Eine Frage des Anstoßes

Eine Frage des Anstoßes

„Die Arten des Zusammenlebens in Deutschland sind vielfältig“

Soziologen zukünftiger Generationen dürften mit Interesse auf unsere Zeit blicken. Hat es jemals zuvor einen so radikalen Umschwung grundlegender moralischer Überzeugungen in so kurzem Zeitraum gegeben?

In den 50er und 60er Jahren gab es in der Bundesrepublik Tausende von Verurteilungen aufgrund von Paragraph 175 des Strafgesetzbuches: „Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht betreibt,… wird mit Gefängnis bestraft.“ Wie in den allermeisten Ländern waren auch in Deutschland sexuelle Praktiken zwischen Personen gleichen Geschlechts untersagt, praktizierte Homosexualiät ein strafrechtliches Vergehen. Dann wurde der Paragraph 1969 und 1973 weitgehend liberalisiert und 1994 ganz abgeschafft (die Entwicklung verlief in vielen anderen Ländern Europas ähnlich). Und heute wird in „.de“ (3/2010), dem offiziellen „Deutschland-Magazin“ der Bundesrepublik, in einem statistischen Überblick unter dem Stichwort „Bevölkerung und Migration“ betont: „Die deutsche Gesellschaft ist offen und vielfältig, die Lebensformen ändern sich“. Und speziell wird nocheinmal hervorgehoben:

„Lebensformen. Die Arten des Zusammenlebens in Deutschland sind vielfältig. Mehr als 23 Millionen Menschen leben als Paare zusammen, jedoch ohne Kinder. Dazu gehören überwiegend auch 46000 Männer und 230000 Frauen, die mit ihren gleichgeschlechtlichen Partnern in einem Haushalt zusammenleben. Insgesamt gibt es in Deutschland rund 160000 gleichgeschlechtliche Partnerschaften.“

In Deutschland ist man also von offizieller Seite schon stolz auf die Vielfalt der Lebensformen und die tolerante Haltung gegenüber Homosexuellen. Einige Jahrzehnte zuvor wanderten diese unter Umständen noch ins Gefängnis. Es verwundert schon nicht mehr, dass nun auch staatliche Stellen bin hinauf zur Regierung das comingout des Ex-Fußballprofis Thomas Hitzlsperger in diesen Tagen begrüßen. Wenn das keine Revolution ist!

Der Stolz auf die Vielfalt ist aber nicht nur das Produkt von PR-Strategen, sondern ruht auf einem tatsächlichen Konsens in der Bevölkerung. Noch 2008 sprach sich nur gut die Hälfte der Bevölkerung für eine Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen aus. Nach einer Umfrage von 2013 sind schon Dreiviertel der Deutschen für eine Gleichstellung der homosexuellen Partnerschaften mit der Ehe, davon Zweidrittel der Unionswähler und 86% bei den Anhängern der Grünen. 2011 ergab eine Umfrage des Pew Research Centers, dass 87% der Deutschen Homosexualität als Lebensform akzeptieren. Meinungsforscher kommen mit diesem schnellen Wandel kaum mit!

Für die Politik ist die Sache damit im Wesentlichen gelaufen, d.h. der Gesetzgeber paßt sich früher oder später all diesen Mehrheitsmeinungen an. Die Herausforderung für die Christen und Kirchen ist naturgemäß eine viel größere, denn jedem dürfte klar sein, dass die Glaubensgemeinschaften nicht in dieser Art und in diesem Tempo überliefertes Glaubensgut über Bord werfen können.

„Satans spektakulär siegreiche Sexual-Strategie“

Christen bringen vor allem eine geistliche Perspektive ein, wie bei Peter Kreeft in Ökumenischer Djihad? sehr deutlich wird. Der bekannte Autor aus den USA sieht einen „sprituellen Krieg“ zwischen dem (nach Augustinus) „Gottesstaat“ und dem „Weltstaat“, und dieser „geistliche Kampf ist buchstäblich real“. Kreeft, als Student vor über 50 Jahren von der lutherischen zur katholischen Kirche konvertiert, betont: „In dem Streit geht es fast immer um moralische Fragen“, und „in der Moral geht der Streit fast nur um eine Sache: Sex.“ Dann schildert er die „spektakulär siegreiche Sexual-Strategie“ des Satans, die sieben Schirtte umfaßt:

