Veränderung, Bewahrung, Erneuerung

Veränderung, Bewahrung, Erneuerung

Es ist eines der Zauberwörter unserer Zeit: Transformation. Auch die Kirchen sind nun auf diesen Zug aufgesprungen und haben die Magie des Begriffs für sich entdeckt. Vor zwei Jahren veranstalteten Einrichtungen der EKD u.a. mit Gewerkschaften den „Transformationskongress“; Mitte Mai 2014 fand das „Zukunftsforum“ der Kirche statt – Motto „In/Trans/Reformieren“; das christliche Werk OM organisierte jüngst das „Transforum“; und evangelikale Ausbildungsstätten, die am Puls der Zeit bleiben wollen, bieten Studiengänge wie Gesellschaftstransformation an. An vollmundigen Visionen und Forderungen mangelt es meist nicht, und niemand runzelt noch mit der Stirn, wenn man in kirchenamtlichen Texten liest, dass „eine weltweit greifende grundlegende Transformation der Wirtschafts- und Lebensstile“ nötig sei.

Die Kraft der Veränderung

Die Kirchen, Werke und Christen allgemein sind, so kann man überall zwischen den Zeilen lesen oder auch direkt hören, die Katalysatoren, Generatoren und Initiatoren von Transformationsprozessen. Darin steckt gewiss Wahrheit, doch ich glaube, dass gerade die vergangenen zweihundertfünfzig Jahre eines gezeigt haben: die wesentliche oder erste Kraft der Veränderung (zumindest der äußeren, d.h. irdischen Verhältnisse) ist die Wirtschaft, die auf der Grundlage von Forschung und Erfindungen neue Technologien zur Anwendung bringt und dadurch Wachstum und Wohlstand schafft.

Manchmal gewinnt man angesichts der Transformationsinflation den Eindruck, dass wir in Zeiten leben, die ganz schrecklich sind und dringend nach radikaler Veränderung rufen. Und wieder wäre es dumm, behauptete man, dass alles so bleiben könne, wie es ist. Man vergesse jedoch nicht, auf welches Niveau weite Teil der Weltbevölkerung in den letzten Jahrhunderten gelangt sind. Vor fast fünfundzwanzig Jahren meinte Philosoph Karl Popper im Interview mit der „Welt“ (44/1990): „In der Zeit meiner Jugend [vor einhundert Jahren] gab es in Deutschland, Österreich, Frankreich, England noch Sklaverei. Vor allem Frauen waren damals versklavt – als Hausgehilfinnen, Köchinnen, Wäscherinnen usw. Sie hatten alle zwei Wochen einen Tag – den Sonntag – ‘Ausgang’: einen Tag in zwei Wochen. Die ganze übrige Zeit mußten sie dienen. Sie haben schwer körperlich gearbeitet, unter höchst unhygienischen Bedingungen. Sie konnten jederzeit hinausgeworfen werden… Die Technik hat diese Sklaven in Europa befreit – ohne Revolution. Und doch schimpfen heute so viele Leute über die Technik und darüber, was die Technik uns angetan hat. Dieses Geschimpfe ist so verfehlt. Ich meine: die Technik hat uns, und insbesondere die Frauen, befreit. Die Waschmaschine z.B. und fließendes kaltes und heißes Wasser, und der Kühlschrank, alles das, was den heutigen Menschen selbstverständlich ist…“

Bis zur Industrialisierung lebte die Masse der Weltbevölkerung in – aus heutiger Perspektiver – recht erbärmlichen Verhältnissen, ja Elend. Auch in Europa. Nicht einmal eine Milliarde ernährte der Planet, und das auch nur selten üppig. Die Freiheitsspielräume, ob nun wirtschaftlich, politisch oder gesellschaftlich, waren gering. Heute werden von den neun Milliarden Menschen über acht ordentlich satt, und einige Milliarden leben im materiellen Überfluss. Popper: „Es wird uns eingeredet, dass wir in einer ungerechten Welt leben. Das ist, historisch gesehen, das Dümmste, was man überhaupt sagen kann… Natürlich kommen auch jetzt noch bei uns viele Ungerechtigkeiten vor. Aber die vergangenen Welten waren alle viel, viel schlimmer als die, in der wir leben… Es ist geradezu eine Binsenweisheit, daß wir im Westen in einer besseren und gerechteren Welt leben, als es je vorher eine gegeben hat“. Popper warnt vor einer „systematischen Verketzerung der Welt“, schließlich „gab es noch nie so viele Möglichkeiten für junge Leute, sich ihr eigenes Leben aufzubauen, auch nur annährend so wie jetzt.“

Carl Christian von Weizsäcker (Neffe des ehemaligen Bundespräsidenten) in Die Logik der Globalisierung über die Hintergründe dieses Aufstiegs: „Empirisch ist über allen Zweifel erhaben, dass die wettbewerbliche Marktwirtschaft das Wirtschaftssystem ist, in dem es weitaus am meisten Veränderung gibt, in dem der technische und organisatorische Fortschritt am besten gedeiht.“ Und für den weltverbessernden Mainstream provozierend: „Nur, wenn Veränderung und Dynamik in hinreichendem Maß stattfindet, besteht Hoffnung für die Lösung der Weltprobleme. Die wettbewerbliche Wirtschaft ist die Kraft der Veränderung, die Politik, sei sie demokratisch oder nicht, ist die Kraft der Beharrung und Bewahrung. Die Weltprobleme werden dadurch gelöst, dass man der Wirtschaft die Führungsrolle vor der Politik überlässt. Wenn unter dem Primat der Politik eine weitgehende Politisierung des Wirtschaftsgeschehens verstanden sein soll, dann kann dies nur in Stagnation, also letztlich in der Katastrophe enden.“

