Wie wichtig sind die Tugenden?

Wie wichtig sind die Tugenden?

In der Ethik geht es nicht nur um einzelne Taten; es geht nicht nur um die Moralität unserer Handlungen, sondern auch um uns als Personen. Nur wenn ein Mensch wiederholt ehrlich, barmherzig, hilfsbereit usw. handelt, sagen wir, dass er ehrlich, barmherzig und hilfsbereit ist. Die Tugenden beschrieben diesen Aspekt der Kontinuität; sie kennzeichnen vor allem den Charakter oder das Sein des Menschen. Aber natürlich drängt jede Tugend zur Verwirklichung: wer die Tugend der Ehrlichkeit besitzt, wird dann auch die Wahrheit sagen.

Die Bibel gebraucht unseren modernen Begriff des Charakters nicht, aber sicher wird in ihr gelehrt, dass das gute Handeln von innen, von einer erneuerten Persönlichkeit ausgehen soll. Mt 7,16–18: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man denn Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln? So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen.“

Eine Person muss also zuvor etwas sein, bevor sie etwas tun kann. David W. Gill: „Um das Richtige zu tun, brauchen wir nicht nur Prinzipien und Regeln, die uns anleiten; wir brauchen auch die Fähigkeiten und die Motivation, um solche Anleitungen zu verstehen und auszuführen. Natürlich gibt es keine Garantien: gute Menschen tun manchmal etwas Falsches, und schlechte oft das Richtige. Aber dies sind Ausnahmen. Die Regel ist, dass wir gute Personen mit gutem Charakter formen müssen, damit das Richtige öfter getan wird. Wenn wir nicht Fortschritte machen in der Frage, wer wir sind, werden wir unmöglich vorankommen in der Frage, was wir tun sollen.“ (Becoming Good) Aber schon Aristoteles betonte, dass die Tugenden nur durch Übung und Praxis, durch gewohnheitsmäßiges Handeln wachsen, ja überhaupt entstehen; gegen Ende mehr zu all dem.

Tauglich zum Glück

Der Tugendbegriff spielt daher in der Ethik traditionell eine zentrale Rolle. Arthur F. Holmes definiert wie folgt: „Eine Tugend ist eine richtige innere Disposition, und eine Disposition ist eine Neigung, auf bestimmte Art und Weise zu handeln. Dispositionen sind grundlegender, dauerhafter und universeller als das einzelne Motiv hinter einer bestimmten Handlung. Sie sind eine gefestigte Geistesverfassung… Tugenden sind allgemeine Charaktereigenschaften, die unseren einzelnen Motiven und Intentionen und unserem äußeren Verhalten innere Zustimmung geben.“ (Wege zum ethischen Urteil)

In der Ethik der antiken Griechen, bei Platon und Aristoteles, nahmen die Tugenden einen wichtigen Platz ein (gr. arete – wörtl. Vorzüglichkeit; s. auch aristos – der Beste; lat. virtus). Platon sprach von vier Tugenden (später „Kardinaltugenden“ genannt, s.u.): Klugheit (oder Weisheit), Tapferkeit, Maß, Gerechtigkeit (Der Staat, 427–445). Er ordnete die ersten drei Tugenden je einem Teil der Seele zu (Vernunft, Mut und Begierde), zusammengehalten von der Gerechtigkeit.

Auch Aristoteles ging von der Lehre über den Menschen aus. Für ihn ist der Verstand der höchste Teil der Seele. Zu ihm gehören die Tugenden des Verstandes („dianoetische“) wie vor allem Klugheit, Weisheit, Freundschaft. Hier gibt es kein schädliches Extrem. Daneben gibt es die Tugenden im eigentlichen Sinne („ethischen“), die von der Klugheit kontrolliert werden. Hier gilt der bekannte Grundsatz, dass die ethische Tugend im Mittel zwischen zwei Extremen besteht: Tapferkeit zwischen Tollkühnheit und Feigheit; Mäßigung zwischen Wollust und Stumpfheit; Großzügigkeit zwischen Verschwendung und Geiz; Vornehme Ruhe zwischen Jähzorn und Phlegma; Aufrichtigkeit zwischen Prahlsucht und geheuchelter Bescheidenheit; Gewandtheit zwischen Albernheit und Rüpelhaftigkeit.

Wie diese wahren Einsichten schon zeigen, kann besonders von Aristoteles viel gelernt werden. In den Spuren seines Lehrers Platon überwand er die bis dahin doch recht unreflektierten Ethikentwürfe wie die Lustethik der Epikureer oder die Machtethik mancher Sophisten. Gleich zu Beginn der Nikomachischen Ethik macht Aristotles deutlich, dass alles Handeln auf ein Gut zustrebt. Das höchste Gut des Menschen ist die eudaimonai, die Glückseligkeit – Gesegnetheit, Glück, Erfolg. Ein Zustand des Gutgehens, der aber nur durch das Tun des Guten erreicht wird. „Die Tugenden sind genau jene Eigenschaften, deren Besitz den einzelnen in die Lage versetzt, eudaimonia zu erlangen, während ihr Fehlen seine Bewegung auf dieses Telos [Endziel] vereitelt“, so Alasdair MacIntyre in Verlust der Tugend. Von Aristoteles stammt der bis heute einflussreiche Gedanke, dass die praktizierten Tugenden zu Glück und erfülltem Leben führen, dass aber auch nur das tugendhafte Leben geglücktes Leben sein kann (dazu gleich noch mehr). Heute wird Aristotles Tugendbegriff in der Nikomachischen Ethik meist mit „Tüchtigkeit“ übersetzt – die Tugenden versetzen den Menschen in die Lage, sie sind tauglich, um das Glück zu erreichen.

