Die große Kluft

Die große Kluft

Viele Christen glauben, “dass richtig heilige Menschen Missionare werden, weniger heilige Pastoren – und Leute, die für Gott von keinem großen Nutzen sind, bekommen einen Arbeitsplatz.”  Eine Berufung in… den Job? Das will so recht nicht klingen. Warum sucht man eigentlich nur nach “Wegen zur Gewissheit” im Hinblick auf die Mission? “Ich bin sicher, dass mich Gott zur Arbeit bei der AOK geschickt hat” – warum redet so gut wie niemand so?

In diesen Tagen beenden wir die Arbeit am Text von Mark Greenes Thank God it’s Monday. Sein großes Thema ist Christsein am Arbeitsplatz, und er kämpft leidenschaftlich dafür, den Job als das wohl wichtigste Missionsfeld der Allermeisten von uns zu erkennen. Greene leitet das London Institute for Contemporary Christianity, seine  “Vision for wokplace ministry” stellt der Brite hier kurz mit einem Video vor.

Einen wichtigen Gedanken des Buches führt Greene in dem Beitrag “Die große Kluft” aus, der sich auf Deutsch in der März-2013-Nummer von SMD-Transparent fand.  Die litauische Übersetzung des Orginals hatten wir schon vor zehn Jahren erstellt (s. hier). Hier also Mark Greene “über die größte Herausforderung des Christentums in der westlichen Welt”:

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Ein Lehrer sagte einmal: „Für die eine Stunde, die ich jeden Sonntag Kindergottesdienst mache, wird in meiner Gemeinde gebetet. Für meinen Job als Lehrer hingegen, bei dem ich von Montag bis Freitag mit Kindern und Jugendlichen zu tun habe, wurde meines Wissens noch kein Gebet gesprochen.“ Diese Aussage bringt es ganz gut auf den Punkt, was ich mit der Trennung von Sakralem und Profanem bzw. Säkularem meine: die große Kluft zwischen Sonntag und Montag, die ich SST nenne (sakral-säkulare Trennung, sacred-secular divide; die falsche Kluft zwischen Geistlichem und Weltlichem; Greenes Erläuterungen s. auch hier).

Während das Christentum weltweit wächst, verliert es in Europa immer mehr an Einfluss. Häufig werden für die Entwicklung im Westen ideologische, wirtschaftliche und kulturelle Gründe genannt: die Postmoderne, in der Glaube nur noch eine Privatsache ist; der Konsum, der nur noch materielle Werte kennt; die Medien mit ihren unzähligen Unterhaltungssendungen, die das neue „Opium fürs Volk“ sind. Diese Diagnose legt nahe, dass das Evangelium des gekreuzigten und auferstandenen Jesus nicht stark genug ist, diesem Angriff fremder Kräfte zu widerstehen – geschweige denn eine glaubwürdige, transformierende Alternative zu bieten. Mit anderen Worten, wir schieben der Welt die Schuld für den Verfall der christlichen Werte zu und fragen uns vielleicht nicht einmal, in welchem Ausmaß wir verantwortlich sind. John Stott sagte: „Du kannst dem Fleisch nicht die Schuld geben, dass es verdirbt. Das macht Fleisch nun mal. Du kannst aber dem Salz die Schuld geben, dass es nicht da ist, um das Fleisch zu konservieren.“ Die Frage ist also: Engt die Kirche das Evangelium selbst ein? Sind die Ursachen für den schwindenden Einfluss des Christentums auf die Gesellschaft vielleicht weniger außerhalb der Kirche zu suchen als vielmehr innerhalb? Wenn man den Zustand unseres Landes und seiner Institutionen berücksichtigt, ist der christliche Einfluss auf die Gesellschaft deutlich geringer als es das Evangelium fordert. Warum ist das so? Es liegt an der Kluft zwischen Sakralem und Profanem, der SST.

