Rückkehr der Geschichte?

Rückkehr der Geschichte?

1993 sorgte Samuel Huntingtons Aufsatz „The clash of civilizations?“ im Journal “Foreign Affairs” für viel Diskussion. Der Politologe (1927–2008) vertrat darin die These, dass dem ideologischen Systemkonflikt zwischen demokratisch-kapitalistischem Westen und kommunistischem Osten nun neue, andersartige Auseinandersetzungen folgen werden: Konflikte an den Rändern und Bruchlinien der neun „Zivilisationen“ oder großen Kulturräume der Welt. Huntington erweiterte den Aufsatz, und 1996 erschien das Buch mit gleichem Titel (nur ohne Fragezeichen); in Deutschland kam der Bestseller unter dem nicht so ganz glücklichen Titel Kampf der Kulturen heraus (in Litauen 2011 als Civilizacijų susidūrimas ir pasaulio pertvarka erschienen).

Die Ukraine beschreibt Huntington darin als „ein gespaltenes Land mit zwei unterschiedlichen Kulturen. Die kulturelle Bruchlinie zwischen dem Westen und der Orthodoxie verläuft seit Jahrhunderten durch das Herz des Landes.“ Er entwirft drei mögliche Szenarien für die Entwicklung des Staates. Einen offenen bewaffneten Konflikt mit Russland erwartete der US-Politologe nicht. Die „wahrscheinlichere Möglichkeit“ sei, dass die Ukraine „entlang ihrer Bruchlinie in zwei Teile zerfällt, deren östlicher mit Russland verschmelzen würde.“ Noch im Winter musste man schreiben, dass es danach wirklich nicht aussieht. Doch jetzt zeigt sich, dass sich die Entwicklung in genau diese Richtung bewegt; und dass sich Huntington einmal wieder geradezu als Prophet erwiesen hat. Genauso richtig erfasste er damals: Eine „westliche orientierte Rumpfukraine… wäre jedoch nur lebensfähig, wenn sie starke und effiziente Unterstützung des Westens hätte“.

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Huntington reagierte Anfang der 90er Jahre auf die Thesen eine anderen konservativen US-Politologen. Francis Fukuyama schrieb ebenfalls 1989 zuerst einen Essay – auch mit Fragezeichen: „The End of History?“ – und dann 1992 The End of History and the Last Man (dt. Das Ende der Geschichte; s. ganz unten eine Kritik von Ranald Macaulay, Mitgründer von L’Abri in England). Fukuyama meinte hoffnungsvoll, dass sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die liberale westliche Demokratie weltweit durchsetzen wird, da der Hauptkonkurrent von der Bühne verschwunden ist.

Nun ist es nicht so, dass nur der eine Autor falsch und der andere richtig lag. Tatsächlich ist die Demokratie oder freiheitliche politische Herrschaft weltweit auf dem Vormarsch. In Asien etabliert sich die Demokratie (man denke an Südkorea, Taiwan und nun vor allem Indonesien und wohl Myanmar/Birma) , und ähnliches gilt für viele afrikanische und südamerikanische  Staaten.Fuku

Huntington hatte aber auch in vielem Recht. Er sagte u.a. vorher, dass alte historische Konflikte, die der Ost-West-Konflikt weitgehend ‘auf Eis’ gelegt hatte, neu aufbrechen werden; ethnische, religiöse und sprachliche Konflikte. Vor zwanzig Jahren war dies auf dem Balkan zu beobachten, und nun tritt schon seit einigen Jahren der uralte Gegensatz zwischen Schiiten und Sunniten wieder hervor.

Fukuyama sprach vom Ende der Geschichte, Huntington betonte dagegen deren Rückkehr. Im aktuellen Ukrainekonflikt ist zu sehen, wie der Präsident Russlands an einer Rückkehr der Geschichte seines Landes arbeitet. Putin nannte die Separatisten in der Ostukraine Ende August nicht zufällig „Verteidiger von Neurussland“. Im Frühjahr sagte er bei einer Bürgerbefragungsstunde: „Eine Formulierung aus der Zarenzeit gebrauchend, möchte ich daran erinnern, das der Südosten der Ukraine Neurussland ist“. Man beachte die Gegenwartsform „ist“.