Leichtigkeit oder Versagen

Die Ethik des Griechen enthält auch Problematisches. Besonders die Tugenden der Vernunft sind nach Aristoteles dem Mensch quasi angeboren, eine natürliche Fähigkeit; er muss sie nur richtig anwenden. Außerdem gilt von seiner Ethik im Allgemeinen, dass das höchste Gut etwas vom Menschen zu Leistendes ist. Der Philosoph war daher in ethischer Hinsicht viel zu optimistisch, was in seiner Anthropologie begründet liegt (einen Sündenfall kanten die Griechen nicht). In der Nikomachischen Ethik ist folgender Abschnitt sehr wichtig:

„Die Glückseligkeit scheint weiterhin in der Muße zu bestehen… wenn dagegen die betrachtende Tätigkeit des Geistes… keinen anderen Zweck hat als sich selbst… so sieht man klar, dass in dieser Tätigkeit… die Autarkie, die Muße, die Freiheit von Ermüdung und alles, was man sonst noch dem Glückseligen beilegt, sich finden wird. Somit wäre dies die vollendete Glückseligkeit des Menschen… Aber ein solches Leben ist höher als dem Menschen als Menschen zukommt. Denn so kann er nicht leben, sofern er Mensch ist, sondern nur sofern er etwas Göttliches in sich hat… Ist nun der Geist im Vergleich mit dem Menschen etwas Göttliches, so muss auch das Leben nach dem Geiste im Vergleich mit dem menschlichen Leben göttlich sein… wir sollen, soweit es möglich ist, uns bemühen, unsterblich zu sein und alles zu tun, um nach dem besten, was in uns ist, zu leben. Denn mag es auch klein an Umfang sein, ist es doch an Kraft und Wert das bei weitem über alles Hervorragende.“ (1177b–1178a)

Für die Griechen war Gott die höchste Vernunft. Der „tätige Geist“ (oder der aktive Intellekt) im Menschen ist unsterblich und gleichsam etwas Göttliches in uns. W. Raeper/L. Smith: „In Aristoteles Philosophie wird der Verstand zu einem fast göttlichen Bestandteil der Seele.“ (A Beginner’s Guide to Ideas) Es wurde durchaus kontrovers diskutiert, inwieweit der Geist nun Anteil am Göttlichen hat, Geschöpf des Göttlichen oder nur Anknüpfungspunkt des Göttlichen ist. In jedem Fall folgt für die Ethik: „Aristoteles hatte, wie auch die übrigen antiken Denker, keinen Zweifel daran, dass der Mensch durch seinen Verstand seine Gefühlsnatur beherrschen kann.“ (Jurate Baranova, Etika)

Auch wenn die tugendhafte Persönlichkeit so nicht im Mittelpunkt der Bibel steht und der gr. Begriff nur selten gebraucht wird, findet sich eine Tugendethik natürlich auch dort. Die biblische ethische Unterweisung kennt nicht nur einzelne Gebote, sondern auch Zielangaben für die Disposition der ganzen Person. Im AT werden oft Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Barmherzigkeit, Frömmigkeit, Demut, Weisheit betont. Im NT taucht arete auch auf (Phil 4,8; 2 Pt 1,3f). Dort finden wir ausführliche Tugend- und Lasterlisten (Gal 5,22; Kol 3,12; Phil 4,8; Laster: Mt 18,19; Röm 1,28–32; 13,13; 1 Kor 5,9–11; 6,9–10; 2 Kor 12,20–21; 1 Tim 1,9–10; 2 Tim 3,2–8; Tit 3,3; Off 21,8).

Auch wenn manche Gedanken und viele Begriffe der griechischen Tugendethik in der Bibel auftauchen, ist der ‘Geist’ in ihr doch ein anderer. Drei Dinge sind hier zu nennen.

Wie die zahlreichen Lasterkataloge zeigen, ist die Bibel erstens viel nüchterner und realistischer was die Möglichkeiten des Menschen zum tugendhaften Leben betrifft – hier findet sich nur wenig vom Optimismus des Aristoteles! C. S. Lewis sehr gut in Pardon, ich bin Christ (Mere Christianity): „Wenn wir versuchen, uns ernsthaft in den christlichen Tugenden zu üben, lernen wir vor allem eines, nämlich dass wir versagen.“

Die christliche Ethik hat diese Tugendlehre der klassischen Antike schon früh aufgenommen und dann im Mittelalter die vier Kardinaltugenden (s.o.) in Anlehnung an 1 Kor 13 durch die drei christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe ergänzt; ein Ansatz, der vor allem durch Thomas v. Aquin systematisiert wurde (s. Katechismus der Katholischen Kirche [KKK], §1803–1829). Danach sind die vier klassischen, „natürlichen“ Tugenden auch für den gefallenen Menschen erreichbar; die drei „übernatürlichen“ Tugenden  müssen von Gott geschenkt werden. KKK, §1810–1811: „Die menschlichen Tugenden, die man durch Erziehung, durch bewusste Taten und durch Ausdauer in Anstrengung erlangt, werden durch die göttliche Gnade geläutert und erhoben. Mit Hilfe Gottes schmieden sie den Charakter und geben Leichtigkeit im Tun des Guten… Für den durch die Sünde verwundeten Menschen ist es nicht leicht, das sittliche Gleichgewicht zu bewahren.“

Die Gnade „läutert“ die schon vorhandenen Tugenden; Gott gibt „Hilfe“. Der Mensch ist also nur geschwächt und durchaus zu einem tugendhaften Leben fähig, die Gnade hilft nur dabei, ständig in der Tugend zu bleiben – man vergleiche mit der Antwort zur 5. Frage im Heidelberger Katechismus: „… ich bin von Natur aus geneigt, Gott und meinen Nächsten zu hassen“.

