Frieden einer friedlosen Welt

Frieden einer friedlosen Welt

Weihnachten ist in unserer Kultur ein Fest der Kinder, der Geschenke und der Familie. Die Geschenke bestimmen heute die Vorbereitungen und den Ablauf des Weihnachtsfestes. Warum eigentlich? Was haben Geschenke und die Feier der Geburt Christi, des Erlösers, miteinander zu tun? Seit dem vierten Jahrhundert feiern Christen Weihnachten, aber etwa 1500 Jahre lang machte man sich dabei keinerlei Geschenke. Der Brauch des Beschenkens war früher nur üblich am Tag des Hl. Nikolaus am 6. Dezember. Diese Sitte wanderte dann nach und nach herüber zum Weihnachtsfest. Direkt haben Geschenke also mit dem Sinn und der Bedeutung des christlichen Festes nichts zu tun.

Zentrum des Festes ist nun das Zusammenkommen und Feiern in der Familie – das Schmücken des Baumes, die Bescherung der Kinder, ein festliches Essen, das Treffen mit Verwandten. Historisch gesehen ist auch das recht neu. Weihnachten war die meiste Zeit kein Familienfest wie heute, sondern wurde praktisch nur in der Kirche gefeiert. Erst etwa ab dem 18./19. Jahrhundert verlagerte sich sein Schwerpunkt ins private Haus und die Familien. Und heute feiern die meisten in Europa Weihnachten ohne überhaupt eine Kirche zu betreten – und finden das ganz normal.

Kinder und Pfingsten? Passt irgendwie nicht zusammen. Kinder und Ostern – schon eher. Kinder und Weihnachten sind natürlich ganz besonders eng, ja untrennbar verbunden. Das hat natürlich mit den Geschenken zu tun. Aber auch in den Kirchen bemüht man sich in der Advents- und Weihnachtszeit besonders um die Kinder. Dies ist die große Zeit der Krippen- und Weihnachtsspiele, der Engelkostüme und der jungen Hirten, von Ochs und Esel, von Maria, Josef und dem Jesus-Kind. Ein Kind ist geboren und Kinder – das passt, so scheint es, hervorragend zusammen.

Um nicht missverstanden zu werden: natürlich dürfen Christen Weihnachten in der Familie feiern, sich Geschenke machen, und ganz wie von selbst dreht sich viel um den Nachwuchs. All das ist erlaubt. Doch wir müssen darauf achten, dass diese kulturellen Vorstellungen nicht die Botschaft der Bibel ganz überdecken und verfremden. Denn fragen wir einmal, wo denn Kinder in der Weihnachtsgeschichte, also in Mt 1–2 und Lk 1–2, vorkommen. Natürlich sind hier Johannes der Täufer und Jesus selbst zu nennen. War‘s das? Kinder tauchen bei der Geburt selbst und danach nicht auf; sie werden nur in einer Episode erwähnt, die leider so gut wie nie in Weihnachtsspielen dargestellt wird. In Kap. 2,16–18 berichtet uns Matthäus von der Ermordung unschuldiger Kleinkinder in Bethlehem.

Und welcher Darsteller fehlt in den allermeisten Weihnachtsspielen? Der böseste in ihnen ist meistens der Herbergswirt, der Maria und Josef keinen Platz in seinem Haus gibt und in den Stall schickt – in der Bibel lesen wir nichts dergleichen, er ist Produkt unserer Phantasie. Einer der wichtigsten Figuren im ‘Drehbuch’ von Matthäus ist dagegen der Verantwortliche für dies Massaker, König Herodes. Und er ist eine nur zu reale Person! Hören wir auf Mt 2,13–23, den gesamten Abschluss der Weihnachtsgeschichte. Zu Beginn des Kapitels lesen wir von den Weisen aus dem Morgenland und ihrem Besuch – zuerst in Jerusalem, dann bei Jesus und seinen Eltern in Bethlehem.