„Schritt 1: Das summum bonum, das ultimative Ende, ist die Seelen zu gewinnen. Schritt 2: Ein wirksames Mittel auf diesem Weg ist die Gesellschaft zu verderben. Das funktioniert besonders gut in Gesellschaften von Konformisten, von fremdgesteuerten Menschen… Schritt 3: Das wirkungsvollste Mittel die Gesellschaft zu zerstören ist ihr absolut grundlegendes Fundament zu zerstören, die Famile… Schritt 4: Die Familie wird durch die Zerstörung ihres Fundaments, nämlich der dauerhaften Ehe, zerstört. Schritt 5: Die Ehe wird durch die Lockerung ihres Bindemittels, der geschlechtlichen Treue nämlich, zerstört. Schritt 6: Treue wird durch die sexuelle Revolution zerstört. Schritt 7: Und die sexuelle Revolution wird vor allem durch die Medien propagiert, die nun überwiegend in feindlicher Hand sind. Die sexuelle Rrevolution wird sich wahrscheinlich als die größte zerstörerische Revolution der Geschichte erweisen… Wir sind auf dem halben Weg hin zur Schönen Neuen Welt…“

Kreeft nimmt, wie üblich, kein Blatt vor dem Mund. Und obwohl der neue Papst neue Töne im Hinblick auch z.B. auf die Homosexuellen anschlägt, steht das moralische Gebäude der katholischen Kirche recht fest. In Deutschland drückt sich ja Gabriele Kuby ähnlich radikal aus, spricht von der „globalen sexuellen Revolution“ (so auch einer ihrer Buchtitel). (Ist es Zufall, dass auch sie eine Konvertitin ist?) Auf protestantischer Seite ist man da vielfach schon weiter – weiter in der Anpassung. J. Philip Wogaman, bekannter methodistischer Ethiker, sieht in seinem Moral Dilemmas – An Introduction to Christian Ethics keinerlei grundsätzliches Problem mit homosexuellen Partnerschaften, diskutiert keine einzige Bibelstelle und dreht den Spieß um: Konservative müssten beweisen, dass diese Haltung (Zuneigung zum eigenen Geschlecht) gewählt und dass sie für die Gesellschaft schädlich ist.

„Würde Jesus die Homosexuellen selig-preisen wie alle, die nach Gerechtigkeit hungern?“

Aber Wogaman ist ja kein Evangelikaler. Zu deren bekanntesten Gesichtern gehört in Deutschland Andreas Malessa, der dieses Lager auch gerne repäsentiert und z.B. in TV-Sendungen dem Publikum die evangelikale Welt erklärt. Der Baptistenpastor polemisiert dabei offenbar mit Vorliebe gegen die „mit den Füßen in ihre Traditionen und Überzeugungen einbetonierten Standpunktfetischisten und Lordsiegelbewahrer des Glaubens“ – und meint damit natürlich vor allem, in Jürgen Werths Worten, diejenigen in der „fundamentalistischen Schmuddelecke“ der Frommen. „Offene und suchende Christen“, so Malessa, seien vermutlich attraktivere und glaubwürdigere Zeugen Jesu als diese Dogmatiker und Betonfreunde.

Wohin dieses Denken führt, ist bei einem Journalisten wie Malessa in seinen Sendungen zu sehen und hören. Im SWR2-Beitrag vom 21.08.2011 „Sex nur in der Ehe“ wird aus dem Text „Biblische Sexualethik“ der Brüdergemeinden zitiert: „Jede Form von vor- oder außerehelichem Sexualverkehr ist biblisch als ‘porneia’, Unzucht, einzuordnen und deshalb kategorisch abzulehnen!“ Malessas bissiger Kommentar: „Solche Bibelauslegung stellt das Studentenpärchen in gemeinsamer Wohnung, die Geschiedene auf Partnersuche und den Witwer mit Freundin moralisch auf eine Stufe mit Strichern und Pädophilen. Was man offenbar als seelsorglichen Kollateralschaden in Kauf nimmt, solange nur die Bibeltreue hochgehalten bleibt.“