Gerade hier wird deutlich, dass der Tugendgedanke zwar wichtig ist, aber unbedingt inhaltlich biblisch gefüllt werden muss. Denn besonders gefährlich ist der ethische Optimismus, gerade was die Tugend des gefallenen Menschen betrifft. Auch Christen stehen vor der Gefahr des Stolzes auf die eigene Tugend. Im Westminster-Bekenntnis: „Ihre [der Christen] Fähigkeit, gute Werke zu tun, kommt ganz und gar nicht aus ihnen selbst, sondern vollständig aus dem Geist Christi…“ (Art 16,3) Und der Heidelberger Katechismus betont, dass selbst die frömmsten Christen in diesem Leben nicht über einen „geringen Anfang“ (!) des Gehorsams – also Tugend in der Praxis – hinaus kommen (Fr. 114).  Diese Radikalität finden wir z.B. im KKK nicht (man beachte immer wieder die Wortwahl dort: zusammenwirken, helfen, erleichtern usw.).

„Die nach Gott lebenden Menschen“

Ein zweiter kritischer Punkt betrifft das Wesen Gottes bzw. des Göttlichen. Natürlich ist Aristoteles Ethik keine atheistische. Doch im Hinblick auf die vertikale Dimension, das Übernatürliche, bleibt vieles im Unklaren. Er spricht vom Göttlichen, aber ob es einen Gott oder mehrere gibt, welchen Charakter ‘der’ Gott hat und inwieweit ‘Gott’ uns im Erreichen der Glückseligkeit hilft oder nicht, lässt er weitgehend offen. Wir werden zu etwas Größerem und Höherem als wir selbst gleichsam hingezogen, und es gibt diese göttliche Dimension in uns. Ansonsten stützt sich seine Ethik weitgehend auf die Beobachtung und gedankliche Durchdringung des Natürlichen.

Der gesamten griechischen Ethik der Antike fehlte eine klare Vorstellung eines einzigen und personalen Gottes. Die ersten Philosophen wie der Vorsokratiker Xenophanes (um 500 v.Chr.) begannen den Polytheismus zu kritisieren und erkannten: Menschen schaffen Götter nach ihrem Bilde. Später begriffen Platon und Aristoteles, dass wir eine objektive Grundlage der Ethik brauchen; und die ist in einer Götterwelt der Mythen, wo jeder Gott seine eigenen Wünsche und Vorlieben, jeder einen anderen Charakter und andere Eigenschaften hat, nicht zu bekommen. Vieles steuerte hin Richtung Monotheismus, aber die Klarheit der biblischen Offenbarung wurde nirgendwo erreicht.

Die Bibel beginnt mit der Schöpfung durch einen personalen Gott (selbst bei Platon, der der christlichen Gotteslehre vielleicht noch am nächsten kommt, wird die Welt ‘nur’ durch einen Demiurgen geschaffen). Damit gibt es letztlich nur einen Standard der Ethik: Gottes Charakter. Der Mensch ist Geschöpf Gottes, unterscheidet sich aber von den Mitgeschöpfen dadurch, dass nur er im Bilde Gottes geschaffen wurde (Gen 1,26–27). Er ist Person wie Gott, wenn auch als begrenztes Wesen anders als dieser, und daher berufen, auch in ethischer Hinsicht wie Gott zu sein.

Unsere ethische Verantwortung ist daher im Wesentlichen die ‘Imitierung Gottes’. Natürlich soll und kann der Mensch nicht die Eigenschaften imitieren, die nur Gott als Schöpfer Kennzeichen (Allmacht, Allgegenwart, Ewigkeit usw.). Woran wir uns orientieren sollen, sind die moralischen Eigenschaften Gottes wie Wahrhaftigkeit, Treue, Liebe, usw. So ist dann ja im NT eines des wichtigsten Themen das konkrete Vorbild Jesu für die Christen: wir sind aufgerufen ihn zu imitieren (lat. imitatio Christi) – 1 Kor 11,1: „… so wie ich dem Beispiel folge, das Christus uns gegeben hat“.

Nichts dergleichen finden wir bei den Griechen. Dreht sich in der jüdisch-christlichen Ethik  alles um Gott, so bleibt bei Aristoteles der Geist des Menschen mit sich selbst allein. Die höchste „Tätigkeit des Geistes“ ist die betrachtende, und er betrachtet in gleichsam ewiger Meditation sich selbst. Ideal und Hoffnung des Christentums ist dagegen die ewige Gottesschau (s. 1 Kor 13,12; Off 22,4).

Der Umbruch vom antiken zum christlichen Denken des Mittelalters ist vielleicht bei Augustinus am besten zu erkennen. In Der Gottesstaat (De civitate dei) stellt er dar, dass die Christen, die Bürger des Gottesstaates, die „nach Gott lebenden Menschen“ sind; diejenigen, die den „höchsten Ruhm in Gott“ finden und die vor allem von der Gottesliebe bestimmt werden. Die Bürger des Weltreiches dagegen sind „dieser Welt hingegeben“, leben „nach der Welt Weise“ und werden von der Selbstliebe beherrscht.