„Als die Sterndeuter abgereist waren, erschien Josef im Traum ein Engel des Herrn und sagte: »Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten! Bleib dort, bis ich dir neue Anweisungen gebe. Denn Herodes wird das Kind suchen lassen, weil er es umbringen will.« Da stand Josef mitten in der Nacht auf und machte sich mit dem Kind und dessen Mutter auf den Weg nach Ägypten. Dort blieb er bis zum Tod des  Herodes. So erfüllte sich, was der Herr durch den Propheten vorausgesagt hatte: »Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.« Als Herodes merkte, dass die Sterndeuter ihn getäuscht hatten, war er außer sich vor Zorn. Er schickte seine Leute nach Betlehem und ließ in den Familien der Stadt und der ganzen Umgebung alle Söhne im Alter von zwei Jahren und darunter töten. Das entsprach dem Zeitpunkt, den er von den Sterndeutern in Erfahrung gebracht hatte. Damals erfüllte sich, was durch den Propheten Jeremia vorausgesagt worden war: »Ein Geschrei ist in Rama zu hören,  lautes Weinen und Klagen: Rahel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen, denn sie sind nicht mehr da.« Als Herodes gestorben war, hatte Josef in Ägypten einen Traum; darin erschien ihm ein Engel des Herrn und sagte: »Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und geh wieder nach Israel! Denn die, die dem Kind nach dem Leben trachteten, sind tot.« Da stand Josef auf und kehrte mit dem Kind und dessen Mutter nach Israel zurück. Doch er fürchtete sich davor, nach Judäa zu ziehen, weil er hörte, dass dort als Nachfolger von Herodes dessen Sohn Archelaus regierte. Auf eine Weisung hin, die er im Traum erhielt, ging er in das Gebiet von Galiläa. Dort ließ er sich in der Stadt Nazaret nieder. Auf diese Weise erfüllte sich, was durch die Propheten vorausgesagt worden war: Er sollte Nazarener genannt werden.”

Im Reich des Tyrannen

Zur Zeit Jesu Geburt waren die Juden schon ein halbes Jahrhundert nicht mehr Herren im eigenen Land. Die Römer hatten Palästina erobert und dort nach einer Weile einen einheimischen Herrscher als „König der Juden“ eingesetzt: Herodes. Dieser war ganz nach dem Geschmack der Römer, denn er stand immer treu zu dem jeweiligen römischen Herrscher. In Judäa, Samaria und Galiläa regierte er mit eiserner Hand. Wie schon sein Vater Antipater war er ein skrupelloser Machtmensch.

Herodes demonstrierte seinen Macht mit zahlreichen Bauten: er ließ Städte gründen, baute Festungen und ließ den Tempel in Jerusalem prachtvoll erweitern. Die Juden haßten ihn trotzdem. Herodes war zwar beschnitten wie alle Juden, aber er stammte aus dem Volk der Idumäer, den Edomitern des ATs, die einhundert Jahre zuvor mit Zwang zum Judentum bekehrt worden waren. Seine Mutter war eine Nabatäerin, also Araberin, seine Muttersprache griechisch. Auch sonst war ganz und gar Vertreter der griechischen Kultur und nicht der jüdischen.

Um seine Herrschaft zu sichern, verfolgte Herodes alle aus dem jüdischen Herrschergeschlecht der Hasmonäer (die Dynastie seiner Vorgänger). Seine zweite Frau Mariamne – insgesamt hatte er in seinem Leben zehn – ließ er hinrichten, ein Jahr später deren Mutter. Die beiden Söhne aus der Ehe mit ihr wurden 7 v. Chr. auch Opfer seiner paranoischen Angst vor Konkurrenten, ebenso ein Schwager. Einige Tage vor seinem Tod wurde selbst sein ältester Sohn aus dem Weg geräumt. Dem Kaiser Augustus wird der Spruch nachgesagt: „Ich wäre lieber Herodes Schwein als sein Sohn“. Der römisch-jüdische Historiker Flavius Josephus: „Er war zu allen gleich grausam, verfiel leicht in Zorn, voller Verachtung für Gerechtigkeit“.

Herodes hatte ein Terrorregime aufgerichtet. Der Historiker Carsten-Peter Thiede: „In diesem Jahr [7 v. Chr.] befahl er kaltblütig die Hinrichtung zahlreicher Pharisäer, die eine für ihn ungünstige Prophezeiung verkündet hatten, dass nämlich bald ein königlicher Messias geboren würde, der Herodes vom Thron stürzen und ein messianisches Reich aufrichten würde. Zumindest schreibt Josephus so im 17. Buch der Jüdischen Altertümer.“ (Jesus. Glaube, Fakten) Kurz vor seinem Tod 4 v. Chr. befahl Herodes angesehene  Bürger aus allen Teilen seines Reich in der Pferderennbahn von Jerusalem einzusperren. Bei seinem Tod seien sie alle umzubringen. Dann würde das ganze Volk wenigstens wirklich trauern – wenn schon nicht um ihn, dann um diese Männer. Der Befehl wurde jedoch zum Glück nicht ausgeführt.