Es liegt an der SST, dass die große Mehrheit der Christen gefühlt keinerlei nennenswerte Unterstützung für ihre tägliche Arbeit bekommt, zum Beispiel durch Predigten, Gebet, Lobpreis, Seelsorge oder Kleingruppen. Nach unserer Erkenntnis geben 50 Prozent der Christen an, noch nie eine Predigt zum Thema „Arbeit“ gehört zu haben. Es liegt an der SST, dass ein 17-Jähriger zu einer großartigen Jugendkonferenz mit Tausenden Teenagern fahren kann, umwerfende Bibelarbeiten und tollen Lobpreis hört, ihm dort eine Vision für ein Leben in Dienst und Mission gegeben wird, er aber dort niemals das Wort „Schule“ im Zusammenhang mit „Mission“ hört. Die SST beeinflusst auch unsere Einstellung zur Schulbildung. Es liegt an der SST, dass kaum ein Kind, Erwachsener oder Jugendmitarbeiter eine biblische Sichtweise auf die Mathematik geben kann, obwohl jedes Kind im Land mindestens zehn Jahre lang jeden Tag eine Stunde mit Mathematik verbringt. Es liegt an der SST, dass christliche Kommentatoren sich lang und breit über die Harry Potter-Romane oder die Twilight-Saga auslassen – was vorrangig Freizeit-Lesestoff ist – und dafür die Lektüre bis zur zehnten Klasse fast vollständig ausblenden. Wir helfen unseren Kindern also nicht, sich aus einer biblischen Perspektive mit ihrem Unterrichtsstoff zu befassen.

Die SST betrifft auch das Studentenleben. So kommt es, dass ein Examenskandidat über seine lebendige und engagierte christliche Hochschulgruppe sagen musste: „Die Gruppe hat vollständig ignoriert, warum wir an der Universität waren.“ Das heißt, sie hat es verpasst, den christlichen Studentinnen und Studenten zu helfen, sich biblisch mit ihren Studienfächern auseinanderzusetzen. Die SST richtet sich gegen Bildungsarbeit, akademische Errungenschaften und gesellschaftlichen Einfluss. Die SST ist der Gedanke, dass das Leben wie eine Apfelsine ist – kleinteilig, mit einzelnen Lebensbereichen, die Gott wirklich wichtig sind (Stille Zeit, Gottesdienste, Gemeinde). Doch das Leben ist wie ein Pfirsich und umfasst das gesamte Leben – inklusive Alltag. Die SST ist wie ein Virus, der die Kirche durchdringt. So ziemlich jeder, den ich kenne, hat ihn und ist ein Träger.

Die SST bringt uns dazu zu glauben, dass richtig heilige Menschen Missionare werden, weniger heilige Pastoren – und Leute, die für Gott von keinem großen Nutzen sind, bekommen einen Arbeitsplatz. Sie sagt uns, dass alle Christen gleich geboren werden, aber Vollzeit-Christen gleicher sind als andere. Völliger Quatsch! Hat Jesus irgendeinen von uns dazu berufen, Teilzeit-Christ zu sein? Oder täglich unser Kreuz zu tragen, aber erst wenn wir von der Arbeit oder der Schule nach Hause kommen?! Die SST lässt uns an unserem Platz im Leben zweifeln. „Ach, wenn ich doch nur woanders wäre, dann könnte Gott mich gebrauchen!“ „Wenn ich nur heiliger wäre, dann könnte Gott mich in die Mission berufen.“ Das Resultat ist, dass wir unseren Kontext nicht annehmen. Wir sehen nicht, wo Gott schon am Werk ist und wie wir uns mit einbringen können. Das Gras ist nicht woanders grüner, das Gras ist da grüner, wo es bewässert wird – mit biblischer Vision, glaubensstarker Erwartung und Gottes Segen.