In De moribus eccleasiae catholicae deutet der Kirchenvater auch die Kardinaltugenden als Ausdruck der Liebe zu Gott: durch die Tugend der Mäßigung bewahrt man sich unverdorben für Gott; durch die Tapferkeit erträgt man alle Lasten um Gottes Willen; durch die Gerechtigkeit ordnet man sich Gott unter und regiert über die nichtmenschliche Schöpfung; und durch die Klugheit erkennt man, was auf der Pilgerreise zu Gott hilfreich ist und was nicht. Hier fällt auf, wie sehr diese Tugenden von ihrem Wesen her nach außen hin gerichtet sind, vor allem eben wieder auf Gott. Man vergleiche dies mit Platons Schilderung der Kardinaltugenden in Der Staat (s.o.): eine Art Selbstorganisation in der Seele, in der sie sich selbst differenziert. Gott gibt es natürlich auch bei Platon, aber er hat mit dem Wesen der Tugenden selbst direkt nichts zu tun. Orientierungspunkt seiner Ethik ist die quasi-göttliche Idee des Guten, aber nicht Gott und eine Person Gottes.

Es ist daher entscheidend wichtig, die Tugenden an die Eigenschaften Gottes zurückzubinden. Dies wird vielleicht am deutlichsten am Beispiel der Demut und des Stolzes. Die Lehre zu dieser Tugend bzw. diesem Laster hängt an Gott, und so ist es kein Zufall, dass wir in der griechischen Ethik nichts finden, was dieser radikalen Kritik des Stolzes und diesem radikalen Lob der Demut auch nur ähnelt. (Auch hier wäre wieder Augustinus zu nennen: den Pilgern im Gottesstaat ist „zuallermeist die Demut ins Herz gelegt“, die „Hauptsünde“ der Weltbürger ist „das Laster Hochmut“ – „das ist in der Tat der große Unterschied, der sie voneinander trennt, die beiden Staaten“.)

Der Mensch hat keinen Grund, wirklich stolz zu sein, da er Geschöpf Gottes ist und diesem alles zu verdanken hat. Das Bewusstsein der Abhängigkeit von und der Verantwortung vor Gott macht demütig. So wundert es nicht, dass Stolz und Hochmut an vielen Stellen der Bibel verurteilt werden (z.B. Hiob 22,29; Ps 31,24; Spr 8,13; 16,5.18; Röm 1,30; 12,16; 1 Tim 6,17; 2 Tim 3,2).

C.S. Lewis über „Die große Sünde“: „Die Christen haben recht: der Hochmut ist seit Anfang der Welt der Hauptgrund für alles Elend in jedem Volk und jeder Familie. Andere Sünden führen die Menschen zuweilen zusammen… Der Hochmut dagegen kennt nur Feindschaft, er ist Feindschaft; Feindschaft nicht nur zwischen Menschen, sondern Feindschaft gegen Gott. In Gott begegnen wir etwas, das uns in jeder Hinsicht überlegen ist. Nur wenn wir dies akzeptieren und unsere eigene Nichtigkeit Gott gegenüber erkennen, wissen wir, wer Gott ist. Solange wir in unserem Hochmut verharren, können wir Gott nicht erkennen.“ (Pardon, ich bin Christ)

Die entgegengesetzte Tugend ist Demut und Sanftmut, die von Christus am vorbildlichsten dargestellt wurde (Sach 9,9; Mk 10,45; Mt 11,29; 20,28; 2 Kor 10,1; Phil 2,6–8). Gläubige im AT wie im NT werden zur Demut/Sanftmut aufgefordert (Spr 3,34; 11,2; 22,4; Jes 57,15; 66,2; Mch 6,8; Zef 2,3; Mt 5,5; Eph 4,2; Phil 2,3; 1 Tim 6,11; 2 Tim 2,24–25). Sie ist besonders wichtig für Leiter im geistlichen Dienst: Demut heißt für sie vor allem, dass Leiterschaft dienend und demütig ist (Num 12,3; Mt 20,25–28; Joh 13,1–17; Eph 4,11–16; 1 Pt 5,2–3).

„Dies Leben ist auf gar vielerlei Weise jämmerlich“

Schließlich muss ein dritter Punkt im Hinblick auf die Griechen beachtet werden: Ähnlich wie die Gottesvorstellung bleibt das Jenseits eher diffus. Gewiss kannten Platon und Aristoteles das Ewige und gingen wie selbstverständlich davon aus, dass es eine Art Unsterblichkeit gibt; ein moderner Materialismus à la „mit dem Tod ist alles aus“ war ihnen fremd. Platon betonte die Unsterblichkeit der Seele, dachte aber auch an Seelenwanderung und Wiederverkörperung. Bei Aristoteles gibt es möglicherweise eine gewisse Existenz nach dem Tod, doch was genau wird dort weiterleben? Sicher die „tätige Vernunft“ und wohl eher nicht der ‘Rest’ der Seele. Eine konkrete Hoffnung auf ein persönliches, individuelles Weiterleben nach dem Tod, ein ewiges Leben des ganzen Menschen (also eine Hoffnung auf leibliche Auferstehung, s. Apg 17,32), kannten die Griechen nicht.

Besonders die Ethik des Aristoteles, der ja für die Tugenden so bedeutsam ist, ist daher nicht zufällig eine weitgehend diesseitige. Taucht bei Platon noch der Gedanke der Folgen von Taten im Jenseits auf, so bewegt sich sein Schüler fast ganz im Hier und Jetzt. Die Tugenden bilden einen Rahmen für ein gelingendes Leben hier auf Erden. Die Aristoteles-Renaissance, angestoßen vor allem durch Alaisdair MacIntyre, ist auch sicher durch diesen Aspekt zu erklären.