Die Wirtschaft ist die Kraft der Veränderung, denn besonders Unternehmen bringen Dynamik und Innovation ins Spiel. Kaum jemand spricht dies deutlicher aus als Larry Page, der Google-Mitgründer: „Es gehe darum, ‘die Welt zu verändern’, so wiederholt Page immer wieder, ebenso beharrlich wie emotionslos. Wie um zu zeigen: das ist keine Platitude, ich meine das ernst.“ („Der Spiegel“, 10/2014) Im US-Konzern steht die Suche nach den radikal besseren Ideen, den großen Würfen – „Moonshots“ genannt – im Mittelpunkt. Dafür sind intern radikale Offenheit und Transparenz nötig. Natürlich sind die Veränderungen nicht immer nur positiv, und radikale Neuerungen machen meist auch Angst. Auch auf die Dampfmaschine, die Eisenbahn, das Automobil und den Wechselstrom blickten viele sehr bang. Doch daraus folgt nicht, dass all diese Prozesse grundsätzlich gestoppt werden sollten. Gewiss können Forschung und Erfindungen, freier Wettbewerb und Handel nicht alle Probleme lösen. Aber es lohnt sich, ihr Veränderungspotential im Laufe der Geschichte zu studieren. Und man bedenke: Die Angst der Eliten vor Veränderungen hat über Jahrtausende Bevölkerungen im Elend gehalten.

Die Kraft der Bewahrung

Heute hört man oft, dass es die Aufgabe der Politik bzw. des Staates sei, dem Menschen Gutes zu tun. In gewisser Weise stimmt dies natürlich, schließlich sollen Regierende und Beamte ihren Bürgern nicht schaden, vielmehr zu ihrem Nutzen wirken. Dennoch glaube ich, dass staatliches Handeln besser ‘negativ’ definiert wird: Es geht in erster Linie (wie ja auch von Weizsäcker feststellte) um Bewahrung.

Der Staat hat zuerst Schutzfunktion: Er hat für innere und äußere Sicherheit zu sorgen. Seine Bewohner verteidigt er gegen Aggression von außen, und nach innen setzt er die Herrschaft des Rechts um, garantiert den Rechtsstaat. Dieser ist ein Eckstein jeder freiheitlichen Ordnung, denn das freie Individuum ist nur in einem Rechtsstaat geschützt vor willkürlichem Zwang; und die Wirtschaft kann nur in einem Rechtsstaat blühen, denn nur in ihm sind Verträge und Eigentum geschützt; und vor allem durch das Recht wird der Staat in seiner Macht begrenzt. Politiker sollen nicht ein Füllhorn des Segens über die Bürger ausschütten; sie können und sollen ‘nur’ günstige Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben schaffen.

Die Quelle des Wohlstands und die eigentliche Dynamik der Veränderung ist nicht dem staatlichen Handeln zuzuordnen. Der Staat bleibt aber wichtig, weil er durch seine Institutionen z.B. konkret den Eigentumsschutz gewährleisten muss. Der Brite David Landes hat in seinem Klassiker Wohlstand und Armut der Nationen ausführlich dargestellt, dass für die Schaffung von Wohlstand und die deutliche Reduzierung von Armut langfristiger Schutz des Kapitals und sicheres Eigentum entscheidend sind. „Dem Privateigentum alle Rechte verschaffen, damit Sparen und Investieren gefördert werden“, „die individuellen Freiheitsrechte sichern“, „Vertragsrechte durchsetzen“, stabile, unbestechliche, leistungsstarke, genügsame Regierungen, die ein offenes Ohr für die Bürger haben – das ist von politischem Handeln zu erwarten.

Historisch ist es jedoch alles andere als selbstverständlich, dass der Einzelne garantiertes Eigentum besitzen und nach Wohlstand streben darf. Im Hinblick auf die antiken „Systeme des asiatischen Despotismus“ meint Landes: „Wozu existierten die gemeinen Menschen, wenn nicht zu dem Zweck, das Wohlleben ihrer Herrscher zu befördern?“ Und allgemein gilt, so der britische Historiker: „Aristokratische (despotische) Reiche waren im Normalfall Ausbeutungsunternehmen: Wollten die Führungsschichten mehr haben, so dachten sie nicht in Begriffen von Produktivitätszuwächsen. Woher hätten die auch kommen sollen? Sie erhöhten einfach den Ausbeutungsdruck (und die Unterdrückung) und fanden gewöhnlich auch noch etwas, das sich herauspressen ließ.“

Echtes, d.h. rechtlich gesichertes Privateigentum steht dem entgegen. Den Ursprung der Vorstellung von echten Eigentumsrechten sieht Landes „in biblischen Zeiten“. Er zitiert Num 16,15, wo Mose seinen persönlichen Respekt vor diesen Rechten betont. Durch „diese Tradition unterschied sich das israelitische Gemeinwesen von sämtlichen Königreichen in der Umgebung“. Auch im christlichen Europa galt dann: „Die irdischen Herrscher konnten nicht einfach machen, was sie wollten, und selbst die Kirche…., durfte Rechtsansprüche nicht einfach mit Füßen treten und sich nicht nehmen, was ihr gefiel.“ All das bewirkte, „dass sich Europa von dem umgebenden Zivilisationen auffällig unterschied.“

Landes schildert den ungeheuren Erfindungsreichtum der Chinesen (Papier, Buchdruck, Seide, Porzellan, Schießpulver usw.). Warum konnte dieses Potential nicht besser ausgeschöpft werden? Hier nennt er die fehlenden, d.h. institutionell nicht verankerten Eigentumsrechte. Ein totalitärer Staat erstickte durch seine umfassende bürokratische Kontrolle private Initiative. So triumphierten am Ende Routine, Traditionalismus und Unbeweglichkeit. In Europa dagegen konnte „das berauschende Gefühl von Freiheit“ jeden Bereich erfassen. „In Europa hatte das Unternehmertum freie Hand. Innovation kam zum Zuge und zahlte sich aus.“ Auch der peruanische Ökonom Hernando de Soto betont die entscheidende Rolle von Eigentumsrechten für die wirtschaftliche Entwicklung, s. sein The Mystery of Capital. Und Daron Acemoglu und James A. Robinson sagen in ihrem Warum Nationen scheitern – Die Ursprünge von Macht, Wohlstand und Armut im Prinzip nichts anderes.

