und der fast schon heilige Begriff „soziale Gerechtigkeit“ wird zu einem Kernelement der christlichen Botschaft (dass der Begriff sich nach einer eingehenden Untersuchung als inhaltsleeres Schlagwort erweist, wird ignoriert). Und nicht zu vergessen: Es seien natürlich die Kirchen die voranschreiten müssen bei der weltweiten Ausmerzung der Armut, um ihrer Mission treu zu sein. – Es wird zwar hier und da heller in der Welt, doch über weite Teile der Theologie ist ein dunkler Schleier der Ignoranz gezogen.

Ich schlage vor, an einem Ignoranz-Test zum Thema Glaube, Armut und Gerechtigkeit zu arbeiten. Hier schon einmal eine erste Frage: Welche Person hat durch ihr Handeln am meisten zum Rückgang von Armut beigetragen? Bill Gates, Mutter Teresa oder Deng Xiaopeng?

Gates ist natürlich der wichtigste lebende Philanthrop und hat mit seinen Milliardenspenden, vor allem für medizinische Projekte, das Leben von Millionen gerettet und verbessert. Mutter Teresa, die Selige und in den Augen von vielen Heilige, muss hier nicht weiter kommentiert werden. Doch am effektivsten waren in den letzten Jahrzehnten sicher die Reformmaßnahmen, die Deng in China vor etwa 35 Jahren einleitete. In den drei Jahrzehnten nach dem Beginn der Wirtschaftsreformen in China 1981 schafften es fast 700 Millionen aus dem Elend, fiel die Rate der extremen Armut im bevölkerungsreichsten Land von 84 Prozent 1980 auf sage und schreibe 10 Prozent 2013. Ein zwergenhafter Atheist und Diktator hat, ob nun gewollt oder ungewollt, am meisten für den Rückgang der Armut getan? Ja, auch das ist Gottes allgemeine Gnade.

(Bild o.: Rosling im Film “Don‘t panic”)