Mit diesen historischen Informationen können wir die Erzählung aus Mt 2 besser verstehen. Als Herodes von den Weisen über die Geburt eines Königs hörte, „erschrak er“ (2,3) natürlich, denn er fürchtete einen Konkurrenten. Und es wundert nicht, dass er „außer sich vor Zorn“ geriet (2,16), als die Weisen ihn nicht mehr aufsuchten und ihm doch nicht den genauen Wohnort des Kindes mitteilten. Für den gerade geborenen Jesus bestand tatsächlich akute Lebensgefahr. Joseph brach mitten in der Nacht (V 14), denn wenn Herodes einem nach dem Leben trachtet, muss man schleunigst verschwinden.

Wir besitzen keine ausserbiblischen Information zu dem Kindesmord. Doch er hat sicherlich stattgefunden. So ein Massaker von vielleicht ein paar Dutzend Kindern war nichts Besonderes in Herodes Reich. E. Stauffer: „Herodes I war einer der schlimmsten Bluthunde, die wir aus der Antike kennen… In diesem Herrscherleben ist eine Aktion wie der Kindermord von Bethlehem nur eine wenig bedeutsame Episode“ (Jesus. Gestalt und Geschichte) – zu unbedeutend im Vergleich zu anderen Exzessen des Herrschers, als dass man unbedingt darüber berichten müsste.

Gott in einer grausamen Welt

Jesus kam in eine grausame Welt. Warum kam Jesus, Gott selbst, in dieser Welt? Warum war dies unbedingt nötig? Wegen der Sünde und der abgrundtiefen Bosheit der Menschen. Er kam nicht in eine heile Welt – in die hätte er gar nicht kommen müssen. Er kam zu bösen Menschen, um sie zu erlösen: „Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um Sünder zu retten…“ (1 Tim 1,15; s. auch Mt 1,21). Herodes ist im NT ja nicht der einzige Übeltäter. Wir lesen schon hier von Archelaus, seinem Sohn und Nachfolger in Judäa, der wohl kein Stück besser als sein Vater war. Herodes Enkelin Herodias sorgte später dafür, daß Johannes der Täufer ermordet wurde (Mt 14). In der Passionsgeschichte begegnet uns dann Pontius Pilatus – vielleicht nicht so krankhaft wie Herodes, doch kaum weniger skrupellos. Und in der Geschichte sollten sie ja nicht die einzigen grausamen Tyrannen bleiben. Die Welt ist nicht besser geworden. Bis zur Wiederkunft wird sie voller Ungerechtigkeiten bleiben; eine Welt mit zahllosem Leid Unschuldiger wie hier die Kleinkinder von Bethlehem.

Man meine jedoch nicht, dass wir viel besser sind als Herodes. In 1 Tim 1,15 sagt Paulus auch noch, dass er „der größte“ dieser Sünder ist. Menschen in allen Zeiten und in allen Schichten und Gruppen neigen zu Grausamkeit. Vielleicht massakrieren nur die wenigsten so kaltblütig wie Herodes. Doch gerade im vergangenen November gedachte man den Opfern von 55 Jahren legaler Abtreibung in Litauen: nicht zwanzig oder zweitausend, sondern zwei Millionen unschuldig getötete Menschen. Nur ein paar Kapitel weiter zeigt Jesus in der Bergpredigt den Grund für all das. In Mt 5,21–22 spricht er vom Hass auf andere, der im Herzen jedes Menschen verwurzelt ist. Nun zu Weihnachten hört man jedoch, dass es böswillige Menschen gar nicht gäbe; dass Menschen sich höchstens irren und verirren können. Dieser Teil der Weihnachtsgeschichte widerspricht dieser Schönrednerei. Er erinnert uns an den Ernst der Sünde und der Bosheit – Weihnachten war bitternötig.

Jesus teilte das Schicksal der Menschen. Wir können vermuten, dass Joseph und Maria mit ihrem Kind nach der Geburt eine Weile in Bethlehem lebten. Joseph hat in Bethlehem sicher gearbeitet. Vielleicht haben sie sich ein bescheidenes Heim geschaffen. Aber diese Zeit der Ruhe ging abrupt zu Ende. Hals über Kopf musste die Familie nach Ägypten fliehen, plötzlich so gut wie alles zurücklassen. Über die Zeit in Ägypten wissen wir nichts. Wahrscheinlich fanden sie dort Aufnahme bei den zahlreichen Juden im Land am Nil. Aber es war dennoch eine Reise ins Ungewisse.