Der Staat muss eine Rahmenordnung der Gerechtigkeit, des Frieden und der Freiheit garantieren. Nun wird aber oft darüber hinausgegangen und gefordert, Wirtschaftsgeschehen müsse „in gemeinwohldienliche Bahnen“ gelenkt werden. Denn in der Wirtschaft regiere der Eigennutz, ja der Egoismus, der dem Gemeinwohl entgegenstehe. Daher müsse der Staat sich eindeutig über die Wirtschaft setzen und mehr sein als bewahrende, nämlich lenkende Kraft.

„Nicht vom Wohlwollen des Fleischers, des Brauers oder des Bäckers erwarten wir unsere tägliche Mahlzeit, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen“. So lautet der berühmte Satz in Adam Smiths Der Wohlstand der Nationen (The Wealth of Nations) aus dem Jahr 1776. Der Mitbegründer der modernen Volkswirtschaftslehre beschreibt hier Selbstverständliches, aber nur zu oft wird gerade deswegen auf ihn eingedroschen: er hätte den Egoismus gerechtfertigt. „Adam Smith hoffte, dass eine ‘unsichtbare Hand’ die Egoismen der Einzelakteure zum größtmöglichen Wohl aller lenken würde“, so Christian Felber in Gemeinwohl-Ökonomie. Die „Annahme, dass die Egoismen der Einzelakteure durch Konkurrenz zum größtmöglichen Wohl aller gelenkt würden“, hält der österreichische Attac-Mitgründer für einen „grundlegend falschen“ Mythos. Um Schaden durch diese Egoismen außer Rand und Band zu begrenzen, muss natürlich der Staat massiv regulierend eingreifen.

Smith gebrauchte an dieser Stelle im Original den Begriff self-love, der im deutschen Zitat richtig mit „eigenen Interessen“ widergegeben wird. Leider wird oft aber auch ganz unzureichend mit Egoismus übersetzt oder wie bei Felber direkt, ohne jede Erklärung, aus Eigeninteresse Egoismus. Doch es besteht ja ein klarer Unterscheid zwischen Selbstinteresse, self-interest (so meist bei Smith) oder auch self-love, und Selbstzentriertheit, selfishness, – letzteres und nur dies ist Egoismus! Selbstsucht ist nicht das gleiche wie Selbstliebe.

Smith sah z.B. Gier durchaus als Sünde, schließlich dachte er in Kategorien der Bibel. Er knüpfte an der Goldenen Regel (Mt 7,12) an, die ja das Eigeninteresse nennt: Mein berechtigtes Kümmern um mich selbst ist gleichsam der Maßstab für meine Sorge um Andere. Weil ich recht genau weiß, was ich brauche, kann ich dies auch anderen geben. Smith wollte gerade nicht sagen: Je egoistischer ich handele, desto besser funktioniert der Markt. Was er sagen wollte war dies: Wir können im relativ engen Bereich unserer Wünsch, Ziele, Bedürfnisse nach all diesen Dingen trachten, also unser Selbstinteresse verfolgen, und auf ‘wundersame’ Weise kommt dabei ein höherer allgemeiner Nutzen heraus. Denn um selbst Verbesserungen zu erreichen, muss ich möglichst gut anderen Nutzen bringen und ihn dienen. Natürlich funktioniert all dies nicht perfekt, da der Mensch nach dem Fall nur zu oft von selbstsüchtigen Motiven getrieben wird. Doch es funktioniert.

Im Kapitalismus hat es daher – ganz entgegen dem Klischee! – die pure Gier schwer. Und selbst der Gierige muss, um seine Gier zu stillen, immer noch die Bedürfnisse anderer befriedigen. Rauben, Plündern, Versklaven sind ja ausgeschlossen. Große Unternehmer sind nicht als solche besonders gierig, wahrscheinlich ist das genaue Gegenteil richtig. Denn sie ahnen die Bedürfnisse der Menschen voraus und richten ihre Produkte darauf ein. Wer nur mit sich selbst beschäftigt ist (self-absorbed), ist ein schlechter Unternehmer.

Der Staat arbeitet, um seine Funktion des Bewahrens oder Schützens ausüben zu können, mit Instrumenten des Zwangs und der Gewalt. Wird das eben Geschilderte aber nicht beachtet, tappt man nur zu schnell in eine sehr attraktive Falle: den vermeintlichen Egoismus der Wirtschaft mit Gewalt bändigen; und dies nicht nur, indem man gleiche Regeln für alle durchsetzt (das ist Aufgabe des Staates). Man erliegt vielmehr der alten sozialistischen Versuchung, die Brüderlichkeit zu erzwingen (s. dazu F. Bastiat …).