Das putinsche „Neurussland“ erstreckt sich von Luhansk im Osten bis an die Grenzen der Republik Moldau im Westen (s. die Karte ganz o. aus dem „Spiegel“ der vergangenen Woche). Die Rumpfukraine darüber ist ziemlich genau das Gebiet, das um 1600 zu Polen-Litauen gehörte. Damals beherrschten muslimische Tataren die Krim und die angrenzende Region im Süden der heutigen Ukraine; sie standen im Bündnis mit dem Osmanischen Reich. Tataren bzw. Osmanen, Polen-Litauen und das Moskowiter Reich rangen ab dem 16. Jahrhundert um die Vorherrschaft in der wüsten Steppengegend. Ab etwa 1700 errang Moskau dann die Oberhand und sicherte sich nach und nach das gesamte Nordufer des Schwarzen Meeres – “Neurussland“ entstand Mitte des 18. Jahrhunderts als  Provinz des Zarenreiches.

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Polen-Litauen um 1600 (in pink Polen, hellviolett Litauen, blau polnisch-Livland, hellblau Kurland, rosa Preussen)

Dorthin möchte, so sieht es ja aus, auch der derzeitige Kremlherrscher hin. Und er nutzt dafür, wie oft genug gesagt und geschrieben wurde, eine Politik, die eher ins 19. denn ins 21. Jahrhundert passt. Doch ausgerechnet nun treten die Russlandversteher auf den Plan. In einer Rede vor Delegierten der „Alternative für Deutschland“ am 22. Märzsagte Alexander Gauland, der Westen habe Russland „nach 1989 gedemütigt, und [wir] ernten nun die Folgen davon. Putin betrachtet das westliche Vordringen an die russischen Grenzen als eine geostrategische Bedrohung.“ Der stellvertretende Sprecher der AfD (und nun Spitzenkandidat in Brandenburg) weiter: „Der russische Präsident hat sich, nachdem die Friedensordnung ausgeblieben ist, auf eine alte russische, zaristische Tradition besonnen: das Einsammeln russischer Erde.“ Man solle damit aufhören, „die Ukraine nach Westen und in die NATO zu zerren. Einen Status wie Finnland können auch die Russen akzeptieren.“ Und schließlich: „Ich plädiere leidenschaftlich dafür, Russland ernst zu nehmen, als Großmacht und als Volk, das Tolstoi, Dostojewski und Puschkin hervorgebracht hat. Wir Deutsche können kein Interesse an einer Schwächung Russlands haben. Im Gegenteil: Ein starkes Russland war immer auch ein freundliches Russland – ich spreche von Russland nicht von der Sowjetunion…“

Gauland würde sich wohl auch auf Huntington berufen, nach dem Motto: in der Ukraine bricht auseinander, was zivilisatorisch nicht zusammengehört. Tatsächlich kann das Handeln des Potentaten in Moskaus durch die Geschichte und Huntingtons Schema besser verstanden werden: Von Moskau aus soll der ganze Kulturraum der „Orthodoxie“ dominiert werden. Doch ein Verstehen bedeutet ja noch lange nicht, dass man die Geschichte wiederaufrollen darf und konkret: Putins Handeln rechtfertigt.

Gauland bringt das „Einsammeln russischer Erde“ vor und gibt mit dem Hinweis auf die „alte Tradition“ zu verstehen, dass dies zumindest nicht eindeutig und kategorisch zu verwerfen ist. Das ist schon historisch recht fragwürdig, da die Erde am Nordrand des Schwarzen Meeres tatarische Erde war. Russland war es einfach gelungen, diesen strategisch wichtigen Raum (Zugang zum Schwarzen Meer und darüber zum Mittelmeerraum). Jahrhunderte lange festigte man die Herrschaft, und nun haben die Russischsprachigen selbst auf der Krim, wo noch lange Tataren (und Deutsche) vorherrschten, die Mehrheit.