Es ist ja geradezu absurd: der Retter der Welt wird geboren, und seine Familie muß sich mit ihm aus dem Staub machen. Die Leidensgeschichte des Messias beginnt hier, nicht erst am Kreuz. Jesus litt im ganzen Leben wie der Heidelberger Katechismus schreibt (Fr. 37): „Jesus Christus hat an Leib und Seele die ganze Zeit seines Lebens auf Erden,  besonders aber an dessen Ende,  den Zorn Gottes über die Sünde des ganzen Menschengeschlechts getragen.“ Jesus wurde abgelehnt, verfolgt, nicht verstanden, verraten, fühlte sich einsam, fremd, verlassen   – „Die Gegenwart dieses Lebens aber ist wirklich von Anfang an Leiden… Das ganze Leben Jesu vollzieht sich in dieser Einsamkeit und so bereist im Schatten de Kreuzes“ (Karl Barth, Dogmatik im Grundriß).

Jesus kannte Verfolgung, Flucht, Angst (auch wenn er dies in den ersten Lebensjahren natürlich nicht bewusst miterlebte); er wusste aus eigener Erfahrung, was menschliches Leid bedeutet. Er leidet mit uns, hilft uns – „er kann die verstehen…“ (Hbr 5,2). Der Hebräerbrief fordert uns daher auf, mit Zuversicht sich in allem Leid, bei allen Problemen und Versuchungen direkt an Jesus, unseren „hohen Priester“, zu wenden (s. Hbr 2,17–18; 4,14–16).

Der Messias auf der Flucht – schon hier, ganz zu Beginn der Evangelien, werden wir aber auch daran erinnert, dass Nachfolge Jesu eine ernste Sache ist. In Mt 8,20 sagt Jesus über sich: „Die Füchse haben ihren Bau und die Vögel ihre Nester; aber der Menschensohn hat keinen Ort, wo er sich ausruhen kann“. Damit meinte er, dass er auf Erden keine feste Heimat hat, umherwandert. Er warnte damit den Schriftgelehrten in V 19, der ihm nachfolgen will: Sei bereit die Heimat zu verlieren. Und zu den Jüngern wenig später in Mt 10,22–23: „Um meines Namens willen werdet ihr von allen Menschen gehasst werden. Wer aber bis ans Ende standhaft bleibt, wird gerettet. Wenn man euch in der einen Stadt verfolgt, dann flieht in eine andere!…“ Stellt euch auf Flucht und Vertreibung ein (s. auch 16,24; 24,9).

Wir wissen nicht, wie lange die Familie in Ägypten „bis zum Tod des  Herodes“ (V 15) blieb, möglicherweise ein bis zwei Jahre. Man mache sich auch dies wieder klar: der König der Könige (1 Tim 6,15) sitzt im Exil im Ausland und muß ungewiss lang warten bis so ein Provinztyrann dahinscheidet. Herodes starb mit etwa 70 Jahren – Gott sei Dank wurde er nicht 80 Jahre alt, musste die Familie nicht noch länger warten. Geduldiges Warten, Ausharren – auch das ist Leid, Teil von Leiden. Im AT zeigen uns z.B. Abraham (Hbr 6,15), Joseph und Mose, dass man mitunter Jahre und Jahrzehnte geduldig warten muss. Und daher erscheint auch Geduld als Tugend der Christen häufig im NT (Lk 8,15; Röm 2,7; 5,3; 8,25; 1 Kor 13,4; 2 Kor 1,6; 6,6; Gal 5,22; Eph 4,2; Kol 1,11; 3,12; 1 Thes 1,3; 2 Tim 3,10; Hbr 6,12; Jak 1,3; Off 2,2).

Jesus war ein ganz anderer König. Jesus war wirklich „König der Juden“ (2,1), tatsächlich ein Nachfahre Davids (Stammbaum Mt 1), dessen Nachkommen auf ewig der Königstitel versprochen war (Herodes war dies natürlich nicht). Im Verhör vor Pilatus über drei Jahrzehnte später bestätigt Jesus: „Ich bin ein König“ (Joh 18,37). Aber im Vers zuvor macht er klar: „Das reich, dessen König ich bin, ist nicht von dieser Welt“. Sein Reich ist nicht von der Art des Herodes. Und das sehen vor allem schon hier: er ist Kind von einfachen Eltern, nicht aus der Elite des Landes; er kommt in einem einfachen Haus zur Welt, nicht in einem Palast; er musfliehen. Und es kommt noch schlimmer: Die Familie siedelte sich in Nazareth (V 23) an, einem unbedeutenden Kaff in Galiläa mit vielleicht 500 oder 1500 Einwohnern. Natanael fragt skeptisch in Joh 1,46: „Was kann aus Nazaret Gutes kommen?“ Im Brief an Diognetus aus dem 2. Jahrhundert stellt der Autor gut dar, dass der von Gott gesandte Retter der Schöpfer selbst ist, aber eben kein Tyrann à la Herodes:

Der allmächtige Schöpfer und unsichtbare Gott selbst… hat sein heiliges und unfassbares Wort vom Himmel her unter den Menschen Wohnung nehmen lassen…, in dem er nicht, wie man erwarten sollte, den Menschen einen Diener schickte, etwa einen Engel oder einen Fürsten oder einen von denen, die mit der Verwaltung im Himmel betraut sind, sondern den Schöpfer und Bildner des Alls selbst… Diesen hat er zu ihnen gesandt. Etwa, wie ein Mensch denken könnte, zur Gewaltherrschaft, tim Furcht und Schrecken zu verbreiten? Keineswegs, sondern in Milde und Sanftmut schickte er ihn, wie ein König einen Königssohn sendet, als einen Gott sandte er ihn, wie einen Menschen zu Menschen sandte er ihn, zur Erlösung schickte er ihn, zur Überzeugung, nicht zum Zwang; denn Zwang liegt Gott ferne. Er sandte ihn, um zu rufen, nicht zum Verfolgen; er sandte ihn in Liebe, nicht zum Gerichte. Er wird ihn zwar auch noch senden zum Gerichte, und „wer wird vor seinem Angesichte bestehen?

Gottes souveräner Schutz

Herodes war ein machtvoller Herrscher, der über Leben und Tod mit einem Wink des Fingers entscheiden konnte. Das Leben Jesu hatte auch Pilatus in der Hand, doch ihm sagt Jesus: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre“ (Joh 19,11). Deine Herrschaft kommt von Gott, d.h. Gott steht über dir. Gott stand auch über Herodes, kontrollierte dessen Macht. Eine Weile noch ließ er Herodes an der Macht. Doch wie alle Tyrannen musste auch er sterben – zu einer von Gott festgesetzten Stunden.

Die Bibel erinnert uns mehrfach daran, dass menschliche  Herrschaft vergänglich ist.  Auch die Reichen und Mächtigen vergehen wie das Gras und die Blumen (Jak 1,10). In Jesaja 51,12 heißt es: „Ich bin es, sagt der Herr, ich bin es, der eurem leiden ein Ende macht! Wie kommt ihr dazu, euch vor Menschen zu fürchten, die doch sterben müssen, die vergänglich sind wie Gras?“ In Ps 2,2 ist von den „Herrschern der Erde“ die Rede, die gegen den König oder Gesalbten Gottes vorgehen, also gegen den Messias, Jesus. Eine Erfüllung dieser Prophezeiung finden wir gerade in unserer Geschichte. Es sieht so aus, als ob der König auf dieser Erde, Herodes, der mächtigere ist – Jesus muss fliehen. Doch in V 4 des Psalms heißt es: „Doch der Herr im Himmel lacht, er spottet nur über sie“. Selbst der babylonische König Nebukadnezar, damals der mächtigste Mann der Welt, muss begreifen: Gott und nicht er ist der „höchste Herr“ (Dan 4,23). In Bethlehem kam Jesus in Schwachheit auf die Erde. Aber es kommt der Tag, an dem sich Lk 1,52 erfüllen wird: „Er stößt die Gewaltigen vom Thron“.