Dass diese Logik eine Büchse der Pandora öffnet, wird bei Felber deutlich. Ab dem Zehnfachen des Mindestlohnes sei der Spitzensteuersatz auf hundert Prozent zu setzen; die Obergrenze für Privatvermögen könnte „zum Beispiel zehn Millionen Euro (hier wäre wieder der Konvent gefragt)“ betragen; „kleine Unternehmen“ dürften „auch in Zukunft zur Gänze im Privateigentum bleiben“. Felber meint, es sei „zutiefst undemokratisch, dass wenige Privatpersonen über den Kurs dieser Kolosse [große Unternehmen] bestimmen können“. Gewinnausschüttung bei Großbetrieben sei so zu gestalten, dass rechnerisch der Gründer „eines Unternehmens mit hundert Beschäftigten nach zwanzig Jahren keinen Zugriff mehr“ hätte.

Felber fordert vor allem eine „Begrenzung des Erbrechts“: „Wäre es nicht gerechter und leistungsfördernder, wenn alle unter gleichen Bedingungen starten könnten?“ Das heutige „unbegrenzte“ Erbrecht in Deutschland und Österreich nennt er „die feudale Position“, „die Gleichverteilung der Erbmasse an alle“ bezeichnet er, sicher bewusst provozierend, als „die liberale Position“. Er rechtfertigt seine Sicht so: „Die Freiheit des Einzelnen wird damit – in Summe – nicht eingeschränkt, sondern erhöht. Denn dem ‘Freiheitsverlust’ eines Erben, der Mamas/Papas Großunternehmen nicht allein erben und ohne Rücksicht auf Qualifikation weiterführen darf, steht der Freiheitsgewinn zahlloser Menschen gegenüber“. Bisher sind diese, die ohne „Erbe und Mittel in das Erwerbsleben eintreten“, oft gezwungen, bei jenen Unternehmenserben zu arbeiten, „die nichts zum Aufbau des Unternehmens beigetragen haben, diese aber infolge von Erbschaft nun besitzen und sich den Mehrwert der Arbeit derjenigen aneignen, die nichts geerbt haben und deshalb für andere arbeiten müssen: strukturelle Sklaverei.“ Entweder, so Felber, müssen solche Menschen ihre eigene Arbeitskraft verkaufen, oder sie gründen ein Unternehmen, was viele aber nicht können. „Viele sind daher gezwungen, für andere zu arbeiten und diesen den Mehrwert ihrer Arbeit abzuliefern – deshalb ist der Kapitalismus systemisch eine unfreie und ausbeuterische Struktur“.

Hier outet sich Felber endlich einmal als Marxist, denn er gibt hier Grundgedanken der marxistischen Mehrwertslehre wider. Wir ersparen uns hier die Widerlegung dieser immer noch eingängigen, aber falschen Vorstellung. Es sei hier nur darauf hingewiesen, wie gefährlich die von Felber ersehnte „Ablösung kapitalistischer Verhältnisse durch demokratischere Strukturen“ ist. Die Brisanz liegt in den Worten „in Summe“: es gibt jedoch keine Freiheit des Einzelnen „in Summe“. Freiheitsrechte sind Rechte von Personen, einzelnen Individuen, oder sie existieren gar nicht. Diese Summenspiele a la Felber sind nichts anderes als Teufelszeug. Denn sie bedeuten, dass um eines ‘höheren’ und meist recht abstrakten Zieles willen konkrete Rechte von einzelnen Personen außer Kraft gesetzt werden.

Freiheiten des Einzelnen stoßen da auf Grenzen, wo die konkreten Rechte anderer Personen verletzt werden – das ist das große Prinzip einer liberalen Gesellschaft. Felber plädiert dagegen für das sozialistische Modell: um edle Ziele wie die allgemeine Gleichheit oder gleiche Startchancen oder gleiche Lebensverhältnisse oder eben den Kommunismus (allen nach ihren Bedürfnissen, alle nach ihrem Vermögen) zu erreichen, müssen wir leider einigen Leuten ihre Rechte und Freiheiten nehmen, sie enteignen, vertreiben oder wenn nötig – beseitigen. Natürlich würde Felber sich gegen solche Unterstellungen wehren, aber das Instrumentarium und die Logik sind da: ein abstraktes Summenziel wird gesetzt, und der Weg dahin ist die Entrechtung Einzelner. Schutzriegel bei Felber ist immer nur eine demokratische Mehrheit. Was sollte diese Mehrheit hindern, eine reiche Minderheit nicht nur zu enteignen, sondern auch beiseite zu schaffen?

Felber hat das Wort „Demokratie“ groß auf seine Flagge geschrieben. Alles soll letztlich demokratisch legimitiert sein. Doch einem Unternehmer oder Erben kann es egal sein, ob er durch einen Diktator oder einen gewählten „Wirtschaftskonvent“ gewaltsam enteignet wird. Große liberale Denker von de Tocqueville bis zu Hayek haben vor der „Tyrannei der Mehrheit“ gewarnt, und Felber liefert geradezu ein Paradebeispiel. Die Demokratie muss ihre Grenzen erkennen, darf eben nicht auf alles ausgeweitet werden. Die Floskel vom „Primat der Politik“ (natürlich hat die Politik in bestimmten Bereichen Vorrang!) darf nicht nur gebetsmühlenartig wiederholt werden, ist vielmehr zu ergänzen durch ein Primat der Forschung und Wirtschaft.

Prof. Erich Weede aus Bonn schildert in „Macht und Reichtum“ (Essays zur Freiheit, Ed. 2), dass nach Nathan Rosenberg und L.E. Birdzell das demokratische Mehrheitsprinzip oder die Überzeugung einer großen Anzahl von Wählern oder Politikern „ein ziemliches sicheres Verfahren [ist], um Innovationen zu unterdrücken“. „Eine Gesellschaft, die Innovationen so lange verzögerte, bis ein politischer Konsens gefunden wäre, würde immer weiter hinter eine Gesellschaft zurückfallen, die dies nicht verlangt… Denn das beinhaltet das Kriterium, das die Vorzüge der Innovation hinreichend verstanden werden und vorhersagbar sind, dass sie vor ihrer Durchführung überzeugend formuliert werden können – und das heißt, dass alles so klar ist, dass experimentelle Überprüfung überflüssig ist.“

Noch einmal: Transformationsmotor sind Wissenschaft und Forschung, Arbeit und Wirtschaft; der Staat ist gleichsam für die Motoraufhängung zuständig, mehr aber nicht. Er darf die Transformationsprozesse nicht anführen und umsetzen wollen, denn er arbeitet wesensmäßig mit Zwang und Gewalt.