Eine Studie, die wir unter (hauptsächlich evangelikalen) Christen durchführten, zeigte, dass die Predigten in ihren Kirchen und Gemeinden für den Alltag, den Ort, an dem sie die meiste Zeit verbringen, äußerst wenig hilfreich waren. Wie gesagt: 50 Prozent der Christen haben noch nie eine Predigt zum Thema Arbeit gehört. Wie kann es möglich sein, dass Christen keine biblische Vision für die Rolle der täglichen Arbeit in Gottes Plan für Zeit und Ewigkeit gegeben wird? Schließlich stellt Gott sich uns doch zuerst als Schöpfer bzw. Arbeiter vor (1. Mose 1,1). Arbeit ist die vorrangige Aufgabe, die Adam erhält – das Potenzial der göttlichen Schöpfung zu entfalten, während er sie verwaltet (1. Mose 2,15). Und Arbeit ist ein Thema, das sich durch die ganze Bibel zieht. Wir werden eingeladen, über Abrahams Handeln als wohlhabender Herdenbesitzer nachzudenken, über Jakobs Transaktionen mit Laban, Josephs Rolle unter Potifar und dem Pharao, Moses Leiterschaft, Jitros Beratertätigkeit, Ruths und Boas’ Arbeit auf dem Bauernhof… Das Problem hat jedoch nicht in erster Linie mit Arbeit zu tun. Nein, das Versagen  der Kirche, sich mit Arbeit, Schule und Universität zu beschäftigen, ist ein Symptom eines tiefersitzenden und größeren Problems. Das Hauptproblem liegt nicht im Versäumnis, die Arbeit ernst zu nehmen, sondern im Versäumnis, das ganze Leben ernst zu nehmen. Das drückt sich darin aus, wie wir gemeinsam Kirche gestalten.

SST und das Leben der Kirche

Vor ein paar Jahren wurde ich gebeten, die Themen zeitgenössischer Anbetungslieder zu untersuchen. Die Befürchtung war, wir würden in diesen Liedern eine abstrakte Spiritualität bewahren. Tatsächlich findet man heute nur sehr wenige Lieder, die dieses wagemutige Hineinstürzen ins tägliche Leben ausdrücken, wie es bei Davids Psalmen der Fall ist. Seine Verse waren durchsetzt mit vielfältigen Anspielungen auf sein Handwerkszeug, seinem Sinn für Gottes Eingreifen in sein Leben als Soldat, Liedermacher, Ehemann, Ehebrecher, Flüchtling, Vater, General oder König. Gleichermaßen beeinträchtigt die SST auch unser Gebetsleben. Sie bringt Leute in Hauskreisen dazu, namentlich für Überseemissionare zu beten, aber nicht einmal den Namen des Chefs oder Kollegen oder Enkels von irgendjemand aus dem Hauskreis zu kennen, geschweige denn für sie zu beten. Wieviel christliche Literatur beschäftigt sich mit Stiller Zeit, Fasten, Einkehrtagen oder Rüstzeiten. All das sind gesunde geistliche Übungen der Abgeschiedenheit. Aber es gibt deutlich weniger Materialien, die uns helfen, in der Mitte des Lebens bei Gott anzudocken, seine Stimme zu hören und seine Anwesenheit zu zelebrieren. Gebet ist WiFi, nicht nur Einwahl per Modem!

Die Wirkung der SST geht noch tiefer. Es beeinflusst das Verständnis unseres Menschseins an sich. Die SST macht Leute glauben, dass Kunst, Musik und die mannigfaltigen Möglichkeiten, mit denen Menschen ihre gottgegebene Kreativität ausdrücken, keinen Platz im Reich Gottes hätten – es sei denn, sie hätten offensichtlich biblische Inhalte. Desgleichen führt die SST auch zu einer abschätzigen  Wahrnehmung des Körpers und materiellen Genusses. Im Gegensatz dazu bekräftigt die Bibel den göttlichen Ursprung der materiellen Welt und erinnert uns daran, dass Jesus einen Körper hatte und immer noch hat. Sie verspricht, dass das ewige Leben einen neuen Körper und eine neue Erde mit sich bringen wird, sowie einen neuen Himmel. Genauso feiert die Bibel den emotionalen und psychischen Genuss von gutem Wein, Brot und Öl, und betont nicht nur ihren physiologischen Nutzen. Der Wein wurde geschaffen, um das „Herz zu erfreuen“, lehrt uns Psalm 104 – nicht nur, um das Risiko eines Herzinfarktes zu senken. Und wenn Jesus als erstes Zeichen im Johannesevangelium eine große Menge ausgezeichneten Weines bereitstellt, um eine Hochzeitsfeier am Laufen zu halten, dann tut er das sicher nicht nur aus symbolischen Gründen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die SST fast alle Bereiche des Gemeindelebens befallen hat und Mission in vierfacher Hinsicht eingeschränkt hat:

+ Sie hat Mission geografisch eingeschränkt, üblicherweise auf einen kleinen Kilometer-Radius um das Gemeindehaus oder ganz, ganz weit weg.

+ Sie hat Mission hinsichtlich des Personals eingeschränkt, denn Mission wird hauptsächlich als Refugium der Hauptamtlichen angesehen.

+ Sie hat die Mission hinsichtlich der Zeit eingeschränkt, denn die SST beschränkt die Missionsaktivitäten der Leute auf ihre Freizeit: abends und am Wochenende.

+ Sie hat die Reichweite des Evangeliums und die Botschaft, die wir mit anderen teilen, eingeschränkt. Es geht nicht länger um unser ganzes Leben und unser ganzes Sein. Darum ist die SST die größte missiologische Herausforderung, der die Kirche gegenübersteht. Weit entfernt von dem Credo „die ganze Kirche bringt das ganze Evangelium der ganzen Welt“, verkündet tatsächlich nur ein kleiner Teil der Kirche nur einen Teil des Evangeliums viel weniger Menschen, als wir es weithin annehmen.

Heilung vom SST-Virus

Die SST ist ein Virus, der jeden Bereich unseres Lebens als Christ betrifft. Er wurzelt in einer falschen Sichtweise von Gott. Darum liegt die primäre Hilfe in einem neuen Verstehen von Gottes Charakter. Die SST bringt uns dazu, Gott wie Eltern wahrzunehmen, die nur an einem Aspekt unseres Lebens, zum Beispiel dem akademischen Erfolg, interessiert sind. Eltern helfen uns mit den Hausaufgaben, diskutieren Ideen mit uns, nehmen uns mit zu Ausstellungen, bezahlen relevante Ausflüge und ermutigen uns hart zu arbeiten, genug zu schlafen und viel Fisch zu essen. Und wir sind wirklich dankbar dafür. Aber sie interessieren sich nicht für unsere Begeisterung für Tennis, Musik oder unsere unternehmerischen Fähigkeiten im Verkaufen von Pausensnacks an unsere Mitschüler. Wäre es nicht sehr viel besser, Eltern zu haben, die sich für unser ganzes Leben interessieren? Unser himmlischer Vater ist an unserem ganzen Leben interessiert. Wir sehen das in der Schönheit der Umgebung, die er für Adam und Eva im Garten Eden geschaffen hat; wir erkennen es auch in seinem besonderen Interesse daran, welche Namen Adam den Tieren und Vögeln gibt, eine wirklich monotone Aufgabe; wir sehen es auch in der Zärtlichkeit mit der er Kleider für seine nackten rebellischen Kinder macht; wir sehen es auf jeder Seite der Bibel. Besonders deutlich wird sein Interesse an wirklich allen Dingen im Kreuzestod seines Sohnes.