Die Tugenden sind natürlich an sich gut für das Leben. Sie passen gleichsam zu unserem Wesen als Menschen, sind eben tauglich für unser Wohl. Wer tugendhaft handelt, tut daher das Richtige. Und er kann damit rechnen, dass die Folgen – ganz allgemein formuliert – positiv sein werden. „Wer aber mir gehorcht, wird sicher wohnen und ohne Sorge sein und kein Unglück fürchten“, so Spr 1,33. Auch Kapitel 3 beschreibt dann den Segen der Gottesfurcht, Weisheit oder eben Tugend – in diesem Leben.

Die Ethik der Weisheit oder auch der Tugend darf jedoch nicht isoliert werden; es darf nicht zu viel auf solchen verallgemeinernden Aussagen gebaut werden. Sie stellen ja nur Grundtendenzen dar (deutlich ja auch bei Ex 20,12, dem Versprechen von langem Leben bei Gehorsam). Es soll mit ihnen keineswegs gesagt werden, dass der Gehorsame immer lange lebt, dass Gottesfürchtige oder Tugendhafte immer Erfolg haben und dass es ihm immer gut gehen wird (in manchen der Sprüche wird dies ja schon deutlich wie in 16,8). Insofern besteht die Gefahr, dass Buchtitel wie nun Hans-Arved Willbergs Wie das Leben gelingt – Alte Tugenden neu entdeckt oder darauf aufbauende Sätze wie „So gelingt das Leben!“ in die Irre führen können. Das irdische Leben wird auf dem Pfad der Tugend wahrlich nicht immer gelingen; der Ehrliche ist tatsächlich oft der Dumme; der Tugendhafte hat für seine Moral nicht selten mit Spott, Verachtung, Misserfolg zu bezahlen. Auch das tugendhafte irdische Leben kann in gewisser Weise ‘daneben gehen’, d.h. Erfolg, Glück und Erfüllung können auch weitgehend abwesend sein.

Verbindet sich eine isolierte Weisheits- und Tugendethik mit der aristotelischen Diesseitsorientierung und dann noch mit den steilen Thesen der vielen ‘Lebensberater’ aus der Schule des „Positiven Denkens“, dann werden aus den allgemeinen biblischen Tendenzen konkrete Gesetze des Erfolgs und Glücks. Beispiele ließen sich in Hülle und Fülle nennen. Noch verwirrender wird es, wenn Autoren von Byrne über Sharma bis Murphy dann auch noch die Bibel zitieren, um ihren Kult des irdischen Glücks zu belegen.

Die Ewigkeitsperspektive ist entscheidend wichtig – und die wird weder von den Griechen, noch von unserer säkularen (und esoterischen) Kultur mitgeliefert. Das tugendhafte Leben gelingt tatsächlich – aber gleichsam sehr langfristig. Mit Blick auf das Jenseits und das ewige Schicksal. Hier auf Erden fahren viele auf alle möglichen Weisen besser, und es sind leider häufig die Skrupellosen, Gerissenen und Machtgierigen, denen es gut geht. Dies zu leugnen wäre einfach naiv. Paulus gibt in 1 Kor 15,32 zu verstehen, dass ohne Ewigkeits- und Auferstehungsperspektive auch das tugendhafte Leben wenig Sinn macht.

Man sollte sich daher mit vollmundigen Versprechungen über den vermeintlichen irdischen Segen der Tugenden eher zurückhalten und besser gleich hinzufügen, dass das Gelingen im Sinne von Glück und Erfolg auf Erden wahrlich nicht immer geschenkt wird.

Man betrachte nur das Beispiel des Josephs in Genesis. Wir wissen, dass seine Geschichte ein Happyend hat: der Sohn Jakobs wird zum Regenten in Ägypten und versöhnt sich mit seinen Brüdern. Doch was wäre geschehen, wenn der Mundschenk sich nicht an den „hebräischen Jüngling“ erinnert hätte? Wenn Joseph einfach nur weiter im ägyptischen Gefängnis geschmort hätte – bis ans Ende seiner Tage? Dann wäre der moralisch Hochstehende, der der sexuellen Versuchung tapfer widerstanden hatte, wahrlich der Leidtragende gewesen. Und tatsächlich saßen und sitzen viele tugendsame Christen in Verließen, Kerkern und Lagern und werden dann nicht „erhöht“. Gelungenes Leben? Ja, aber nur in Ewigkeitsperspektive. Unser Leben auf der Erde ist eben nicht auf Happyend programmiert. Mal lenkt Gott ein Leben so, ein anderes Mal so. Mal schenkt er Wohlstand und Glück, mal führt in viel Verfolgung, Krankheit und Leid hinein. Und das Leben nach den Regeln der Tugend muss nicht in einem direkten Zusammenhang damit stehen.

Nur in der Ewigkeitsperspektive macht es überhaupt Sinn, von einer Berufung der Christen  zum Leiden zu sprechen. Aristoteles wäre so ein Gedanke völlig fremd gewesen. Natürlich gibt es auch bei ihm Schmerzen und Leid, und manche Tugenden wie die Tapferkeit brauchen eine Art negativen Widerstand, um sich bilden und reifen zu können. Aber Leiden, das auch irgendwie positiv sein kann? (Auch ein freiwillig leidender Gott war für die Griechen ja völlig undenkbar.) Ist dieses Leben auf Erden alles, müssen wir persönliches Leid um alles in der Welt vermeiden. Im Wissen um die Ewigkeit kann der Christ es ertragen und darin Sinn entdecken.