Die Kraft der Erneuerung

Und wie steht es mit der Kirche? Ist es die Aufgabe der Kirche, Gesellschaften und Kulturen umfassend zu verwandeln, zu transformieren? Gemeinhin wird Abraham Kuyper (1837–1920) als einer der ersten „Transformationalisten“ bezeichnet. Und tatsächlich hat sich der  niederländische Theologe, Staatsmann und Journalist wahrlich nicht ins fromme Ghetto zurückgezogen. Doch man muss schon genauer auf ihn hören:

„Obwohl die Lampe der christlichen Religion nur innerhalb der Wände der Institution [der Kirche] brennt, scheint sein Licht durch dessen Fenster weit hinaus, erhellt alle Bereiche und Vereinigungen, die im weiten Spektrum des menschlichen Lebens und der menschlichen Aktivitäten erscheinen. Justiz und Recht, das Heim und die Familie, Geschäftsleben, öffentliche Meinung und Literatur, Kunst und Wissenschaft und vieles andere mehr werden durch das Licht erhellt; und die Erleuchtung wird umso stärker und durchdringender sein, je heller und klarer die Lampe des Evangeliums in der Kirche selbst scheint.“ (Common Grace)

Die Kirche als Organisation ist nicht das Licht, von dem Kuyper hier spricht. Das Evangelium ist es, das von Christen in der Kirche geglaubt, mit Worten bekannt und mit Taten gelebt wird. Es geht also nicht darum, dass die Kirche an Ansehen gewinnt, geachtet wird, ihren Einfluss ausweitet usw. Ihre Aufgabe ist vielmehr dafür zu sorgen, dass die Lampen möglichst klar und weit leuchten. Sie hat daher im Hinblick auf die Gesellschaft vor allem indirekt zu wirken: sie ist nicht aufgerufen, die Welt direktzu verändern, zu reformieren, zu verbessern, denn das hieße praktisch immer, dass man nach Macht strebt. Die erste Verantwortung der Kirche ist, „die Heiligen [die Christen] sammeln und vervollkommnen“ (Westminster Confession of Faith, 25.3).

„Wo das Wort ist, da ist Kirche“, stellte Martin Luther prägnant fest. Der Heilige Geist benutzt das gepredigte Wort und das Wort in sichtbarer und fühlbarer Gestalt, die Sakramente, und schafft dadurch Glauben. Aufgabe der Kirche ist die klare Predigt des Evangeliums und der Gebote Christi, die Sammlung derer, die durch das Wort zu Gläubigen geworden und nun dem Wort gehorsam sind (über diese Scheidung durch das verkündigte Evangelium s. Heidelberger Kat., Fr. 84). Sie sammelt all die, in denen Gott einen „hellen Schein“ geschaffen hat (2 Kor 4,6), die Lichtträger, die aus der Finsternis ins Licht berufen sind (1 Pt 2,9).

In negativer Hinsicht bedeutet dies daher Trennung von der Welt, der Finsternis. Kirche – das sind eben nur die Kinder des Lichts. Lässt man die Kinder der Finsternis in Massen hinein, leuchtet bald gar nichts mehr. Nur wenn die Christen ihre Identität des Lichts bewahren, wenn ihre Gemeinschaft Hort des Lichts ist und anders als die weltliche Gesellschaft, können sie einen Einfluss auf diese nehmen. In der Gemeinde muss die Gesellschaft draußen bleiben, um diese positiv verändern zu können. Das ist das große Paradox!

Die Kirchen müssen also ihre Ränder klar definieren und darauf achten, dass sie  Gemeinschaften der Heiligen bleiben. Natürlich haben die protestantischen Väter genau gesehen, dass eine völlig reine Kirche nicht möglich ist: „auch die reinsten Kirchen… sind sowohl der Vermischung [mit Nichtchristen] als auch dem Irrtum unterworfen…“ (Westminster Confession , 25,4–5). Aber diese realistische Erkenntnis bedeutete für keine der evangelischen Kirchen, dass man auf Kirchenzucht meinte verzichten zu können.

Neben das negative Element der Abgrenzung von der Welt muss eben auch das positive treten – die „Vervollkommnung“ der Gläubigen, und das heißt konkret: die biblische Lehre. Die Hauptaufgabe der Kirche, auch im Hinblick auf die Gesellschaft, ist es, die Christen auszurüsten, anzuleiten, zu befähigen, eben zu lehren, damit ihr Licht in der Welt leuchten kann und das Salz salzig bleibt. Es geht, wenn man denn so will, um Transformation, aber was spricht dagegen, bei der persönlichen „Erneuerung der Sinne“ (Röm 12,2) zu bleiben? Paulus schreibt in Eph 4,11–12: „Und er hat einige als Apostel eingesetzt, einige als Propheten, einige als Evangelisten, einige als Hirten und Lehrer, damit die Heiligen zugerüstet werden zum Werk des Dienstes. Dadurch soll der Leib Christi erbaut werden.“ In der Kirche sollen die Gläubigen das erhalten, was sie brauchen, um in der Welt leben zu können. Die Welt ist zwar gefallen, aber sie ist auch Gottes Schöpfung, und Gott will, dass wir in ihr wirken.