Paulus versichert uns in Kolosser 1, dass Jesus das Bild des unsichtbaren Gottes ist, der Erstgeborene vor aller Schöpfung. „Denn durch ihn wurde alles erschaffen, was im Himmel und auf der Erde ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, Könige und Herrscher, Mächte und Gewalten. Das ganze Universum wurde durch ihn geschaffen und hat in ihm sein Ziel“ (Kol 1,16). Zwei Gründe für Jesu bleibendes Interesse an der materiellen Welt: Erstens, er hat sie geschaffen und zweitens, sie wurde für ihn geschaffen. Wenn alle Dinge von und für Christus geschaffen wurden, warum sollte er sich dann nicht dafür interessieren, wie sich unser Arbeiten in Küche, Schule, Fabriken, auf dem Feld und in Büros auf die Schöpfung auswirkt? Trotz alledem liegt der Höhepunkt von Paulus Argumentation nicht in einer Theologie der göttlichen Schöpfung, sondern in einer Bestätigung dessen, was Jesus am Kreuz für uns getan hat: „Dadurch, dass Christus am Kreuz sein Blut vergoss, hat Gott Frieden geschaffen. Die Versöhnung durch Christus umfasst alles, was auf der Erde, und alles, was im Himmel ist“ (Kol 1,20). Jesu Opfer hat nicht nur die Intention, allen Menschen die Möglichkeit der Versöhnung mit ihm anzubieten, sondern alle Dinge, den ganzen Kosmos mit ihm zu versöhnen. Jesu Kreuzestod bringt alle Dinge in die richtige Beziehung zu ihm zurück.

Jesus ruft seine Diener dazu auf, mit ihm zusammenzuarbeiten, damit seine Welt möglichst so wird, wie er sie vorgesehen hatte, bevor er wiederkommt. Das Gebet „dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden” ist ein Gebet für heute, auch wenn es erst in Zukunft völlig umgesetzt werden wird. „Dein Reich komme, dein Wille geschehe in meinem Büro, meiner Schule, meinem Fußballverein, meinem Stadtrat, meinem Haus…“ Das ist das große Projekt, in das Gott uns alle hineinberuft – die Versöhnung und Erneuerung seiner Welt. Es ist wahr, wenn die SST durch eine lebensumfassende Gesinnung ersetzt wird, ermöglicht uns das, anzufangen, die kreativen Möglichkeiten zu sehen, die ein alltägliches Leben bietet, das vom Evangelium her gelebt wird. Denn die meisten Christen befinden sich schon in einem potentiell fruchtbaren Umfeld für Zeugnis und Dienst. Ihr Arbeitsplatz bietet zum Beispiel nicht nur die Möglichkeit, Beziehungen aufzubauen, durch die Menschen Jesus kennenlernen können, sondern kann auch eine bedeutende Rolle in sozialer Veränderung spielen. Wenn wir bessere Schulen wollen, die durch christliche Werte geprägt sind, brauchen wir bessere Lehrer, deren eigene Identität genauso wie ihr Unterricht durch die Bibel geprägt ist; wenn wir Gerechtigkeit in unseren Gerichten wollen, müssen wir uns um Rechtsanwälte und die Polizei kümmern; wenn wir Vertrauen in der Wirtschaft wollen, sollten wir besser dort anfangen, wo wir arbeiten.

Eine christliche Sekretärin in einem Büro kann die Möglichkeit haben, mehr Menschen ein Pastor zu sein als ein Pastor; ein Arzt kann mehr Möglichkeiten haben, denen die leiden, Weisheit und Trost anzubieten als ein Pfarrer; ein 14-jähriger Schüler kann mehr Möglichkeiten haben, von Jesus zu erzählen als ein angestellter Jugendevangelist.

Das Evangelium für das ganze Leben

Einer der Gründe, weshalb viele Christen den Glauben an das Evangelium verloren haben, liegt darin, dass wir keine Zeugnisse davon haben, wie Jesus uns wirklich in unserem alltäglichen Leben geholfen hat. Was für eine Art von Evangelium habe ich anzubieten, wenn die größte Sorge meiner Kollegen ihr stressiger Job ist und ich kein Zeugnis davon geben kann, wie Gott Menschen hilft, die unter Druck stehen? Ja, ich habe immer noch eine wunderbare Wahrheit zu verkündigen, aber werde ich den Mut haben es zu verkündigen, wenn ich nicht glaube, dass Jesus meinen Kollegen mit ihren Problemen wirklich helfen kann? Eine Wiederentdeckung des Evangeliums für das ganze Leben führt uns dahin zu erwarten, dass Jesus uns verändern will, dass er uns in jedem Aspekt unseres Lebens helfen will. Das lebensumfassende Evangelium macht auch klar, dass Jesus von uns erwartet, einander zu helfen, die großzügigen Ressourcen von Wort, Geist und Gemeinschaft zu entdecken und anzuwenden, die uns dazu befähigen, das Evangelium vom Leben im Überfluss zu leben. Gott hilft uns, schwierige Beziehungen in sinnvolle Freundschaften zu verwandeln; wiederkehrende, sogar langweilige Arbeiten in fruchtbaren Dienst für den König des Universums zu verwandeln; Gehaltserhöhungen in Möglichkeiten für Großzügigkeit zu verwandeln. Gott verwandelt das Alltägliche. Das gibt uns im Gegenzug wesentlich mehr Zuversicht, über Jesus zu reden.