Gerade der Stellenwert, den das Leiden im NT einnimmt, zeigt den großen Kontrast zur griechischen Tugendethik. Verfolgung und Leid gehören zum Leben als Christ (Röm 8,17; Fil 1,29; 2 Tim 1,8; 2,3; 3,12; Hbr 12,11; Jak 1,2–3; Kol 1,24). Paulus und Timotheus gaben hier ein Beispiel (2 Kor 12,7 und 1 Tim 5,23). Und die Reihe setzt sich durch die Kirchengeschichte fort. Johannes Calvin z.B. war aus seiner Heimat vertrieben worden und wurde bald von vielen Gegnern verleumdet. Dazu kam körperliches Leid, fast ein Leben lang. Der Reformator hatte wahrlich kein angenehmes Leben. Sehr ausgewogen schreibt er: „Wir fangen schon in diesem Leben unter gar vielerlei Wohltaten an, die Süßigkeit der Güte Gottes zu schmecken“, weshalb wir Gott dankbar sein sollen. Im Abschnitt „Vom Trachten nach dem zukünftigen Leben“ in der Institutio (III,9) warnt er aber auch: Wir tun oft so, „als wollten wir hier auf Erden unsterblich werden“; „wir schlagen uns nicht nur den Tod aus dem Sinn, sondern auch die Sterblichkeit selber“. Trotz Freude, Schönheit und Genuss erinnert Calvin an eine wichtige Wahrheit: „Dies Leben ist, wenn man es an und für sich betrachtet, unruhig, stürmisch und auf gar vielerlei Weise jämmerlich, dagegen in keiner Hinsicht wirklich glücklich; und alles, was man als Güter dieses Lebens ansieht, ist unbeständig, flüchtig, eitel, mit vielen Übeln untermischt und durch sie verdorben.“ Wir müssen daher „in der Schule des Kreuzes vorankommen“ und begreifen, „dass wir hier nichts zu suchen und nichts zu erwarten haben als Kampf und dass wir unsere Augen zum Himmel erheben müssen, wenn wir eine Krone gewinnen wollen!“

Mit einem Wort: wir dürfen nicht versuchen alles Glück in diesem irdischen Leben zu finden. Doch genau dies ist leider das Motto unserer Kultur, in der, so Pascal Bruckner, eine „allgemeine Euphorie“ befohlen wird und in der wir „in zunehmendem Maße allergisch gegen das Leiden“ sind (Verdammt zum Glück).

David W. Gill stellt gut dar, dass diese Ausrichtung auf die Zukunft eine Kardinaltugend wie die Tapferkeit transformiert (er geht dabei auch auf den zweiten Kritikpunkt, die Person Gottes und seine Gegenwart, ein): „Biblischer Mut unterscheidet sich von der klassischen Tugend der Griechen [Tapferkeit] in mindestens zwei Hinsichten. Er ist erstens untrennbar verbunden mit der Gegenwart des Herrn. ‘Sei getrost und unverzagt. Lass dir nicht grauen und entsetze dich nicht; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tust’ (Jos 1,9). Mut entspringt nicht einer Kraft in uns, sondern Gottes Gegenwart und Macht. Zweitens ist biblischer Mut auf die Zukunft ausgerichtet. Mut wird inspiriert durch Hoffnung und Vertrauen auf die Zukunft… Gott gibt uns Mut – die Fähigkeit Ja zu sagen und am Tun des Richtigen festzuhalten, auch wenn es schwer fällt, auch wenn wir erschöpft sind und alles in uns ruft ‘Es reicht!’.“ (Becoming good)

Fassen wir zusammen: Die Tugenden sind wichtig, und die Renaissance der Tugendethik ist nicht zu verwerfen. Warum auch? Es bleibt nur entscheidend wichtig, dass alle Diskussion um die Tugenden im Rahmen eines christlichen Verständnisses von Gott, dem Menschen und der Ewigkeit geschieht; dass außerdem die Tugenden auf Gott hin ausgerichtet (wie Augustinus dies schon zeigte) und biblisch gefüllt werden.

„Die Bibel als Regelbuch“

Abschließend ist noch zu klären, welchen Stellwert die Tugendethik in der gesamten christlichen Ethik einnehmen soll. Das neue Interesse an den Tugenden in den letzten Jahrzehnten hat nämlich auch dazu geführt, dass sie in der Wichtigkeit an die erste Stelle gewandert sind. Zwei Beispiele dazu.

Steve Chalke und Alan Mann haben in Different Eyes: the Art of Living Beautifully eine locker geschriebene, recht knappe Ethik für unsere postmoderne Zeit vorgelegt. Sie unterscheiden gut zwischen drei grundlegenden Ansätzen in der Ethik, die jeweils etwas anderes in den Vordergrund stellen: Regeln, Folgen und Tugenden („Rules, Consequences or Virtues“).

Allerdings kritisieren sie sehr einseitig die normative oder „deontologische“ Ethik (von gr. deon – Pflicht) – „die Bibel als Regelbuch“. Der Regelansatz sei unpraktisch; er führe zur Erfindung von immer neuen Regeln, um sich geänderten Zeiten und Umständen anzupassen. Ja er sei sogar unmoralisch, wenn man z.B. aus Achtung vor der Wahrheit auch einem Mörder sein nächstes Opfer ausliefert. Der Bibel ginge es um eine „moralische Vision“ und nicht um eine „Liste von universalen Regeln“, die „gedankenlos“ angewendet werden. „Blinder Gehorsam gegenüber unflexiblen Regeln“ würde moralisches Wachstum behindern. Auch der an Folgen orientierte Ethikansatz (teleologische Ethik, von gr. telos – Ziel) wird als „verfehlt“ angesehen. Sie rücken als das Wichtigste die existentielle Perspektive in die Mitte, die Formierung von Charakter und Tugenden. Es ginge nicht so sehr um das Tun, sondern um das Sein.