Man bedenke, dass die Brüdergemeinden – zumindest in dem Zitat – einfach nur den klassischen Konsens der Jahrtausende in der Sexualethik wiedergeben. Auch z.B. bei John Stott ließen sich natürlich solche Sätze finden. Aber auf den stillen Brüdern kann man ja herumschlagen. Wer würde das bei Stott wagen? Nun mag man überzeugt sein, dass in diesen sexualethischen Fragen ein Umdenken geschehen muss. Doch so eine billige Polemik ist nur durch die pure Verachtung des theologischen Erbes zu erklären. Da überrascht es nicht mehr, wenn man hört: „Die Diskussion jedoch, ob man Homosexuellen das Christsein absprechen oder Christen das Homosexuell-Sein austreiben müsse, die hat sich reduziert und radikalisiert und passt in drei Aktenordner voll polemischer Zeitungsartikel.“ Das ist die Malessa-Manier: natürlich nicht absprechen und sicher nicht austreiben  – um Gottes Willen!

Der Journalist beherrscht sein Handwerk und arbeitet geschickt mit rhetorischen Fragen, die die Grenze zur Manipulation schon mal überschreiten: „Dürfen schwule Männer und lesbische Frauen als Glaubens-Brüder und -Schwestern zu einer evangelikalen Gemeinschaft gehören?“ Und: „Würde Jesus die Homosexuellen selig-preisen wie alle, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten? Oder würde er sie mit der Peitsche aus dem Tempel jagen wie alle, die im Hause Gottes um Vorteile schachern?“

Malessa wird nicht müde, vor fundamentalistischer Schriftauslegung zu warnen. Ja es scheint, dass er die evangelikalen Geschwister am ‘rechten’ bibeltreuen Rand besonders auf dem Kieker hat. Anfang 2013 in einer HR Sendung: „Gott schuf die Welt in sechs Tagen, Frauen gehören nicht auf die Kanzel, Kinder nicht in KiTas, Muslime gehören nicht zu Deutschland und Schwule nicht zur Kirche“ – so werden deren Positionen vorgestellt. „Radikale Abtreibungsgegner und deutschnationale Islamhasser, kreationistische Schulverweigerer und rechtskonservative Verschwörungstheoretiker, Wetteiferer um die treueste Bibeltreue und moralische Rigoristen…“ Moment mal, spricht da wirklich einer von uns?

„Evangelikale Sündenhierarchie“?

Niemand pfeift so jemanden wie Malessa zurück, wer sollte und könnte es auch. Das macht die Sache um so tragischer. Eine moralische Revolution ersten Ranges ist im Gange, ein Krieg, wie Kreeft gerne sagt, und da gerät man durch die eigene Seite unter Beschuss?!

In diesem Kontext musste auch ein Video-Beitrag auf „pro – das Medienmagazin“ von Ende November 2013 verwirren. Der Gnadauer Präses Michael Diener wurde gefragt: „Wo sehen Sie die größten Schwächen der Evangelikalen?“ Diener, der auch Allianzvorsitzender ist: „Jesus warnt in der Bibel permanent vor der Gefahr der Heuchelei oder der Selbstgerechtigkeit und des Hochmutes.“ Vor allem diejenigen, die „feste religiöse Überzeugungen“ haben, stünden in der Gefahr, diese Sünden zu begehen. Diener berichtet, dass er oft zu Stellungnahmen und Unterschriften gegen verschiedenen sexualethische Missentwicklungen aufgefordert wird, er wartet aber noch auf jemanden, der so etwas im Hinblick auf die „Asylpolitik der EU“ fordert. „Dass Menschen vor Lampedusa ersaufen, geht vielen frommen Menschen in Deutschland nicht so nahe wie das persönliche Lebensverhältnis von Herrn Gauck.“ Dass er aber dem Präsidenten gratuliert hatte, mißfiel vielen. Diener kritisiert, dass Evangelikale eine „Sündenhierarchie“ entwickelt haben: „Die sexualethischen Fragen haben eine wesentlich höhere Gewichtung als z.B. die Fragen nach dem Umgang mit Reichtum oder Macht, das ist so.“ Er sieht dies „äußerst kritisch“, erfährt jedoch Kritik, weil man meint, er wolle sexualethische Verfehlungen nivellieren, was nicht der Fall sei. Er warnt vor einseitiger Betrachtung der Fehler der anderen, fordert stattdessen Selbstkritik, d.h. man solle den Balken im eigenen Auge sehen.