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Osteuropa im 18. Jhdt, in türkis das Vordringen Russlands am Schwarzen Meer

Doch ähnlich dachten einmal die Polen. Einst war die „Rzeczpospolita Obojga Narodów“,  die Republik zwei Völker, die Königliche Republik der polnischen Krone und des Großfürstentums Litauen, die Großmacht in Zentral- und Osteuropa. Um 1600 gehörte ein riesiges Gebiet zur polnischen Krone (einschließlich der Vasallenstaaten Preußen und Kurland). Alles von Posen bis Kiew, von Dorpat bis kurz vor Odessa – polnisch-litauische Erde. 1920 versuchte das gerade unabhängig geworden Polen dann tatsächlich, dieses Reich von alter Größe „von Meer zu Meer“ annährend wiederherzustellen – wenn auch nun in Gestaöt einer Föderation. Pilsudski marschierte bis nach Kiew, polnische Truppen besetzten Vilnius. Die großpolnische Vision schloß fast das gesamte heutige Litauen, Weißrussland und die Ukraine mit ein. Schließlich gelang es jedoch nur Teile der Länder für die neue Republik Polen zu sichern (Ost-Litauen mit Vilnius, das westliche Weißrussland, Galizien und Lemberg).

Polen wie Litauern haben viel unter Hitler wie Stalin gelitten; Erstere sollten ganz versklavt werden, Letztere verloren ihre Eigenstaatlichkeit. Sie wurden hart gedemütigt, leiden aber heute nicht an irgendwelchen historischen Komplexen, sind vielmehr in der Gegenwart –freiheitlich und martwirtschaftlich – angekommen. Sie haben sich in die „Friedensordnung“, die durchaus bestanden hatte, eingefügt, traten Nato und EU bei. Von einem „westlichen Vordringen“ auf die Pelle Russlands kann überhaupt keine Rede sein. Die baltischen Armeen sind lächerlich klein; und auch die Polens oder Rumäniens stellt nicht den Hauch irgendeiner Art von Bedrohung für Russland dar. All diese Staaten Zentraleuropas hatten und haben nur eine Agenda: die eigene Freiheit, die nur zu oft unter die Füße der Mächtigen geriet, schützen. Die „Partnerschaft“ der Nato mit Russland wurde gesucht und war auch ausgerufen wurden.  Putin hat sie aufgekündigt.

Russland darf eine Großmacht und stark sein, doch nichts und niemand zwingt es, sich als eine Großmacht mit imperialistischen Visionen zu gebärden, auch die Vergangenheit nicht. Nichts zwingt schließlich Litauen, litauische Erde bis Brest im Süden (früher ja Brest-Litowsk, das litauische Brest!) heimzuholen; und niemand in Warschau träumt von Lemberg oder Kiew unter dem polnischen Doppeladler. Diese beiden wollen aber eins: Teil des freien Westen sein, in den sie niemand gezerrt hat. Und die baltischen Staaten wollen eins am allerwenigsten: den Status Finnlands!

Doch die Stimmung ist nicht die allerbeste in Deutschland – von dort haben die Zentraleuropäer nicht allzu viel Rückhalt zu erwarten. Thorsten Jungholt schrieb Anfang April in „Welt online“ („Die Deutschen gehen auf Distanz zum Westen“): „Deutliche Kritik wird auch an der Osterweiterung der EU in den letzten Jahren laut: Lediglich 38 Prozent glauben, dass die Aufnahme osteuropäischer Länder ein richtiger Schritt war, während es die Mehrheit von 56 Prozent lieber gesehen hätte, wenn er unterblieben wäre.“

Es ist beschämend, dass die freiheitlichen Werte östlich der Oder oft schon viel höher geachtet werden als in Deutschland. (Eine Allensbach-Studie aus dem Jahr 2010 über de Wertvorstellungen der Deutschen zeigte dies: „Die mentale Grundverfassung der heutigen Gesellschaft ist Pragmatismus“, „entsprechend erwartet die Gesellschaft auch von der Politik eher Pragmatismus als Prinzipientreue“.) Jüngst hielt der polnische Präsident Bronislaw Komorowski im Deutschen Bundestag eine beachtenswerte Rede – von ganz anderem Inhalt als einst Gauland.