In der Gemeinde sollen daher Antworten auf Fragen wie diesen gegeben werden: Was bedeutet es Lichtträger im Beruf, im Alltag, in der Familie zu sein? Wie kann man nach Gottes Ordnungen in der Welt leben und handeln? Warum sind sie gut für alle Menschen? Wo ist der Verfall, den ich als Salz stoppen kann? Wo ist die Dunkelheit, in die ich hineinleuchten soll? Alle Amtsträger in der Gemeinde sind Diener, die Pastoren zuerst „Diener des Wortes Gottes“, damit nämlich jeder Christ immer besser versteht, wie er das Wort Gott im Alltag und in allen Lebensbereichen anwenden kann. Sie müssen konkret deutlich machen, dass die Bibel kein reines Buch der Privaterbauung ist, sondern auch viel über gesellschaftliche Belange spricht. In der Kirche soll daher das praktiziert und eingeübt werden, was John Stott „doppeltes Hören“ nannte: demütiges Hören auf Gottes Wort und ein (kritisches) Hören auf die Welt, ihre Probleme, Nöte, Widersprüche. Beides ist nötig, damit wir das ewige, wahre Wort auch tatsächlich in die heutige Welt hineinsprechen können.

Im Hinblick auf die Gesellschaft ist eine der wichtigsten Aufgaben der Kirchen das Lehren von ethischen Grundsätzen – Grundlage der persönlichen moralischen Erneuerung. Die angemessene Betonung der Ethik und Moral ist nicht nur für die Glaubwürdigkeit der Kirche wichtig. Indirekt wirkt die Kirche hier wieder auf die Gesellschaft. Der britische Jurist Lord Moulton stellte dar, dass eine Gesellschaft drei Bereiche benötigt, um gesund und prosperierend zu sein. In einem Essay in „The Atlantic“ von 1924 führte er aus, dass wir im Bereich des Rechts einen starken Rechtsstaat mit all seinen Organen brauchen; im Bereich der Freiheit sind die Ausdrucksmöglichkeiten jeder einzelnen Person unbedingt zu schützen; und drittens sprach Moulton von einem wichtigen Bindeglied: dem Gehorsam gegenüber dem Nichterzwingbaren (obedience to the unenforceable). Moulton definiert diesen Bereich wie folgt: „der Gehorsam eines Menschen gegenüber einer Sache, zu der er nicht [vom Staat und seinen Gesetzen] gezwungen wird und werden kann, wo er vielmehr das [moralische] Recht gegenüber sich selbst durchsetzt“.

Gemeint ist der ganze Bereich der Dinge, die legal, aber unmoralisch sind wie das meiste Lügen, alle Unfreundlichkeiten, Hass usw. All diese Dinge sind kaum mit staatlichem Zwang zu regeln. Meiner eigenen Freiheit müssen aber Grenzen gesetzt werden. Daher ist Selbststeuerung, Selbstdisziplin, Selbstzucht so wichtig. Dies ist natürlich der Bereich des Gewissens. Jeder Mensch hat es, es ist nur die Frage, wie es von wem geprägt wird. Hier hat die Kirche die Aufgabe, Gott und seine Maßstäbe klar zu machen und so an der Formung des Gewissens teilzunehmen (neben der Familie vor allem). Wir unterstehen nicht nur dem Staat und seinem Zwang und dem Zwang unserer nie zu sättigenden freien Wünsche – wir stehen auch jeder einzeln unter Gott und seinen Normen. Die vornehmste soziale Aufgabe der Kirche ist daher: in den eigenen Reihen gewissenhafte Bürger erziehen.

Transformation statt Heiligung und Mission?

Man sollte sich nicht unbedingt auf eine bestimmte Wortwahl versteifen, denn Bedeutungen von Begriffen sind oft austauschbar, immer dehnbar und häufig überlappend. Wichtiger sind dahinter stehende Konzepte und Ideen. Aber ich halte um der Klarheit willen die Unterscheidung von Veränderung, Bewahrung und Erneuerung – oder mal lateinisch Transformation, Konservation und Renovation – als Oberbegriffe der drei Bereiche Wirtschaft, Staat und Kirche für sinnvoll. “Veränderung” ist ausreichend neutral, denn so manche Erfindungen wie z.B. die Atomkraft sind ja recht ambivalent; “Bewahrung” ist ausreichend eng, denn die Aufgabe des Staates, der oft mit Zwang arbeitet, darf keinesfalls zu weit gefasst werden; und “Erneuerung” setzt einen klar positiven Akzent, der außerdem die persönliche Dimension gut miteinschließt. Mir scheint, dass diese drei Begriffe die Aufgabe der drei Mandate Wirtschaft/Arbeit, Staat/Obrigkeit und Kirche kurz und hilfreich zusammenfassen.

Leider geht bei manchen Apologeten der Transformation die Klarheit nur allzu schnell unter die Räder. Johannes Reimer nimmt in „Transformation – Was ist damit gemeint?“ (in einer Veröffentlichung der EMO, Wiesbaden) zur Frage der Begriffe Stellung. Transformation ist ein „Prozess der Neugestaltung“, eine „Veränderung der Verhältnisse“, so Reimer. Er sieht durchaus, dass der Begriff ein „terminus technicus der esoterischen Szene“ geworden ist, will ihn aber für die Theologie gebrauchen und sich deshalb „um eine deutliche Definition bemühen“.

Reimer schildert, dass die Bibel die „Umformung des Individuums“ als „Heiligung bezeichnet“. Er fragt: „Warum also nicht gleich beim Begriff ‘Heiligung’ bleiben?“ Und „Transformation der Gesellschaft im Sinne des Evangeliums“ heißt traditionell Mission – warum also nicht dieses Wort beibehalten? Reimer hält dies für „berechtigte Fragen“.