Evangelikale, so bedauert Diener, tun sich „schwer mit dem Fremden“, Andersartigen. Und er kommt nicht darüber hinweg, dass die Evangelikalen, die die Liebe hoch halten, oftmals so lieblos handeln. Sie gelten „in der Gesellschaft oft als diejenigen, die am lieblosesten mit anderen umgehen“. Schließlich spekuliert er darüber, wie zukünftige Generationen in der Rückschau auf uns blicken werden. Wird es uns gehen wie den Christen, die in der Vergangenheit auch die Bibel gelesen und dennoch die Sklaverei gutgeheißen haben – „und es ist ihnen nicht aufgefallen“, wie unbiblisch dies doch ist? Diener sieht eine „große Gefahr in der Vernachläßigung der sozialen Fragen, wirtschaftlichen Fragen; dass wir uns da schwer tun, Menschen liebend ernst zu nehmen.“

„Nicht glücklich“ und „äußerst kritisch“

Was ist von all dem zu halten? Was kann man nun noch sagen? Setzt man sich nicht gleich in die Ecke der Heuchler, wenn man Diener widerspricht? Aber woher weiß er eigentlich, was „vielen frommen Menschen“ nahe geht und was nicht? Warum sollte von Protesten gegen die Lebensverhältnisse des Präsidenten auf Gleichgültigkeit in anderen Bereichen geschlossen werden? Nun mögen Kritiker Dieners zu weit gehen, wenn sie sein Gratulationsschreiben als solches bemängeln, denn das ist ja in Ordnung. Was die Menge der angeblich Selbstgerechten jedoch eigentlich will, ist ja ein klares Wort von führenden Repräsentanten der Kirche/der Evangelischen zu Gaucks Nichtehe. Von den obersten Kirchenführern erwartet man dies ja schon nicht mehr. Aber was haben die Frommen, die Pietisten und Evangelikalen, zu sagen?

Diener ist „nicht glücklich“ über die Lebensverhältnisse des deutschen Präsidenten. Die erwähnten Ängste vor Nivellierung werden aber hier mit solch einer Wortwahl von ihm selbst bedient! Nicht glücklich – wen überrascht’s? Natürlich ist er nicht glücklich! War’s das? Warum sieht er diese seltsame Beziehung nicht „äußerst kritisch“? Der oberste Repräsentant des deutschen Volkes, evangelischer Christ und ein ordinierter Pfarrer obendrein, hält es nicht einmal mehr für nötig, sich von seiner Frau scheiden zu lassen (die dies, das sei hinzugefügt, bisher ablehnt) und lebt nun schon mit einer zweiten Lebenspartnerin zusammen, die faktisch den Rang der First Lady Deutschlands einnimmt – und Diener ist nicht begeistert. Damit tut er nun wahrlich keinem weh, auch Gauck nicht, der mit dem persönlichen Unwohlsein Dieners sehr gut wird leben können. Früher fand sich der Begriff Unzucht auch noch im Strafrecht, aber dass er nun auch nach und nach aus der Lexik der Frommen auswandert, ist wohl auch Kolateralschaden der eingangs geschilderten moralischen Revolution. Noch einmal: Hat Diener nicht verstanden, dass sich weite Teile der evangelikalen Frommen einmal nach klaren Worten sehnen?

Diener bemängelt die Sündenhierarchie der Evangelikalen. Und natürlich kann dies ein Problem sein. Außerdem steht gewiß jeder Christ in Gefahr, falsche Gewichtungen vorzunehmen. Es ist sicher auch festzuhalten, dass in Gottes Augen jede Sünde einen Angriff auf Gott persönlich darstellt und insofern Sündenhierarchien abzulehnen sind. So weit, so gut. Doch sobald man etwas tiefer über seiner Äußerungen nachdenkt, wird’s komplizierter.