Die Autoren unterschieden erst einmal durchaus richtig. Tatsächlich können wir von drei Aspekten in der Ethik sprechen. Schon in manchen protestantischen Bekenntnisschriften sind sie implizit enthalten (Westminster-Bekenntnis, Art. 16,7). Cornelius Van Til (1895–1987) unterschied dann wohl als erster zwischen Standard, Ziel und Motiv. Sein Schüler John Frame (geb. 1939) entwickelte daraus die drei ethischen „Perspektiven“ (normative, situative und existentielle; entsprechend Regeln, Folgen und Tugenden). Frame stellt aber, ganz anders als Chalke/Mann, sehr gut dar, dass alle drei Perspektiven zwar zu unterscheiden sind, aber zusammengehören, sich gegenseitig ergänzen und erklären. Keine steht daher allein an der Spitze, und keine darf als solche abgewertet werden. Es ist die nichtchristliche Ethik, die gleichsam alles auf eine Karte setzt, die eine Perspektive verwirft bzw. eine andere allein heraushebt.

Genau diesen Fehler begehen auch die beiden Briten. Natürlich ist die Ausbildung eines tugendhaften Charakters in gewissem Sinne ein Endziel, aber die scharfe Abwertung der anderen Perspektiven ist kaum biblisch zu begründen und alles andere als hilfreich. Warum müssen wir uns bei der Wahl zwischen „Regeln, Folgen und Tugenden“ so eindeutig auf eine Seite schlagen? Die Polemik gegen das „Regelbuch“ führt fast unweigerlich zu einer Abwertung des Gehorsams, der in der Bibel an zahllosen Stellen gefordert wird. Ergebnis ist damit außerdem eine kaum verdeckte Bibelkritik. Chalke/Mann zählen sich zu den bibeltreuen Evangelikalen, aber ist es nicht das alte Mantra der Deisten des 17. Jhdt. und aller Liberalen seit Schleiermacher, dass der ‘gewalttätige’ Gott des AT nicht Gottes wahres Wesen widerspiegelt wie im Buch behauptet?

Der Tugend Vorrang?

Chalke und Mann zitieren nicht zufällig Stanley Hauerwas, in dessen Traditionslinie sie stehen und der sicher einer der einflussreichsten christlichen Ethiker unserer Zeit ist. In The Peaceable Kingdom stellt auch der Methodist dar, dass die Frage „Wer soll ich sein?“ Vorrang habe vor „Was soll ich tun?“. Das Handeln und Entscheiden stehe nicht im Zentrum der Ethik, sondern das tugendhafte Sein. Er warnt vor der Trennung von Handlungssituationen und den Entscheidungen in solchen von der Frage, welche Personen wir sind und welche Geschichte wir haben. In seiner Ethik stehen nicht objektive und universale Normen, die auf Situationen angewandt werden, im Mittelpunkt (s. die „Liste von universalen Regeln“ bei Chalke/Mann). Vielmehr unterstreicht Hauerwas, dass unsere Normen in den Handlungen und Narrativen von Gemeinschaften geformt werden.

Er macht dies am Beispiel der Abtreibung deutlich: „‘Soll ich eine Abtreibung durchführen?’ ist keine Frage über eine ‘Handlung’, sondern über die Art von Person, die ich sein soll.“ Und weiter: „Wir haben nicht zuerst das Prinzip ‘Leben ist heilig’ und leiten davon ab, dass Abtreibung falsch ist.“ Vielmehr sehen und lernen wir über den Wert des Lebens und insbesondere das der Kinder in Gemeinschaften, in denen keine Abtreibungen praktiziert werden. Die „negativen Verbote einer Gemeinschaft“ gewinnen ihre Glaubwürdigkeit nur im Kontext der positiven Handlungen dieser Gemeinschaft. Und „Verbote markieren die äußeren Grenzen des Selbstverständnisses der Gemeinschaft. Sie sagen uns, dass wir, wenn wir dies tun oder jenes nicht mehr ablehnen, nicht mehr die Tradition ausleben, die uns geformt hat.“

Es stimmt natürlich, dass Normen nur in bestimmten Kontexten, konkret: Gemeinschaften, ihre Glaubwürdigkeit gewinnen. Hauerwas bekräftigt viel Richtiges, leugnet aber zu viel. Gebote sind Markierungspunkte einer Tradition oder Gemeinschaft. Aber sind sie nicht auch mehr? Und wenn diese Gemeinschaften die „Grenzen des Selbstverständnisses“ ändern und erweitern? Schließlich ist zu fragen, warum wir uns überhaupt im Rahmen solcher Traditionen einer Gemeinschaft bewegen sollen?

Oliver O‘Donovan hat in Resurrection and Moral Order den Ansatz Hauerwas untersucht und trifft dabei eine gute Unterscheidung nämlich die zwischen (engl.) „evaluative“ und „deliberative moral thought“, also zwischen Bewertung nach einer Entscheidung bzw. Handlung und Abwägung davor. Steht man vor der Frage, wie eine geschehene Abtreibung moralisch zu beurteilen ist, lässt man sicher auch die Person, ihr Lebensumfeld, Geschichte, Tugend oder Untugend miteinfließen. All dies muss zumindest in Teilen berücksichtigt werden, will man z.B. die konkrete Schuld oder Nichtschuld bemessen und alles seelsorgerlich aufarbeiten.

Kenntnis von Tugend und Charakter hat jedoch, so O‘Donovan, im Prozess der Überlegung vor einer Handlung, also bei der Frage, was ich nun konkret tun soll, keine Priorität. Aus meiner Tugend der Wahrhaftigkeit, aus meinem Wahrhaftigsein, ist für die konkrete Situation nicht zu viel abzuleiten. Hier ist Orientierung an dem konkreten Gebot „du sollst die Wahrheit sagen und nicht lügen“ zu schöpfen. Bewerte ich eine Lüge, spielt es aber mitunter eine große Rolle, ob derjenige ein wahrhaftiger Mensch oder ein notorischer Lügner ist.