Sein Hauptargument geht von dieser Frage aus: „Versteht man denn heute in der Gesellschaft noch, was Heiligung, Mission und Evangelisation bedeutet?“ Und weiter: „Wenn individuelle Transformation Heiligung ist und Transformation eine Umwandlung unseres Denkens voraussetzt,wird dann auch unter Heiligung eine Heiligung der Gedanken verstanden?“ Reimer ist da skeptisch, denn er habe kaum Predigten über „umfassende Umwandlung der Persönlichkeit“ gehört.

Heiligung wird also nicht richtig verstanden, so befürchtet Reimer, und der Begriff ist allgemein fast schon negativ besetzt: „Leider hat der Begriff in der Geschichte der Christenheit eher den Beigeschmack einer von der Kirche verlangten Konformität erfahren. Und nicht wenige unserer Zeitgenossen rümpfen ihre Nase, wenn sie das Wort Heiligung hören, weil sie Gesetzlichkeit und konfessionelle Starrheit verstehen.“ Reimer plädiert daher für den neuen Begriff, denn „unter Transformation versteht unser Zeitgenosse eindeutig Umwandlung des Bewusstseins und des individuellen Lebenskonzeptes. Unter Heiligung nicht.“ Gegen Schluss meint Reimer, dass wir „nicht umhin können, neue Worte zu finden“. Irgendwie stimmt dies in dieser Allgemeinheit natürlich, doch seine konkrete Argumentation will überhaupt nicht überzeugen. Ist Transformation wirklich besser als Heiligung?

Erstens ist zurückzufragen, warum die Perspektive der nichtchristlichen Gesellschaft über die Begriffswahl der Kirche entscheiden sollte. Über Heiligung ist in erster Linie in der Kirche selbst die Rede (was bei Reimer überhaupt nicht deutlich wird). Hier sollte nicht Kanaanäisch gesprochen werden, und auch hier sollten ‘normale’ Worten und normale Sätze gebraucht werden. Doch was spricht eigentlich dagegen, dass in gewisser Weise Naturwissenschaftler, Künstler, Ingenieure, Finanzexperten und eben auch Christen ihre jeweils eigene Sprache mit eigenen Begriffen haben? Natürlich würde Reimer einwenden, dass wir als Christen unsere Botschaft nach außen kommunizieren wollen und müssen. Das stimmt. Aber dennoch ist die innergemeindliche Verkündigung von Evangelisation und Apologetik zu unterscheiden. Natürlich muss man in einem evangelistischen Einsatz ‘ganz weit draußen’, d.h. im Kontakt mit Kirchenfernen, vorsichtig mit biblischer und kirchlicher Lexik sein und diese möglichst intensiv ‘übersetzen’. Das wurde auch in der Vergangenheit gemacht und muss sich immer wieder neu an der Kultur orientieren. Doch dies heißt noch lange nicht, dass nun pauschal und vor allem auch gemeindeintern Begriffe wie Heiligung oder auch Dreieinigkeit oder Erbsünde auf den Müllhaufen wandern.

Reimer nennt Mängel in der Predigt und Missverständnisse der Heiligung wie Gesetzlichkeit. Doch was sollte dann mit einem neuen Begriff allein gewonnen sein? Die natürliche Antwort lautet doch hier, dass in solchen Fällen die Predigten eben besser – und biblischer – werden müssen und dass besser erklärt werden muss, was denn nach wahrem Verständnis Heiligung ist und was nicht. Missverständnisse gibt es überall, und sehr viele können heute nichts mehr mit Gott, dem Vater, oder Gott als Person anfangen. Soll das etwa heißen, dass wir auf diese Begriffe nun verzichten sollen? Nein! Wir müssen sie besser und intensiver und kreativer erklären; da kann das eine oder andere neue Wort schon mal hilfreich sein. Doch es spricht viel dafür, an christlichen Begriffen, die sich bewährt haben, erst einmal festzuhalten.

Was spricht dagegen, an Heiligung festzuhalten und – je nach Situation – Transformation zur Erklärung zu benutzen? Transformation sollte, so meine ich, Heiligung nicht ersetzen, sondern zu dessen besserem Verständnis dienen. Heiligung ist vor allem deshalb nicht aufzugeben, weil das Wort einen großen Vorteil hat und gleichsam mit sich herumträgt: das Heilige und den Heiligen. Die Andersartigkeit und das in gewisser Weise heute Fremde, das mitschwingt, passt doch durchaus zu dem Begriff, denn das Heilige ist das Besondere, vom Normalen Getrennte. Außerdem weist Heiligung zurück auf den Heiligen, der den Maßstab für die Wandlung unseres Charakters setzt. Heiligung impliziert, dass es hier um eine Folge des Heilshandelns Gottes geht, d.h. nicht jeder Mensch steht in der Heiligung; und es wird deutlich, in wessen Bild wir uns verwandeln sollen, eben in das des Heiligen. Transformation als Oberbegriff sieht im Vergleich dazu arm aus. Umfassende Veränderung – schön und gut, doch nach welchem Maßstab? Zu was?