Es sollte festgehalten werden, dass je nach Situation die eine oder andere Sünde in den Vordergrund rückt. Zahlt ein christlicher Unternehmer böswillig keinen Lohn an seine Arbeiter, so ist dies streng zu ahnden, nicht weniger streng als ein Seitensprung o.ä. Hier darf eine Gemeindeleitung tatsächlich nicht blind auf einem Auge sein. In anderen Situation kann physische Gewalt oder Trunkenheit oder Betrug in den Vordergrund treten. Doch man mache sich eben nichts vor: Wenn Kreeft, Kuby und andere mit ihren Analysen recht haben und der Widersacher heute in besonderer Weise die Sexualität als Angriffsfläche gewählt hat, sollte dann die Kirche nicht auch hier besonders wachsam sein? Sich besonders eindeutig positionieren? Besonders klar, ausführlich und prägnant Stellung nehmen?

Es sei hier nur kurz bemerkt, dass schon im NT die sexuellen Verfehlungen eine gewisse herausragende Rolle spielen. In den Lasterlisten (Mk 7,21–22; Röm 1,24–31; 13,13; 1 Kor 6,9–10; Gal 5,19–21; Kol 3,5–9; 1 Tim 1,9–10; Off 21,8) wird jeweils eine sehr bunte Reihe von Sünden genannt, doch einzig sexuelle Verfehlungen werden in jeder aufgeführt. Zufall? Hatten etwa schon die NT-Autoren eine Sündenhierarchie entwickelt?

Jede fromme Christ sollte wissen, dass die Sünden in den Tiefen des Herzens entstehen; dass z.B. der Neid eine der Sünden Nr. 1 ist, weil daraus viele andere Vergehen herausfließen. Dies ist in der Lehre, Predigt, Katechese, Beichte deutlich zu machen. Hier ist sicher auch die von Diener eingeordnete Selbstgerechtigkeit einzuordenen. Was ist nun aber auf der Ebene der Gemeindedisziplin zu tun? Wann ist jemand auszuschließen? Naturgemäß ist es kaum möglich, jemanden wegen Neid, Mißgunst oder anderen Sünden in den Tiefen des Herzens von der Mitgliederliste zu streichen – und das ist ja auch gut so. Die Gemeinden wären sonst leer. Die Gemeindezucht konzentriert sich in gewisser Weise ganz naturgemäß auf die ‘Auswüchse’ dieser tiefen Herzenssünden, und das sind eben oft, zu oft, Verfehlungen im Bereich der Ehe, Sexualität usw. Dies ist schon im NT zu erkennen (1 Kor 5–6, s. vor allem 6,18). Denn hier haben wir es mit starken menschlichen Trieben, großen Versuchungen und auch hohen biblischen Anforderungen zu tun.

Fazit: eine gewisse unterschiedliche Gewichtung liegt in der Natur der Sache. Um an Dieners Beispiel anzuknüpfen: Gleichgültigkeit gegenüber Toten im Mittelmeer ist lieblos und damit eine Sünde, für die man aber nicht aus der Gemeinde ausgeschlossen werden kann und soll (wer wollte das Ausmaß dieser Gleichgültigkeit auch messen?); doch Ehebruch, willentlich gelebte Unzucht, ohne jegliche Zeichen von Reue und Besserung schließt aus der Gemeinschaft der Gläubigen aus. Leider trägt Diener dazu bei, diesen Unterschied einzuebnen.

Diener bedauert die Vernachläßigung der sozialen und wirtschaftlichen Fragen. Dies kann wieder ein Problem sein, doch sein Hinweis auf die Asylpolitik der EU zeigt ja, dass so etwas schnell mal gefordert werden kann, der Teufel aber im Detail liegt. Wie bibeltreue Christen die Lebensverhältnisse Gaucks zu bewerten haben, liegt auf der Hand. Doch die Asylpolitik? Nun mag hier tatsächlich Handlungsbedarf bestehen, und jeder Staat muss zusehen, dass er mit Flüchtlingen menschenwürdig umgeht. Doch solche Seitenhiebe vom warmen Bürostuhl aus halte ich für allzu billig. Christliche Leiter stehen vor der grossen Aufgabe, sich in äußerst komplexe Fragen von Sozial- und Wirtschaftspolitik tief einzuarbeiten, bevor moralisch aufgeladene Statements abgegeben werden. Doch nur zu oft klingt man sich auch kirchlicherseits in den überwiegend linken Mainstream ein, verfällt in primitive Globalisierungs-, Neoliberalismus-, Kapitalismus- und Elitenkritik. Aus dem Bereich der Landeskirchen gibt es schon genug redundante Schlaubergerei zu jedem säkularen Thema vom Klimawandel über den Mindestlohn bis hin zu Flüchtlingspolitik. Müssen die Evangelikalen da nun auch mitmischen? Wer braucht so etwas? Müssen erst wieder „Spiegel“-Redakteure wie der Katholik Matussek oder Jan Fleischhauer daherkommen und die Frommen daran erinnern, dass sie von Sünde und Zorn reden, Himmel und Hölle predigen sollen?