Hauerwas sieht dies anders. Zukünftige Handlungen müssten im Licht der ganzen Persönlichkeit mit Charakter und Tugenden abgewogen werden. Daran ist Wahres, aber O’Donovan gibt zu bedenken, dass uns das Herz, ‘Sitz’ der Tugenden, verborgen ist – bis es sich in Handlungen gleichsam offenbart. Dass nur Gott das Herz kennt und wir nicht (1 Sam 16,7), besagt ja nicht, dass das Herz nicht wichtig ist. Aber im Hinblick auf die zu treffende ethische Entscheidung sollen wir uns eben an das halten, „was vor Augen ist“, und das sind z.B. die klaren Gebote.

Eine Person muss zuvor etwas sein, bevor sie etwas tun kann. Von dieser schon eingangs genannten Abhängigkeit des Tuns vom Charakter mit seinen Tugenden leitet Hauerwas zu viel ab. Im Hinblick auf das Sein kann tatsächlich von einer ontologischen Priorität des Charakters oder – biblisch gesprochen – des guten Baumes oder des guten Herzens gesprochen werden. Ohne das Vorhandensein all dieser guten Quellen kein gutes Handeln.

O‘Donovan betont daneben die epistemologische, also erkenntnismäßige Priorität des Handelns. Ich kann eben recht genau (natürlich nach eingehender Prüfung und Abwägung) sagen: eine Abtreibung ist in diesem Fall nicht erlaubt; dies erkenne ich besser als den Grad der Tugend, sei es die eigene oder die von anderen. Natürlich ist zuerst der gute Baum da; aber dennoch wird der Gläubige aufgefordert zu fragen, wie er konkret den Geboten in den Situationen gehorsam sein kann.

Die Tugendethik à la Hauerwas ist in gewisser Weise durchaus eine Korrektur für manche Tendenzen in der protestantischen Ethik. Tatsächlich sollten wir nicht immer nur fragen „Was soll ich tun?“, sondern auch „Wer bin ich?“; und tatsächlich sind die Kirchen berufen, Gemeinschaften der Tugend darzustellen (treffend sein Buchtitel A Community of Character). Es mag auch so sein, dass die klassische reformatorische Ethik den Tugenden zu wenig Beachtung geschenkt hat und dass manche evangelikale Gemeinden heute zu Gesetzlichkeit tendieren – die Bibel als Regelbuch.

Dennoch halte ich den klaren Vorrang der Tugenden für unangemessen. Zahlreiche neue Probleme werden so geschaffen. Man betrachte nur die aktuelle Debatte um homosexuelle Partnerschaften in den Gemeinden. Solch ein Paar kann gleich eine Reihe von Tugenden vorbringen wie die liebevollen Hingabe oder die Treue. In ihrer Beziehung drücken sich, so wird argumentiert, diese Tugenden aus. Da die biblischen Normen keinerlei epistemologische Priorität mehr haben, sind sie relativ leicht zu umschiffen. Und die von Hauerwas so betonte Gemeinschaft passt sich in ihren Grenzziehungen an. Hauerwas argumentiert auf dieser Linie  im Essay über “Gay Friendship” in Sanctify Them in The Truth. Gleichgeschlechtliche Handlungen sind nicht an sich ein Laster, wichtig ist, dass die Tugend der Treue anwesend und Promiskuität abwesend ist.

Die Logik der Bibel ist eine andere: durch das konkrete Handeln zeigt man seine Tugend- oder eben Lasterhaftigkeit. Gal 5,21: „die solches tun, werden das Reich Gottes nicht ererben“. Bei Hauerwas und einigen Neu-Aristotelikern geht dagegen die normierende Kraft der Gebote verloren. Dies hat auch damit zu tun, dass Hauerwas Ethik, soweit ich das überblicken kann, keine Offenbarungsethik ist.

Wenn die Tugendethik auch in keiner Weise zu verwerfen ist, so bahnt sich im Zuge ihrer Renaissance eine Art Paradigmenwechsel an.

Peter Rollins aus Nordirland, wichtiger Vordenker der „emerging church“, strebt solche Wechsel an. In How (Not) to Speak of God definiert er Orthodoxie neu: „‘richtiger Glaube’ wird zu ‘auf die richtige Art glauben’.“ Was glaubst du?, die Frage nach den Inhalten, wird zur Seite geschoben. Wie glaubst du? rückt bei Rollins an die erste Stelle. Es ist also im Kontext des bisher Gesagten gleichsam der tugendhaft Glaubende, der alles überlagert. Die Frage nach der Orthodoxie oder Rechtgläubigkeit wird ganz zu einer Frage der Tugend. Dass wir über den Glauben nach konkreten Inhalten urteilen müssen (genauso wie wir über die Tugendhaftigkeit entsprechend der konkreten Taten urteilen), ist bei ihm nicht vorgesehen.

Es ist wohl kein Zufall, dass Ähnliches bei Hauerwas formuliert wird: „In moralischer Hinsicht ist nicht von Bedeutung, was wir tun oder nicht tun, sondern wie wir tun, was wir tun.“ (A Community of Character) Das Was tust du? soll also ersetzt werden durch das Wie tust du es? und Wer bist du?. Als „einziges Prinzip der Ethik“ bleibt dann nur noch, dass man „mit der Welt in der rechten Beziehung“ stehen müsse (Rollins). Dem Relativismus wird dies Tür und Tor öffnen.

(Bild o.: Die Kardinaltugenden von Raphael.)