Wie sollen wir jetzt vorwärts gehen? Als Ortsgemeinde müssen wir es wieder zu unserer Hauptaufgabe machen, Menschen zu einer ganzheitlichen Nachfolge anzuleiten. Die Trennung des Glaubens und Lebens in Sonntag und Alltag ist ein hartnäckiger Virus, der oft diagnostiziert wurde, aber sehr hart zu bekämpfen ist. Schon 1974 hatte die Lausanner Bewegung für Weltevangelisation die weltweite Kirche zur ganzheitlichen Mission aufgerufen und die wichtige Rolle von sozialer Aktion als Teil der guten Nachricht betont. Das führte Gott sei Dank zu einer regelrechten Welle christlichen Engagements zugunsten armer und benachteiligter Menschen. Wie auch immer, ganzheitliche oder „integrale” Mission, wie es heutzutage heißt, hat es leider nicht geschafft, eine Vision für das ganze Leben, jeden Tag und jeden Gläubigen zu vermitteln. Mission gehört zum ganzen Leben dazu, an jedem Tag und für jeden Christen. Nur dann haben wir das „Evangelium des ganzen Lebens” wirklich verstanden. Christsein ohne Mission geht nicht. Die Bewegung der integralen Mission hat sich auf Kirchen oder überkonfessionelle Organisationen zentriert – und für die meisten Christen ist Mission auf ihre Freizeit begrenzt.

Die SST ist seit nunmehr 2000 Jahren im Blutkreislauf der Kirche und wird nicht kampflos aufgeben. Sie wird schwer zu bekämpfen sein, da sie jeden Aspekt der Gemeindekultur betrifft. Sie wird nicht allein durch gute Predigten beseitigt. Die Wahrscheinlichkeit ist viel zu groß, dass das Gemeindeleben immer noch von der SST bestimmt ist. Die SST ist eine Art und Weise zu denken und zu leben, von der wir umkehren müssen. Das bedeutet, dass wir bewusst und im Gebet von diesem falschen Denken umkehren müssen, das uns so in unserem Verständnis von Jesu Interesse an seiner Welt begrenzt hat und das uns den Reichtum der guten Nachricht vorenthalten hat. Die SST ist Teil unseres Systems geworden – und vielleicht sollten wir wie Nehemia das falsche System zu Gott bringen, es bekennen und seine Vergebung erbitten, damit wir für eine andere Zukunft gesegnet werden. Herr, erbarme dich. Christus, erbarme dich.

Niemand von uns ist immun. Und wir sind ohne Zweifel blind für den unterschwelligen Einfluss, den SST auf viele Bereiche unseres Lebens hat. Die SST loszuwerden ist ein Prozess. Aber Umkehr ist der erste und entscheidende Schritt auf dem Weg zu Heilung und Ganzheit. Der Weg zu erneuter Freude an Gott und zu einem Leben mit Augen voll Dankbarkeit und Verwunderung über seine Welt. Wenn wir die SST aufbrechen, kann das dazu führen, dass wir Hunderttausende, Millionen von normalen Christen für Gottes Zwecke freisetzen. Das Potenzial liegt darin, dass ganze Gemeinschaften von Gottes Leuten ausgerichtet, ausgerüstet und unterstützt werden für ganzheitliche Mission und Nachfolge, an dem Ort, an dem sie die meiste Zeit ihres Alltags verbringen, unter den Menschen, die sie schon kennen.