Ankommen oder Anstoß erregen?

Das Problematischste: Mit den Sätzen aus dem „pro“-Interview gibt Diener der Gegenseite Munition in die Hand. Betrachten wir die Gemeindeebene: In einer Baptistengemeinde XY haben sich zahlreiche sexualethische Problem gleichsam aufgestaut; Studenten leben vor der Ehe in Kohabitation, Rentner ziehen zusammen, und zwei Mitglieder outen sich als zusammenlebendes gleichgeschlechtliches Paar. Kommt das nicht der Wirklichkeit in vielen Kirchen und auch Freikirchen und Gemeinschaftskreisen nahe? Mein Eindruck ist, dass die sexualethischen Dämme auch unter den Evangelikalen so langsam brechen.

Wenn nun Älteste oder andere Geschwister eine Diskussion beginnen, Maßnahmen fordern bzw. einleiten, dann kann ihnen nun natürlich sofort der Vorwurf der Sündenhierarchie, der Überwertung der sexuellen Verfehlungen usw. gemacht werden. Und auf einmal ist der Spieß umgedreht, denn wer mag schon selbstsicher behaupten: nein, ich bin gewiß nicht selbstgerecht, wenn ich das fordere; ich bin kein Heuchler und kein Pharisäer. Die allermeisten Christen wissen und glauben, dass Demut und Selbstkritik wichtig sind (wenn sie diese auch nicht immer praktizieren), und so läßt man sie auf dieser Art in eine Art Demutsfalle laufen. Denn den Vorwurf der Sündenhierachie kann man in solchen Situationen nur wirksam abwehren, wenn man sich selbstbewußt und sicher präsentiert – was wiederum dem Vorwurf des Stolzes Nahrung gibt: Hab ich‘s doch gewußt – selbstgerecht…

Diener gibt also all denjenigen ein wunderbares Werkzeug an die Hand, die klare Positionen aufweichen wollen – auch wenn er das sicher nicht will. Genau das haben wir in diesem Kulturkrieg gebraucht! Unsere Waffen werden stumpf gemacht und der Gegner auch noch ausgerüstet. Sicherlich hat Diener nicht die Seiten gewechselt, aber er hat der eigenen Truppe letztlich einen Bärendienst erwiesen.

Uns es gibt noch ein ernstes Problem, das sich in dem kurzen Interview noch nicht so recht zeigt, aber wahrscheinlich im Hintergrund steht. Diener meint, „die Gesellschaft“ nimmt die Evangelikalen oft als lieblos wahr. Wer würde zu sagen wagen, dass dies überhaupt kein Problem darstellt und gewiß falsch ist? Natürlich sollen Christen in ihrer Liebe ein Zeugnis auch für die säkulare Umwelt sein. Mit der Lieblosigkeit wird immer ein Leben lang zu ringen sein. Doch wer definiert denn, was als lieblos zu gelten hat und was nicht? Und hier mache man sich doch nichts vor: Wer klare ethische (und dogmatische) Positionen bezieht, wird garantiert Anstoß „in der Gesellschaft“ erregen. Was denn sonst? Beifall etwa? Das Mantra heißt heute doch: intolerant und lieblos seid ihr, ihr Superfrommen! Es wird nicht mehr lange dauern, dass jeder, der Homosexuelle in ihrem Dasein nicht konsequent und vorbehaltlos anerkennt, wer nicht klipp und klar für die Homo-Ehe ist, als lieblos und homophob gelten wird. Den Frommen beläßt man natürlich ihre Liebe zum „Leitbild“ der Hetero-Ehe, die wolle ja keiner abschaffen.