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Präsident Komorowski spricht am 10. September im Bundestag (Foto: Wojciech Grzedzinski, prezydent.pl)

Komorowski spricht von „verschiedene Bewegungen und Ereignisse, die [heute] die Freiheit bedrohen“. Ihnen ist gemeinsam: „Sie verachten Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und bürgerliche Freiheiten. Eine Verachtung von Menschen, die nach Freiheit und Solidarität streben, die ein demokratisches Volk sein möchten.“ Und konkret zur Situation in der Ukraine: „Durch den Angriff auf die Ukraine greift Russland die Fundamente einer demokratischen Gemeinschaft an, ihre Rechte und Werte, aber auch den fundamentalen Grundsatz einer zivilisierten Welt: das Prinzip der Achtung vor der Souveränität der Staaten. Die Ukraine tat nichts, was diese Aggression rechtfertigen würde.“ Moskau arbeite an der „Wiedererrichtung der alten Einflusszone, wenn auch in einem neuen Gewand“.

Die Polen würden sich Russland sehr „als bewährten und voraussehbaren Partner“ wunschen. Doch vor all unseren Augen vollziehe sich „die Wiedergeburt einer nationalistischen Ideologie, die unter dem Deckmantel humanitärer Parolen über den Schutz von nationalen Minderheiten die Menschenrechte und das Völkerrecht verletzt. Wir kennen das allzu gut aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts.“ Und darauf zitiert der Präsident Richard von Weizsäcker: „Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart”.

Komorowskis Fazit: „wir haben dazu beigetragen, dass wenigstens einige Länder dieser Region nach jenen Grundsätzen leben wollen, die auch die unseren sind. Das Beispiel der Freiheit ist ansteckend. Sollten wir von dem Weg der Unterstützung bei der Modernisierung unserer osteuropäischen Nachbarn umkehren, werde wir dem Chaos und unkontrollierten sozialen Ausbrüchen in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ausgeliefert sein.“

Ein klares Bekenntnis zur Freiheit, aber damit nicht genug. Er wies außerdem auf einen Aspekt hin, dessen Bedeutung auch Fukuyama erkannt hatte. Der freie Westen lebt von Voraussetzungen, die er selber nicht schaffen kann. Dies sind gemeinsame Werte und Moral, die wiederum im christlichen Glauben verwurzelt sind. Komorowski, dessen Mutter übrigens aus Litauen stammte: „Der Erfolg der europäischen Integration hatte seine Wurzeln in der Kultur, in einem ähnlichen Verständnis der Rolle des Menschen in der Welt. Denn den Kern der europäischen Kultur bildet der Personalismus. Dieser kann aus dem Christentum abgeleitet werden…“ Und weiter:

„Was die Europäer verbindet, ist die Überzeugung, dass die Würde jedes menschlichen Wesens unveräußerbar ist. Im Sinne dieser Überzeugung gilt es, das gesamte Bildungswesen und die Rechtsordnung aufzubauen, das wirtschaftliche Geschehen zu gestalten und Institutionen des Staates einzurichten. Um diesen Personalismus herum müssen wir heute eine möglichst breite „anthropologische Koalition“ von globaler Reichweite aufbauen, die das Primat der Person voraussetzt. Dies ist uns eine grundlegende Botschaft, die heute von Europa auszugehen hat und die dem Kontinent zu verkünden ist. Dieses Menschenkonzept gilt es zu verteidigen: Der Mensch als Person, als denkendes, freies und soziales Wesen, das mit unendlicher Würde ausgestattet ist.“

Und sicher etwas kritisch an die Adresse der ach so pragmatisch reagierenden deutschen Politik, der ähnlich wie der Mehrheit der Bürger Werteorientierung nicht mehr gar so wichtig, ja fast schon zweitrangig ist: „Nur eine mutige Politik, die auf dem Fundament von Werten aufbaut, deren Kern die menschliche Würde darstellt, verdient es, „Realpolitik” genannt zu werden. Machen wir doch in Europa kluge, langfristige, aber wirksame Politik, also eine, die die Würde des Menschen verteidigt. Die Würde eines jeden menschlichen Individuums und aller Menschen!“

Wir können wirklich stolz auf solche Nachbarn sein, die doch unsere Werte vehement verteidigen. Und wenn sich jemand dieser Wertegemeinschaft anschließen will, sollten nicht nur Polen und Litauer die Hände ausstrecken.

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