Dieser machvolle Gott ist in der Lage seinen Sohn auf Erden beschützen und tut dies in dieser Geschichte mehrfach. Durch einen Engel warnt er Joseph (und auch die Weisen) vor drohender Gefahr, gibt konkrete Anweisungen in Träumen (2,12.13.19.22). Er bewahrt in der Bibel auf vielerlei Weise, aber immer nach seinem souveränen Entschluss. Gott rettete Daniel wundersam (Dan 6), befreite Petrus aus dem Gefängnis (Apg 12). Aber derselbe Petrus starb später den Märtyrertod, genauso wie schon Stephanus (Apg 7). Sie stehen in einer langen Reihe von Glaubenshelden und Propheten, angefangen bei Abel, die Gott eben nicht rettete (s. Lk 11,50–51; Apg 7,52). Bewahrung und Nichtbewahrung der Gläubigen im AT werden in Hbr 11,32–38 direkt nebeneinander beschrieben: Die einen „blieben mitten im Feuer unberührt von den Flammen, sie entkamen dem tödlichen Schwert…, sie erweisen sich als helden im Kampf… Frauen… [bekamen] ihre verstorbenen Angehörigen zurück“. Andere dagegen „ließen sich lieber zu Tode foltern“, „manche mussten sich verspotten und auspeitschen lassen… Sie wurden gesteinigt, sie wurden zersägt, sie wurden mit dem Schwert hingerichtet. Heimatlos zogen sie umher…“

Hier sind die Kinder von Bethlehem diejenigen, die durchs Schwert umkommen. Warum rettete Gott nicht diese Kinder wie Jesus? Warum warnte er nicht ihre Eltern? Warum wurde ihnen die Chance zur Flucht nicht gegeben? Das sind harten Fragen, das ist die harte Nuss in diesem Text. Wir haben letztlich keine ‘glatten’ Antworten darauf. Allein Gott selbst entscheidet, wen er wann und wie schützt oder nicht. Wir haben kein Recht auf ständige Bewahrung vor jedem Unheil.

„So spricht der Herr“

Matthäus schrieb vor allem für jüdische Leser. Ihnen, den Kennern des Alten Testaments, der jüdischen Bibel, machte er schon am Beginn seines Evangeliums klar, dass sich viele Vorhersagen des AT in Jesus erfüllen (s. 1,23; 2,6; 3,3). In unserem Text zitiert er aus den Propheten Hosea und Jeremia (bei V 23 ist nicht klar, auf welchen Text Matthäus anspielt). Uns sagen diese Verse auf Anhieb nicht besonders viel. Aber Matthäus Landsleute kannten weite Teile der Bibel auswendig. Der Jude damals hörte daher nicht nur den einen Vers, sondern noch mehr, gleich den ganzen Abschnitt mit.

Und diese Texte, aus denen der Evangelist zitiert, geben Hoffnung. Sie versichern: die Not wird gewendet, die Rettung kommt. In V 15 ist der erste Vers von Kap. 11 aus dem Propheten Hosea wiedergegeben. Der ganze Text ist in unserer Bibel zu Recht „Gottes heilige Liebe“ (Luther) überschrieben. In V 9 heißt es: „Ich will nicht tun nach keinem grimmigen Zorn noch Ephraim [das Nordreich Israel] wieder verderben. Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch  und bin der Heilige unter dir und will nicht kommen, zu verheeren.“

Gleiches gilt für V 18 und das Zitat aus Jer 31,15. Dort werden „Klagegeschrei und bittres Weinen“ genannt. Aber das jedem Juden bekannte Kapitel geht gleich in den nächsten V 16–17 weiter: „Laß dein Schreien und weinen und die Tränen deiner Augen; denn deine Mühe wird noch belohnt werden, spricht der Herr. Sie sollen widerkommen aus dem Lande des Feindes, und deine Nachkommen haben viel Gutes zu erwarten, spricht der Herr, denn deine Söhne sollen wieder in ihre Heimat kommen!“

Matthäus versichert also: auf Not der Israeliten in Ägypten, auf Gefangenschaft und Vertreibung der Juden, folgt tatsächlich Befreiung und Rettung. Gott steht also zu seinem Wort. Gott gibt daher auch heute Hoffnung. Er wird wirklich retten (Mt 1,21) und ist tatsächlich „Gott mit uns“ (1,23) – Weihnachten kam wirklich Gott selbst auf die Erde, auch wenn nur ein kleines Kind zu sehen war.

Auch in Zeiten der Not, der Unterdrückung durch Typen wie Herodes und der Krise gibt es wirkliche Hoffnung. Denn Jesus hat wirklichen Frieden zwischen Mensch und Gott geschaffen und wird diesen Frieden einst auch vollenden und der grausamen Welt ein Ende setzten. So hat er es versprochen. Im letzten Buch der Bibel heißt es: „Er wird alle ihre Tränen abwischen.  Es wird keinen Tod mehr geben,  kein Leid und keine Schmerzen,  und es werden keine Angstschreie mehr zu hören sein.  Denn was früher war, ist vergangen.“ (Off 21,4)

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Leon Coignet, Das Massaker der Unschuldigen (1824)