„Die drängendste Herausforderung von Seiten der breiteren Kultur ist das ethische Thema der Homosexualität.“ So Carl Trueman, in den USA lehrender britischer Theologe, in seinem sehr zu empfehlenden Büchlein The Real Scandal of the Evangelical Mind. Noch vor knapp 20 Jahren meinte Trueman, das der Konsens der Christen in dieser Frage stabil sei, schließlich sei die Lehre der Bibel klar. Er gestand bald seinen Irrtum ein und sagte voraus, dass auch die Evangelikalen bald anfangen würden, Zweifel an einer eindeutigen Position aufkommen zu lassen. Der refomierte Kirchengeschichtler sieht den Evangelikalismus „nicht mehr durch lehrmäßíge Bindungen definiert, weshalb er nicht optimistisch ist: „Es ist vorhersagbar, dass es keinen evangelikalen Konsens zur Homosexualität mehr geben wird“.

Diese doktrinäre Einheit ist kaum noch gegeben, da das Schriftverständnis der Evangelikalen schon von Pluralität gekennzeichnet ist. Hinzu kommt der Blick auf „die Gesellschaft“, die Sorge um das Image in der Welt. Trueman: „Verbindet man dies mit der theologischen Laune des starken Drangs, mit am Tisch der Kultur zu sitzen, dann ist die größerer Akzeptanz der Homosexualität unter Evangelikalen garantiert.“

Der Drang, mit am Tisch sitzen zu wollen – darin liegt wohl eine der größten Schwächen der Evangelikalen. Der Drang nach Anerkennung, der dann dazu führt, sich geradezu verkrampft von allem, das aus dem ‘rechten’ Rand das Image schaden könnte, abzugrenzen – bloß nicht homophob sein, bloß kein Kreationist, bloß nicht Fundamentalist, und wir werden sicher auch Jim Wallis einladen, um unsere soziale Gesinnung zu beweisen…

Der damals scheidenden Allianzvorsitzende Jürgen Werth schrieb in „EINS“ 4/2011 einen rückblickenden Beitrag mit dem schon vielsagenden Titel „Niemand kann (mehr) an uns Evangelikalen vorbei“. Er geht auf den Fundamentalismusvorwurf ein, freut sich, dass es ihm geglückt sei, die Allianz vor der „fundamentalistischen Schmuddelecke“ zu bewahren. Aber immer noch sieht Werth in diesem Kontext ein „massives Imageproblem“. Wieso eigentlich? Er freut sich über soziales Engagement der Evangelikalen – wer will das auch kritisieren? Und er fragt: „Sind wir als Allianz ökumenefähig? Wollen wir’s sein?“

Gespräche mit dem ÖRK, Katholiken, Regierungsstellen sind alle gut und je in ihrer Weise meistens richtig. Auch Anerkennung ist als solche natürlich nicht zu verdammen. Wenn Christen Gutes tun, wird dies hier und dort auch richtig bewertet. Doch man darf das Image keinesfalls auf der Agenda ganz nach oben setzen! Denn dann regiert eben der Drang nach Akzeptanz – und das Profil verwischt geradezu automatisch. Evangelikale sollten sich vielmehr an den fundamentals orientieren, die einst auch dem historischen Fundamentalismus den Namen gaben: Irrtumslosigkeit, Jungfrauengeburt, Sühneopfer usw. – aber Festhalten an solchen Lehren bringt ja schon in Kirchenkreisen Spott und Häme ein, ganz zu schweigen vom Ansehen in der ‘Welt’. Mut zur Unbeliebtheit – der ist bei Werth und nun auch bei Diener kaum zu erkennen.

Bibeltreue Christen mit ihren Positionen werden mehr und mehr Anstoß erregen, und vor Illusionen sei gewarnt: Wir sind schon in der Schmuddelecke. Da wird es kein Herauskommen geben. Da nützt auch noch so viel soziales Engagement nichts. Diesen Mut zur Selbstausgrenzung bewies vor zehn Jahren Rocco Buttiglione, der italienische Christdemokrat, der wegen seines Satzes „Homosexualität ist Sünde“ seinen sicheren Platz in der EU-Kommision verlor. Ein medialer shit storm brach über den Katholiken herein. Evangelikales Führungspersonal sollte auf Stürme dieser Art vorbereiten und sich ihnen selbst aussetzen.