Reimer nimmt, wie gesagt, die Perspektive der Außenwahrnehmung ein – wie sehen Nichtchristen die frommen Begriffe? Ich wage aber zu bezweifeln, dass die neuen Begriffe  wirklich so viel Eindruck, mehr Eindruck, machen werden. Man versetze sich doch mal in einer Top-Manager oder einen Direktor eines Forschungsinstituts oder den Besitzer einer Kommunikationsagentur oder einen Derivatehändler, und an den Tisch setzt sich ein frisch ausgebildeter christlicher „urbaner Transformer“. Beeindruckt man die wahren Transformer mit Gerede von „umfassenden Veränderungen des gesamten Lebensraumes“? Denken die Transformer nicht: Schuster, bleib bei deinen Leisten – und lächeln höflich vor sich hin? Besteht hier nicht die Gefahr, dass sich die Leute lächerlich machen mit solch überzogenen Ansprüchen? Und wissen die christlichen Transformationsexperten eigentlich, wovon sie reden? Wissen sie, welche wahrlich umfassenden Veränderungen Watts Dampfmaschine, Faradays Elektrogenerator und de Lavals Dampfturbine ausgelöst haben?

Gewiss ist Reimer zuzustimmen, dass Mission eine „transformierende Wirklichkeit“ ist. Natürlich verändert der christliche Glaube Menschen und ganze Gesellschaften. Liest man bei den Anti-Transformationisten wie auf www.dominonismus.info und bei Martin Erdmann, so gewinnt man immer den Eindruck, dass gesellschaftlicher Gestaltungswille und sozialpolitisches Engagement von Christen überhaupt zu verwerfen sei. Davon halte ich wenig. Das Christentum wirkte und wirkt auch im irdischen Bereich transformierend, doch in der Regel nur in recht langfristiger Sicht und meist in indirekter Weise – indem die Christen klar an ihrer besonderen Lehre festhielten und dies praktizierten, also ihre Hausaufgaben machten.

Es ist lohnend, diese Zusammenhänge im großen historischen Kontext zu sehen – denn nur dort werden sie wirklich deutlich. Die größte Transformation liegt schon lange hinter uns: die weg vom zyklischen Denken. Thomas Cahill schreibt in The Gift of the Jews (1998), dass die „religiöse Urerfahrung“ das Nachsinnen über den Himmel war: Im Himmel wurden „die ewig währenden Vorbilder und Muster für das irdische Leben“ erkannt. Die himmlischen Elemente wurden als Götter angesehen, die über das menschliche Leben entscheiden. Unser irdisches Dasein ist nur ein flüchtiger Abglanz der göttlichen Sphären dort oben. Und dort widerholt sich alles – die Wirklichkeit ist ein Kreis, Rad oder ewiger Zyklus. Mit Abraham und dem Glauben der Juden im AT geschah hier ein radikaler und äußerst folgenreicher Schnitt, ohne den es moderne Wissenschaft und damit auch Forschung und Wirtschaft nicht gäbe.

Cahill schrieb auch ein Buch über Jesus und seine Wirkung: Desire of the Everlasting Hills: The World Before and After Jesus. Der Titel ist eine Anspielung an Gen 9,26. Dieses Sehnen nach den „ewigen Bergen“ ist ein Wunsch auf ein Ende „des unendlichen Zyklus der menschlichen Grausamkeit, der Unmenschlichkeit von Menschen an Menschen“. Jesus gab und gibt diese Hoffnung auf echte Erlösung, eine Hoffnung, die im zyklischen Denken gar keinen Sinn macht.

Auch die Vorstellung von unbedingt zu schützendem Menschenleben vor oder nach der Geburt war ein umwälzender Gedanke. Der Begriff der Menschenwürde war in der Antike fremd, Abtreibungen daher an der Tagesordnung. Dank der Jesus-Bewegung wurden Kinder zu Menschen – s. When Children Became People: The Birth of Childhood in Early Christianity. Über Jahrhunderte haben römische Herrscher (angefangen bei Caesar) versucht, mit verschiedenen staatlichen Gesetzen die Menschen zu mehr Nachwuchs zu bewegen und fast schon zu zwingen. Es hat alles kaum etwas genutzt, die Fruchtbarkeit blieb zu niedrig. Das Christentum mit seiner hohen Sicht der Frau, der Ehe und Treue, der Familie, der Kinder  und der Erziehung führte jenseits allen äußeren Zwangs zu mehr Kindern und Bevölkerungswachstum.

Neben dem Schutz von Leben war die Hilfe im Leid und die Krankenpflege ein wichtiger Aspekt der gelebten Barmherzigkeit. Die heidnischen antiken Religionen hatte dagegen keine Sozialethik im eigentlichen Sinne entwickelt, weil ihnen die Liebe zu Gottheiten und damit auch Nächstenliebe fremd war. Ganz anders im Christentum.

All diese und noch weitere Prozesse sollten intensiv studiert werden. Hier sind Rodney Starks Bücher wie The Rise of Christianity, The Victory of Reason und One True God: Historical Consequences of Monotheism hilfreich. Hier wird deutlich, dass die ganzheitliche Veränderung des Lebensraumes schon lange Realität ist, sie jedoch äußerst komplex und langfristig verläuft. Auch der vielbeschworene William Wilberforce, Paradebespiel eines Transformers, konnte mit der Abschaffung des Sklavenhandels 1807 nur deshalb Erfolg haben, weil sich in England schon über Jahrhunderte demokratische und pluralistische Strukturen  herausgebildet hatten.

Reimer kann offensichtlich mit einer historischen Perspektive wenig anfangen. Er meint, dass nun Worte wenig zählen, „die sich im Laufe der Geschichte des christlichen Abendlandes verschlissen haben“. Heiligung und Mission haben sich keineswegs verschlissen. Die Geschichte zeigt, dass alles eben etwas länger dauert, dass unsere Begriffe zum Glück langlebiger sind, als es vielen schmeckt, und dass auch erst die Geschichte erweisen wird, ob sich ein heute modischer Begriff wie Transformation in dieser Bedeutung „als Gewinn erweisen“ wird.

Bild o.: “Das Eisenwalzwerk” von Adolf von Menzel